Herbst 2004 – Die deutsche Nation arbeitet an der „inneren Verfassung“ ihrer Bürger

von Red. AndersGesehen

01/05

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Geistige Mobilmachung:
Ausländerhetze als Einstimmung auf einen zeitgemäßen Nationalismus

Im März 2003 gab die Regierung bekannt: „Wir“ können uns unseren Sozialstaat schon längst nicht mehr leisten, müssen endlich wieder wettbewerbsfähig werden, gemeinsam mit unseren europäischen Partnern die USA überflügeln – schließlich „muss“ Deutschland seine bis zum Hindukusch reichende „Verantwortung in der Welt“ wahrnehmen.

Und dafür sind die Löhne und besonders die davon bezahlten Sozialleistungen einfach zu hoch. Unter der Bezeichnung „Hartz I, II, III und IV“ wurde der arbeitenden Bevölkerung deshalb ein Verarmungsprogramm aufgetischt, das durch diverse Lohnsenkungen seitens der Unternehmer noch ergänzt wurde.

Dagegen gab und gibt es Proteste. Nachdem sich die Regierung kompromisslos gezeigt und so die Ohnmacht dieser Proteste vorgeführt hat, haben sich viele Anti-Hartz-Demonstranten zum „sich damit abfinden“, „das Beste draus machen“ und „die da oben machen ja doch was sie wollen“ vorgearbeitet . Regierung und Presse verkünden inzwischen stolz, dass sich „mittlerweile immer mehr Freiwillige für die neuen Ein-Euro-Jobs melden“. Die staatlich beschlossene Armut der ALG II-Bezieher zeigt also die geplante Wirkung. Immer mehr fühlen sich „motiviert“, die Ein-Euro-Zwangsarbeit als „Chance“ auf einen „Zuverdienst“ zu akzeptieren.

Alles in allem könnten unsere Staatsmänner also ganz zufrieden sein mit ihrem Volk. Irgendwie sind sie es aber nicht. Politiker aller Parteien beklagen eine „fehlende Aufbruchstimmung“. Ein neuer Patriotismus müsse her, die Miesmacherei und Jammerei müsse endlich ein Ende haben. Opfer und Nutznießer der Hartz-Reformen sollten gefälligst gemeinsam anpacken, um Deutschland voran zu bringen.

Doch wie viel „Vertrauen in Deutschlands Zukunft“ kommt schon bei einem Menschen auf, dessen eigene Zukunftsaussichten von unbezahlter Mehrarbeit, drohender Arbeitslosigkeit und Rente auf Sozialhilfeniveau geprägt sind? Wie bekehrt man ausgerechnet jene Klasse zu Optimismus und Vaterlandsliebe, der man gerade ein Reformpaket beschert hat, das an die Existenz geht?

Nun, dabei hilft vielleicht ein wenig die Erinnerung daran, wie man das in früheren Zeiten bewerkstelligt hat. Die Liebe zur deutschen Nation beruhte nämlich nie darauf, dass ihre Insassen etwas davon haben, nun ausgerechnet Deutsche zu sein. Als Zwangsgemeinschaft sind sie auf Gedeih und Verderb vom Wohl und Weh der Nation abhängig und müssen für alle Folgen der Konkurrenz, die Deutschland mit anderen Staaten auf dem Globus austrägt, geradestehen.

Die meisten Menschen sehen das – ganz im Sinne ihrer staatsbürgerlichen Erziehung - jedoch genau verkehrt herum. Sie identifizieren sich mit „ihrer“ Nation, betrachten deren Erfolg als ihr Anliegen und glauben: erst wenn es „unserem“ Land gut geht, wenn „unsere“ Wirtschaft läuft und sich deutsche Interessen weltweit durchsetzen, erst dann könnte es vielleicht auch ihnen ein wenig besser gehen. Parteinahme für den „eigenen“ Staat besteht also vor allem in der Feindschaft gegen alles, was dem Erfolg der „eigenen“ Nation im Wege steht – darunter fallen konkurrierende Staaten einschließlich ihrer Bevölkerung, aber auch „innere Feinde“: nämlich Menschen, die es – vermeintlich – an patriotischer Gesinnung und Opferbereitschaft fehlen lassen. Nationalistische Agitation bedient sich daher seit jeher äußerer und innerer Feindbilder , die je nach weltpolitischer Konjunktur auf- oder auch wieder abgebaut werden. – Dieses Verfahren bewährt sich, wie die Ereignisse der letzten Wochen zeigen, auch noch heute.

Ein Paradebeispiel dafür lieferten die Niederlande. Dort wurde Anfang November dieses Jahres ein Filmregisseur, der mit seinen Werken und Äußerungen tatkräftig an einem anti-islamischen Feindbild mitgestrickt hatte, von einem Marokkaner ermordet.

Anders als bei den Anschlägen in Madrid handelte es sich hier offenbar um die Tat eines Einzelnen. Normalerweise ist das ein Fall für die Justiz. Doch das „gesunde niederländische Volksempfinden“ ließ es dabei nicht bewenden: gleich in mehreren Städten ließen Rechtsradikale Moscheen in Flammen aufgehen.

Deutsche Politiker und Journalisten gaben sich daraufhin demonstrativ besorgt. Alle waren sich einig: Pogrome gegen Moslems, brennende Moscheen, das kann auch hier passieren. – Was folgte, war jedoch nicht die Forderung, solche rassistischen Gewalttaten möglichst schon im Vorfeld zu unterbinden, sondern eine beispiellose Hetzkampagne gegen deren mögliche Opfer.

Diese Ausländer hätten längst „Parallelgesellschaften“ gebildet, in denen sie sich „abschotten“. Ganze Stadtteile wären in „türkischer Hand“. Man wisse auch gar nicht, was in den islamischen Gemeinden vorgehe. In den Moscheen seien Hassprediger am Werk. Natürlich sollten die Moslems nicht pauschal diffamiert werden 1 , aber Moscheen gehören, wenn man sie schon gewähren lässt, überwacht. Gepredigt werden solle gefälligst in einer Sprache, die man „außerhalb der Moschee versteht“, und nicht in der Sprache, die die Gläubigen verstehen. Islamischer Unterricht habe in den Schulen auf Deutsch stattzufinden, von an deutschen Universitäten nach deutschen Richtlinien ausgebildeten Lehrern. 2 –Ausländer, so heißt es weiter, hätten sich besser zu integrieren, und daher solle es Aufenthaltsrecht nur noch nach Besuch von Sprachkursen mit bestandener Abschlussprüfung geben. 3 Doch damit nicht genug: Zuwanderer hätten gefälligst einen Eid aufs Grundgesetz zu leisten oder sich zumindest zur „deutschen Leitkultur“ mitsamt ihren „universellen christlich-abendländischen Werten“ zu bekennen. 4

Unter dem Titel „Allahs rechtlose Töchter“ beklagte der „Spiegel“ dreißig Seiten lang das Schicksal türkischer Frauen, die von der Familientradition und der islamischen Religion so schrecklich unterdrückt würden und deswegen nichts nötiger hätten als ausgerechnet die Freiheit, die deutsche „Leitkultur“ den Frauen gewährt – zum Beispiel die Freiheit, sich für Niedriglohn zu verkaufen oder anderswo Anschaffen zu gehen, um die Familie durchzubringen. Dass auch unter trauten deutschen Dächern der Alte oft genug zulangt, ist den Spiegel-Schreibern sicher nicht unbekannt. Aber um solche Vorfälle selbst geht es ja gar nicht; sie dienen nur als Belegmaterial für eine von der Politik angesagte Ausgrenzungskampagne.

Und die war durchaus erfolgreich: wenige Tage nach ihrem Beginn brannte – wie auf Bestellung - auch hier die erste Moschee.

Die meisten Leute werden vermutlich denken, sie ginge das alles gar nichts an. Dabei sind gerade sie die eigentlichen Adressaten der Kampagne.

An sie werden nämlich jetzt neue Anforderungen gestellt. Hetzkampagnen gegen Ausländer, wie sie aktuell stattfinden, galten bis vor kurzem noch als höchst unanständig. Man hatte tolerant zu sein gegenüber „unseren ausländischen Mitbürgern“. Religion, Sprache und Kultur galten als Privatsache und waren zu respektieren. Schließlich galten die Grenzen, die der „freien Entfaltung der Person“ durch Gesetze gezogen sind, für Ausländer und Deutsche gleichermaßen.

So soll man das offenbar jetzt nicht mehr sehen. Zwei neue Schlagworte machen die Runde:

•  „Parallelgesellschaft“ – Das sind nicht die hohen Herrschaften, die sich, sorgsam abgeschottet vom niederen Volk, auf Golfplätzen und in Luxushotels mit Ihresgleichen vergnügen. Diese Leute gehören zur „Elite“ und haben einen Anspruch darauf, ihren Reichtum in Ruhe zu genießen, unbehelligt von denen, die diesen Reichtum schaffen. – Letztere werden ganz anders beurteilt: von ihnen wird nicht nur verlangt, sich für die Mehrung fremden Eigentums nützlich zu machen und dem Sozialstaat nicht auf der Tasche zu liegen. Auch ihre sonstigen Aktivitäten – Religionsausübung, gemeinsame Freizeitgestaltung usw. – gelten nicht mehr als „Privatsache“, sondern unterliegen zunehmend der argwöhnischen Begutachtung deutschnationaler Sittenwächter. Deren Vorwurf einer mangelnden „Integration“ trifft keineswegs nur Ausländer, sondern auch Menschen, die für die Reichtumsmehrung der besitzenden Klasse nicht (mehr) benötigt werden: „Ganze Familien“, so klagen beispielsweise die Freien Demokraten, hätten „über mehrere Generationen“ eine „leistungsfremde Parallelgesellschaft“ gebildet, und damit müsse endlich Schluss sein. – Früher beklagte man noch die Ausgrenzung von „Ausländern“ und anderen „Problemgruppen“ und forderte die Erleichterung ihrer „Integration“. Jetzt wird den Opfer dieser Ausgrenzung vorgehalten, selber daran schuld zu sein.

•  „Deutsche Leitkultur“ – Schon seit einigen Jahren kursiert das Gerücht, das Zusammenleben der Menschen in Deutschland basiere auf einer „gewachsenen freiheitlichen deutschen Leitkultur“, an die sich die Zuwanderer gefälligst anzupassen hätten. 5 Nun wird ein „Gemeinwesen“ mit einer Elite, die den Reichtum besitzt und einem Arbeitsvolk, das ihn produziert, wohl kaum von „christlich-abendländischen Werten“ oder Treuebekenntnissen zur „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ zusammengehalten. Da braucht es schon ein wenig Gewalt. Doch die Staatsbürger sollen ihre Herrschaft nicht bloß als eine Gewalt wahrnehmen, der sie sich wohl oder übel fügen müssen. Der Begriff „Leitkultur“ schreibt deutschen Staatsbürgern eine Gemeinsamkeit zu, die sie von Nicht-Deutschen unterscheiden soll. Worin diese Gemeinsamkeit, abgesehen vom deutschen Pass, eigentlich bestehen soll, kann niemand so recht sagen, aber darauf kommt es gar nicht an: die Abgrenzung von Deutschen gegenüber Ausländern ist nämlich schon der ganze Witz.

Mit „Parallelgesellschaft“ und „Deutsche Leitkultur“ ergehen zwei Botschaften an die deutsche Bevölkerung.

Die erste besteht in der Anerkennung : Als „gute Deutsche“ gegenüber „Parallelgesellschaften“ ins Recht gesetzt, können die ständigen Opfer der kapitalistischen Produktionsweise stolz sein, doch wenigstens moralisch auf der Gewinnerseite zu stehen - und wehe dem, der ihnen dieses gute Gefühl madig macht.

Damit verbunden ist eine Drohung : Für einen guten Staatsbürger reicht es jetzt nicht mehr, einfach nur die Gesetze einzuhalten und sich sonst nicht störend bemerkbar zu machen. Je schwerer der Staat seinen Bürgern das Leben macht, desto mehr besteht er auf ihrem bedingungslosen Gehorsam. Sie haben sich mit ihrem Verhalten und ihrer Gesinnung der deutschen Volkszugehörigkeit als würdig zu erweisen – weswegen sich das kleinliche Beharren auf Bürgerrechten und „ Besitzständen “ schon gleich verbietet.

Anmerkung:

Einige muslimische Vereine haben die Hetzkampagne zum Anlass genommen, ausgerechnet gemeinsam mit deren Wortführern im Rahmen einer Demonstration in Köln ihre Treue zum deutschen Staat und insbesondere ihre Gegnerschaft zu islamischen Terroristen - die sie selber doch auch nur aus dem Fernsehen kennen! - zu bekunden. Ob ihnen ausgerechnet das Bekenntnis zu den Maßstäben, denen nicht zu genügen sie verdächtigt werden, weitere Verleumdungen erspart?

1 In einer Demokratie werden noch die schlimmsten Hetztiraden ausgewogen und differenziert vorgetragen.

2 Wer Religionsfreiheit gewährt, bestimmt eben auch, wie sie wahrzunehmen ist.

3 Nebenbei lässt sich so auch die Zuwanderung nach „objektiven“ Selektionskriterien steuern.

4 Am glaubwürdigsten ist so ein Bekenntnis natürlich dann, wenn man dabei gleich seiner nicht-christlichen Religion abschwört.

5 http://home.nikocity.de/contrasto/leitkult.htm

Editorische Anmerkungen

Diesen Artikel wurde uns von der Redaktion AndersGesehen am 3.1.2005 zur Verfügung gestellt.

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