Betrieb & Gewerkschaft
Kampflose Zugeständnisse, Streit um Linkspartei, und bittere Auseinandersetzungen auf betrieblicher oder regionaler Ebene

von Daniel Behruzi und mit einem Vorschlag von Wal Buchenberg
 

01/06

trend
onlinezeitung

Die Absenkung von Tarifstandards und die Zerfaserung der Flächentarifverträge haben sich im Jahr 2005 beschleunigt fortgesetzt – meist ohne Gegenwehr oder gar mit tätiger
Hilfe eines Großteils der Gewerkschaftsapparate. Einzelbetrieblich und regional kam es hingegen zu teils heftigem und lang anhaltendem Widerstand gegen Betriebsschließungen, Arbeitsplatzvernichtung oder Tarifflucht. Für Kontroversen im Gewerkschaftslager sorgte
das Verhältnis zu Wahlalternative WASG und Linkspartei.  Das tarifpolitische Großereignis 2005 war die Unterzeichnung des im Oktober in Kraft getretenen Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVÖD). Dieser entspricht ganz dem neoliberalen Zeitgeist: Begünstigung junger »Leistungsträger« auf Kosten älterer Beschäftigter und ihrer Familien, die Möglichkeit zur Tarifabsenkung in von Privatisierung bedrohten Bereichen, die Einführung einer neuen Niedriglohngruppe, das sind nur einige der Glanzlichter dieser vermeintlichen Jahrhundertreform. Doch Appetit kommt beim Essen – anstatt die »Arbeitgeber« friedlich zu stimmen, ermutigen solche Zugeständnisse diese zu immer dreisterem Vorgehen: Wenige Wochen nach Inkrafttreten des Tarifwerks hatten einige der kommunalen Arbeitgeberverbände die Arbeitszeitregelungen bereits wieder gekündigt. Ihr Ziel: die unbezahlte Verlängerung der Wochenarbeitszeit. Aus gleichem Grund haben die Länder den TVÖD gar nicht erst unterschrieben. Und bei ver.di ist keinerlei Gegenstrategie zu erkennen. Dennoch hält die Führung der Dienstleistungsgewerkschaft auch in anderen Bereichen daran fest, Tarife durch Verzicht erhalten oder Privatisierungen auf diese Weise abwenden zu wollen. So beim Abschluß von Spartentarifverträgen (zuletzt im Berliner Nahverkehr) oder der Unterzeichnung von »Notlagen-« oder »Sanierungstarifverträgen«, beispielsweise in Krankenhäusern.

Die Beschäftigten der vier baden-württembergischen Unikliniken haben mit ihrem überraschend erfolgreichen Streik gezeigt, daß auch in Bereichen, die nur über wenig
Kampferfahrung und gewerkschaftliche Organisation verfügen, Widerstand möglich ist. Ähnliches gilt für Teile des Einzelhandels, die in der laufenden Tarifrunde erfolgreiche
Aktionen durchgeführt haben. Allerdings wird hier wie dort das Widerstandspotential nicht genutzt und entwickelt. Die ureigenste Aufgabe von ver.di wäre es, die Gegenwehr zu bündeln, verschiedene betroffene Bereiche gemeinsam zu mobilisieren, um die eigene Stärke nach innen und außen zu demonstrieren. Statt dessen regiert Verzettelung allerorten: Heute die Unikliniken, morgen die anderen Landesbediensteten, übermorgen die Telekom oder der Einzelhandel – die Fusion zur Mega-Gewerkschaft hat nicht Einheitlichkeit und Stärke, sondern Unübersichtlichkeit und Kapitulantentum befördert.

Betrieb statt Fläche

Kaum anders die Entwicklung der IG Metall. Obwohl der vermeintliche Modernisierer Berthold Huber dem angeblichen Traditionalisten Jürgen Peters hier vorläufig den Vortritt als Gewerkschaftschef lassen mußte, gewinnt die von Huber propagierte »Verbetrieblichung« der Tarifpolitik weiter an Boden. Allerdings ist von dem »offensiven Konzept«, bei dem die Belegschaften der Großbetriebe von zweistufigen Tarifen (Mindeststandards in der Fläche, weiteres im Betrieb oben- drauf) profitieren sollen, keine Rede mehr. Begünstigt vom Pforzheimer Tarifabschluß Anfang 2004, der betriebliche Abweichungen vom Flächentarif auch ohne ökonomische Notlage ermöglicht, konnte die Gegenseite in einem Betrieb nach dem anderen Verschlechterungen durchsetzen. Laut IG Metall haben in den letzten zwei Jahren mehr als 500 Unternehmen hiervon Gebrauch gemacht. Dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zufolge werden diese Regelungen besonders oft zur Verlängerung oder Flexibilisierung der Arbeitszeiten und der Schlechterstellung Neueingestellter benutzt. Vor allem letzteres setzt die gewerkschaftliche Durchsetzungsfähigkeit langfristig aufs Spiel.

Doch noch sind viele Belegschaften zum Widerstand in der Lage. Die Drucker konnten in einer harten Auseinandersetzung die 35-Stunden-Woche verteidigen, obwohl sie anderswo Einschnitte hinnehmen mußten. Weniger erfolgreich war man in der Bauindustrie. Dort wurde die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich verlängert, der Mindestlohn abgesenkt. In der Papierverarbeitung kam überhaupt keine flächentarifvertragliche Regelung mehr zustande.

Prägend waren 2005 jedoch nicht Tarifkonflikte, sondern der Widerstand einzelner Belegschaften gegen Betriebsschließung oder Entlassungen. Herausragend dabei der andauernde Widerstand gegen Arbeitsplatzvernichtung beim Kraftwerksbauer Alstom Power in Mannheim, aber auch der wochenlange Arbeitskampf bei Gate Gourmet in Düsseldorf. Eichbaum in Mannheim, Infineon in München, AEG in Nürnberg, Giesecke & Devrient in Louisenthal, BSH, CNH und Samsung in Berlin setzen diese Liste fort.

Differenzen

Im Wahljahr wurden die innerhalb und zwischen den Gewerkschaftsapparaten bestehenden Differenzen vor allem in bezug auf das Verhältnis zu Linkspartei und WASG deutlich. Das gute Wahlergebnis der Linkspartei und die enorme Unterstützung für den Aufruf »Gewerkschafter wählen links« haben die Loslösung der Gewerkschaftsbasis von der Sozialdemokratie befördert. Dieser Konflikt zeigt sich bis in die Spitzen: Während Jürgen Peters und ver.di-Chef Frank Bsirske die Linke als Möglichkeit sehen, verlorengegangenen politischen Einfluß zurückzugewinnen, warben IG-BCE-Boß Hubertus Schmoldt und der DGB-Vorsitzende Michael Sommer unverdrossen für Schröders Laden. Entsprechend unterschiedlich fielen auch die Reaktionen auf die von der Großen Koalition verkündete Fortsetzung des Sozialabbaus à la Agenda 2010 aus.

Grundlegender ist die Polarisierung an der Basis. Zum Teil heftige und vom Apparat mit bürokratischen Mitteln geführte Auseinandersetzungen zwischen IG-Metall- und
Betriebsratsspitzen auf der einen und linken Kritikern auf der anderen Seite bestimmen zur Zeit den Betriebsratswahlkampf in diversen Großbetrieben – insbesondere bei Opel in Bochum und DaimlerChrysler in Mettingen. Obwohl die Linke auf Betriebsebene an manchen Stellen Fortschritte zu machen scheint, hat sich dies 2005 kaum in den bundesweiten Zusammenschlüssen der Gewerkschaftslinken niedergeschlagen. Deren Aufbau zu kampagnefähigen Strukturen und die Intensivierung der Basisvernetzung werden bei der Entwicklung von Alternativen zur derzeitigen Gewerkschaftspolitik von entscheidender Bedeutung sein.

Bilanz bei Tarifrunden: Ausgewählte Abschlüsse 2005

9. Februar: Öffentlicher Dienst Bund, Gemeinden (TVÖD) – Einmalzahlungen von je 300 Euro in 2005, 2006 und 2007; neue Entgeltstruktur, in Kraft seit 1. Oktober

28. Februar: Deutsche Bahn AG nach vier Nullmonaten (März – Juni) – jeweils 50 Euro Pauschale für Juli 2005 bis Juni 2007, danach 1,9 Prozent

14. März: Holz- und Kunststoffverarbeitung Baden-Württemberg – 40 Euro Pauschale für April, 1,54 Prozent ab Mai 2005 bis März 2006

3. Mai: Textilindustrie Ost – 400 Euro Pauschale insgesamt für Mai 2005 bis Oktober 2006; 1,8 Prozent ab November 2006 bis März 2007

11. Mai: Stahlindustrie Niedersachsen, Bremen, Nordrhein-Westfalen – 500 Euro insgesamt Pauschale für April bis August; 3,5 Prozent ab September 2005 bis August 2006

19. Mai: Stahlindustrie Ost – Abschluß wie West  31. Mai: Kfz-Gewerbe Baden-Württemberg – 95 Euro Pauschale insgesamt für März bis Mai; 1,5 Prozent ab Juni 2005 bis Februar 2006

2. Juni: Steinkohlenbergbau West – 400 Euro Pauschale insgesamt für Mai 2005 bis Dezember 2006; 1,5 Prozent ab Januar 2007 bis Dezember 2007

8. Juni: Süßwarenindustrie Nordrhein-Westfalen – je 60 Euro Pauschale für April und Mai; 1,8 Prozent ab Juni 2005 bis März 2006

14. Juni: Landwirtschaft Nordrhein, Westfalen, Lippe – 200 Euro Pauschale insgesamt für September 2004 bis September 2005; 1,9 Prozent ab Oktober 2005; 1,5 Prozent
Stufenerhöhung ab Oktober 2006; 1,1 Prozent Stufenerhöhung ab Juli 2007 bis Dezember 2007

16. Juni: Druckindustrie – 340 Euro Pauschale insgesamt für April 2005 bis März 2006; 1,0 Prozent ab April 2006 bis März 2007  

16. Juni: Chemische Industrie West – 2,7 Prozent regional unterschiedlich ab zwischen Juni und August 2005 für 19 Monate; Einmalzahlung von 1,2 Prozent bezogen auf die
Laufzeit spätestens zum Februar 2006  

21. Juni: Bauhauptgewerbe West nach 17 Nullmonaten (April 2004 bis August 2005) – je 30 Euro Pauschale für September 2005 bis März 2006; 1,0 Prozent ab April 2006 bis März 2007

11. Juli: Groß- und Außenhandel Baden-Württemberg – 230 Euro Pauschale insgesamt für Mai bis August 0,5 Prozent ab August 2005; 1,7 Prozent Stufenerhöhung ab Mai 2006 bis August 2007

4. Oktober: Wohnungswirtschaft – 0,9 Prozent ab Januar 2006 (Ost: ab Juni 2006); 0,9 Prozent Stufenerhöhung ab Januar 2007 bis Juni 2008 (Ost: ab Juni 2007); West: je 200 Euro Einmalzahlung in 2006 und 2007  (Quelle: WSI-Tarifarchiv Stand: 15.12.2005)"

Anmerkung:

In einem Punkt, den praktischen Konsequenzen, bin ich etwas anderer Ansicht als D. Behruzi.


Er schreibt:  "Obwohl die Linke auf Betriebsebene an manchen Stellen Fortschritte zu machen scheint, hat sich dies 2005 kaum in den bundesweiten Zusammenschlüssen der Gewerkschaftslinken niedergeschlagen. Deren Aufbau zu kampagnefähigen Strukturen und die Intensivierung der Basisvernetzung werden bei der Entwicklung von Alternativen zur derzeitigen Gewerkschaftspolitik von entscheidender Bedeutung sein."

Die Gewerkschaftslinke macht da und nur da Fortschritte, wo sie in den Betrieben und an der Gewerkschaftsbasis (VK-Leitungen, Ortsleitungen, Betriebsräte) aktiv eingreift. Ein "bundesweiter Zusammenschluss" der Gewerkschaftslinken führt nur zu einer machtlosen Parallelorganisation zum sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaftsapparat.

Indem die Kapitalisten die Flächentarifverträge aufweichen, weichen sie die überbetriebliche Machtbasis der sozialdemokratischen Gewerkschaft auf. Die Stärkung der Gewerkschaftsbewegung kann gegenwärtig nur aus der Stärkung der betrieblichen Kämpfe kommen.

Wie der Opelstreik in Bochum bewies, können erfolgreiche gewerkschaftliche Kämpfe auf Betriebsebene auch ohne den zentralen Gewerkschaftsapparat (aber nicht unbedingt GEGEN ihn) geführt werden. "Bundesweite Zusammenschlüsse" der Linken bringen da nur noch mehr papierene Resolutionen und langatmige linke Kongresse hervor.

Nötig ist aber aktive Gegenwehr gegen die jetzige Kapitaloffensive. Solche aktive Gegenwehr findet zuallerst und hauptsächlich auf betrieblicher Ebene statt. In diesen
Kämpfen bildet sich der Kern künftiger revolutionärer Bewegungen.

Was für eine antikapitalistische Gewerkschaftsbewegung an bundesweiter Vernetzung nötig ist, ist im Internet längst geschaffen. Am besten wäre eine Kombination aus Indymedia und Labournet.

Das Labournet berichtet zwar ausführlich über betriebliche Kämpfe, enthält aber nur (eigene und fremde) redaktionelle Beiträge. Eigene Beiträge, Rückfragen und Ergänzungen von Lohnarbeitern und Gewerkschaftlern sind da nicht möglich.
Das ist quasi das "leninistische" Informationskonzept.  Da bei Indymedia jede/r Beiträge liefern kann, ist die Berichterstattung viel breiter, enthält aber auch viel Schrottbeiträge und Hasskommentare. Das ist das "basisdemokratische" Informationskonzept.

Am sinnvollsten wäre wohl für die Gewerkschaftsbewegung ein eigenes offenes linkes Berichtsmedium mit Redaktion, die sowohl aus der Postingflut das Wertvolle sammelt und konzentriert (bei Indymedia ist das der etwas unübersichtliche Editorialteil in der Mittelspalte), als auch eigene Beiträge und Kommentare schreibt.

Der beste Weg zu dieser "Kombilösung" (Offene Gewerkschaftsplattform mit Redaktion) wäre die Erweiterung von Labournet durch eine offene Plattform für Nachrichten
aus Betrieb und Gewerkschaft NEBEN und zusätzlich zur jetzigen redaktionellen Arbeit. Sofern das gewünscht wird, würde ich mich auch an der dann zusätzlichen Arbeit
beteiligen.

Möglicherweise wäre auch die FAU willens und in der Lage eine solche offene Gewerkschaftsplattform mit aufzubauen. Vielleicht macht mensch sich ja mal Gedanken in diese Richtung.

Gruß Wal Buchenberg, www.marx-forum.de

Editorische Anmerkungen

Der Artikel
wurde uns als "Offener Brief" von Wal Buchenberg mit der Bitte um Veröffentlichung am 29.12.2005 zugeschickt. Er schreibt:

Offener Brief an Labournet, FAU und alle Gewerkschaftslinken

Hallo Leute,
Daniel Behruzi gab in der 'Jungen Welt' folgenden Rückblick auf die gewerkschaftliche Bewegung des letzten Jahres in der Bundesrepublik. Ich zitiere seinen Text vollständig und schließe ein paar eigene Gedanken zu den möglichen praktischen Konsequenzen für die Gewerkschaftslinke an.