Zur aktuellen Islam(ophobie)-Diskussion und zur Kritik der "Becklash"-Initiative

von Bernhard Schmid (Paris)

01/04       trend onlinezeitung

Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin
Anlässlich aktueller Ereignisse in Frankreich sowie in Deutschland, und namentlich aus Anlass der Petition der "Becklash"-Initiative, soll im folgenden der Debatte um "die Gefahren des Islamismus" sowie um jene "der Islamophobie" näher auf den Grund gegangen werden.

Nicht nur die Islamisten hantieren eifrig mit "Identitätskonzepten" und kulturalistischen Zuschreibungen bzw. Selbstzuschreibungen herum. Sie sind freilich eifrig an diesem Treiben beteiligt. Aber auch die herrschende Politik steht dem nicht nach. Sie kann, wenn sie diese "Identitäten" aufgreift, manipuliert und als politisches Instrument einsetzt, dies auf unterschiedliche Weise tun. Mal werden die angeblichen, essenzialistisch gesetzten "Identitäten" positiv bewertet, mal negativ abgewertet. Oftmals ist herrschende Politik ein Wechselspiel aus beidem. Das beweist die aktuelle französische Staatspolitik (siehe auch unter 1. und 2.)

1. Super-Innenminister Sarkozy und "der Moslem als Präfekt"

Eine Explosion erschütterte in der Nacht zum Sonntag (18. Januar 04) eine gehobene Wohngegend der westfranzösischen Großstadt Nantes. Sie zerstörte gegen 4.40 Uhr in der Frühe das Auto von Aïssa Dermouche, der seit 1989 in Nantes eine höhere Handelsschule leitete.

Welches Symbol in der Person von Aïssa Dermouche, der 1947 in der Kabylei - einer Berberregion im Nordosten Algeriens ­ geboren wurde und als 18jähriger zum Studieren nach Frankreich kam, getroffen werden sollte, ist eindeutig. Vier Tage vor dem Anschlag war er im Kabinett zum neuen Präfekten des ostfranzösischen Départements Jura ernannt worden, wo er Anfang Februar seinen Dienst antreten wird. Präfekten heißen die Vertreter der französischen Zentralregierung in den Départements, die einer der höchsten Kategorien der französischen Beamtenschaft angehören.

Binnen weniger Tage muss das Attentat minutiös vorbereitet worden sein. Denn das Auto von Aïssa Dermouche war an jenem Tag nicht in seiner Garage oder seiner eigenen Straße geparkt, sondern in einer der Seitenstraßen. Mutmaßlich war der Mann, den die Ernennung vom Mittwoch an seinem 57. Geburtstag erreichte, beschattet worden, als er am späten Samstagabend von einem Fußballspiel heimkehrte. Allerdings war der Sprengsatz, der lediglich aus Schwarzpulver und einer Zündschur bestand, primitiver Bauart und offenkundig nicht das Werk von Profis. Die Polizei ermittelt nach eigenem Bekunden vor allem gegen Rechtsextremisten, die in der Region bereits im November 2000 ein Sprengstoffattentat verübten (es tötete einen Angestellten im Rathaus von La Baule), aber auch gegen "Ultraislamisten".

Die Form der Debatte, die seiner Ernennung auf den Präfektenposten voraus gegangen war, hat sicherlich zu dem Klima beigetragen, in welchem der Anschlag erfolgte. Zum Zankapfel der Rivalitäten zwischen führenden konservativen Politikern geworden, war seine Nominierung in einer Weise vorbereitet worden, bei der Aïssa Dermouche "erfolgreich" auf seine Eigenschaft als Moslem reduziert worden ist. Dabei dürfte der im bürgerlichen Leben erfolgreiche Mann durchaus der Ansicht sein, dass seine Qualitäten sich nicht auf seine religiöse Zugehörigkeit beschränken - zumal im algerischen Kontext die Kabylen traditionell eher für eine stark säkulare Orientierung eintreten.

Frankreichs ehrgeiziger Innenminister Nicolas Sarkozy, der seit einigen Wochen Staatspräsident Jacques Chirac offen herausfordert (am 20. November hat er bereits in einer Fernsehsendung angekündigt, zur Präsidentschaftswahl 2007 kandidieren zu wollen, womit er wahrscheinlich einen schweren Fehler beging) verschafft sich seit anderthalb Jahren mit einer radikalen Law & Order-Politik Popularität. Nicht nur die "Erfolgsziffern" der Polizei lässt er jeden Monat veröffentlichen, sondern auch die monatliche Zahl abgeschobener Einwanderer. Die Zunahme von unfreiwilligen Ausreisen und Abschiebungen heftet er sich dabei als Ruhmesblatt an. Da der versierte Stratege Sarkozy aber weiß, dass er als plumper rechter Hardliner geringe Chancen auf einen Wahlsieg hätte, versucht er "zum Ausgleich" daneben auch seine Offenheit für Neuerungen unter Beweis zu stellen. Dazu gehört ein Spielen mit den Themen des Rassismus und der Einwanderungspolitik, die dabei gnadenlos politisch instrumentalisiert werden.

Bei der erwähnten Fernsehsendung im November kündigte Sarkozy auch an, er werde nun bald etwas Konkretes für die Integration der Einwandererkinder tun: "Ich werde einen muslimischen Präfekten", er sagte wörtlich préfet musulman, "ernennen." Das führte er als Beispiel für eine Praxis der "positiven Diskriminierung" an.

Diese Frage wurde daraufhin zum Zankapfel zwischen den miteinander rivalisierenden konservativen Politikern, der jedem von ihnen zur Profilierung diente. Anlässlich einer Rede in Tunis am 5. Dezember antwortete Chirac auf den Vorstoß seines Innenministers, es komme nicht in Frage, einen hohen Staatsbeamten deswegen, auf einen Posten zu ernennen, weil er Moslem sei ­ das widerspreche den Grundkonzepten der Republik. Gleichwohl wolle auch er, Chirac, sich um bessere Integrationschancen für Einwandererkinder bemühen. Vorletzte Woche wurde dann bekannt, dass das Präsidentenamt im Elysée, dem das letzte Wort bei der Ernennung hoher Beamter zukommt, nunmehr die Ernennung eines "Präfekten aus der Einwanderungsbevölkerung" vorbereite, als Symbol für die Integration.

Da hatte Sarkozy nun seinen "muslimischen Präfekten", wie er sogleich betonte. Bemerkenswert daran war, dass tagelang nicht einmal der Name des Betreffenden bekannt wurde, der also auf diese Weise vollkommen auf seine angebliche Identität als Moslem reduziert wurde. Am letzten Mittwoch dann ernannte Chirac im Ministerrat Aïssa Dermouche zum Präfekten des Jura.

Bemerkenswert ist ferner, wie Chirac und Sarkozy die Frage des Abbaus von Diskriminierung erfolgreich auf die Ernennung eines Einzelnen in die hohe Beamtenlaufbahn reduziert haben. Am gesellschaftlichen Dasein der allermeisten Einwandererkinder, für die eine solche Karriere unerreichbar ist, dürfte das schlichtweg nichts ändern, denn da müsste man ganz wo anders ansetzen ­ beginnend beim Städtebau und der Schulpolitik. Viele von ihnen dürften auch weiterhin von der, durch Sarkozy hochgerüsteten, Polizei mit ständigen Personenkontrollen und Schikanen in den Hochhaussiedlungen konfrontiert werden. Aber vielleicht dürfte ihnen ja zum Trost gerreichen, einen der "Ihren" auf einen hohen Staatsposten eingesetzt zu sehen. "Identität als Trost" ­ die bürgerliche Politik macht¹s vor...

LETZTE MELDUNG: Wie das französische Radio heute früh (21. Januar) meldet, war der Anschlag auf Aïssa Dermouche nach polizeilichen Quellen eventuell ein "privater Racheakt"; die Beamten haben den Lebensgefährten seiner Ex-Frau festgenommen. Erhebliche Skepsis ist, wie immer in solchen Fällen, angebracht. Da das Attentat auf das Auto des Präfekten enormes Aufsehen erregt hatte, käme es den Behörden im Moment sehr entgegen, wenn es auf diese Weise keine politischen bzw. rassistischen Hintergründe hätte. Ob man die Vermutung, die den neuen Ermittlungen zugrunde liegt, glauben kann, wird sich erst noch herausstellen müssen. Ggf. würde das an der vorausgehenden politischen Kritik an der zurückliegenden Debatte über den "muslimischen Präfekte" nichts ändern.

2. Der französische Kopftuch-Streit wird fortgesetzt

Über die Landesgrenzen hinaus für Aufmerksamkeit gesorgt hat das französische Vorhaben, per Gesetz muslimischen SchülerInnen das Tragen von Kopftüchern in öffentlichen Lehreinrichtungen zu verbieten. (Siehe auch trend.partisan vom Dezember 2003) Theoretisch soll es gegen "plakativ getragene religiöse Symbole" generell gehen. Doch bisher wurde kein Fall eines Schulausschlusses wegen eines Kreuzes oder einer Kippa bekannt, zumal deren Träger ohnehin meist konfessionelle Privatschulen besuchen; die katholischen Privatschulen bilden den Elitezweig des gesamten Schulsystems. Aus finanziellen Gründen dagegen kommen für die meisten moslemischen Einwanderer keine Privatschulen in Betracht. Daher waren von den Schulverweisen, die seit 1989 wegen religiöser Symbole ausgesprochen wurden, stets Mädchen mit moslemischem Hintergrund betroffen.

Am vergangenen Wochenende wurde dagegen etwa in London, Kairo, Gaza und Baghdad vor französischen Einrichtungen demonstriert, wobei allerdings jeweils nur einige hundert Personen teilnahmen.

Auch in mehreren französischen Städten fanden Demonstrationen statt, deren TeilnehmerInnen zum überwiegenden Teil aus der moslemischen Community stammten. Die größte Demo war jene von Paris, mit real um die 5.000 Teilnehmern (weit weniger als die von den Behörden erwarteten "10.000 bis 20.000"), wobei die konservative Presse und zeitweise die Polizei die Angaben über die Beteiligung jedoch in die Höhe trieben. Eine Gewerkschaft der Beschäftigten des Innenministeriums, die linke SUD-Ministère de l¹intérieur, zeigte in einem Pressekommuniqué auf, dass die ersten polizeilichen Angaben von über 11.000 TeilnehmerInnen aufgeblasen und übertrieben seien. Das könnte damit zu tun haben, dass ein Teil der Medien und der etablierten Kräften schon im Vorfeld Furcht erzeugt hatte. Die Boulevardzeitung Le Parisien machte jedenfalls am selben Vormittag mit der Schlagzeile auf, die zweifellos auch an rassistische Potenziale anknüpfte: "Die Demo, die Angst macht." Man braucht kein Freund der dort vertretenen Ideen zu sein, um zu der Ansicht zu kommen, dass es nicht um barbarische Horden handelte, die mordend und brandschatzend durch Paris zogen...

Aufgerufen zu der Pariser Demo hatte eine rechte kommunitaristische Partei, der PMF (Parti musulman de France), der bisher eine lediglich in Strasbourg verankerte Splittergruppe darstellte. Da der PMF durch antisemitische und geschichtsrevionistische Sprüche Aufmerksamkeit auf sich zog, wollten größere moslemische Organisationen sich nicht mit den Veranstaltern einlassen. Auch nicht die französische Linke, die (links von der Sozialdemokratie, welch letztere in dieser Frage die Regierung unterstützt, ohne sich selbst profilieren zu können) mehrheitlich gegen das Gesetzesvorhaben eintritt. Der größere Teil der KP und der Grünen sowie die trotzkistisch-undogmatische LCR erklären, gegen den Islamismus und für gleiche Rechte von Frauen und Männern zu sein, aber Schulausschlüsse und ähnliche Maßnahmen abzulehnen. Denn sie könnten nur die muslimischen Jugendlichen stigmatisieren, träfen zudem ­ wenn man schon von Frauenunterdrückung ausgeht ­ deren Opfer, und lösten als "Zwangsemanzipation" keinerlei Probleme. Dagegen ist die traditonalistisch-marxistische Partei LO (Lutte Ouvrière) eher für ein Kopftuchverbot. Am Samstag allerdings wollte keine Strömung der Linken mit den PMF-Veranstaltern demonstrieren. (Allein eine bedeutungslose Splittergruppe aus einem Randbereich des französischen Trotzkismus, die das Sektenblättchen "Toute la vérité" herausgibt, verkauft ihre Zeitschrift in der Demo.)

Die Teilnehmerinnenschaft, jedenfalls ihr weiblicher Teil (der männliche war größenteils aus Anhängern islamistischer Kleingruppen oder Sekten zusammengesetzt) waren jedoch durchaus aus unterschiedlichen Motiven gekommen. Viele der meist jüngeren und sehr jungen Frauen betonten ihren Integrationswillen und ihren Wunsch nach Zugang zu Wissen und zur Gesellschaft: "Wir wollen mit Christen, Juden und Atheisten zusammen in die Schule gehen, aber auch selbst dabei respektiert werden", hieß es immer wieder. 

Das Kopftuchtragen bildet bei ihnen eher eine Form von identitärer Reaktion, von symbolischer Abgrenzung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Das hat problematische Implikationen, da die muslimische Kopfbedeckung zugleich ein bestimmtes Rollenverständnis für Männer und für Frauen transportiert; wobei die jungen Mädchen allerdings nicht so sehr an traditionellen Bindungen festhalten, sondern sich im Nachhinein eine Tradition schaffen und sie nach rückwärts projizieren. Die Beweggründe dafür sind erwiesenermaßen vielfältig, wobei der häufig vermutete Zwang von Männern und Brüdern nur eine kleine Minderheit von Fällen zu betreffen scheint. Weitaus häufiger ist ein eigenes Streben nach Abgrenzung von einer als rassistisch empfundenen Gesellschaft, in der ohnehin alle Wege zur Integration, namentlich über den Beruf (angesichts von sozialer Perspektivlosigkeit und Diskriminierung gegen Einwandererkinder) verbaut scheinen. Ebenso erfüllt das Kopftuch bei manchen Trägerinnen eine gewisse, psychologische und reale, Schutzfunktion gegen eine als feindlich empfundene Umgebung. Umso mehr, als vor dem Hintergrund der sozialen Krise in den maroden Trabantenstädten dort eine gewisse Verrohung herrscht und gerade junge Frauen als "Freiwild" behandelt werden, wenn sie sich nicht hinter die Symbole einer rollenspezifischen Ordnung zurückziehen.

Dagegen verfolgen die organisierten Islamisten, die auch in der Demo zu finden sind, andere Ziele. Ihnen geht es um eine autoritäre Moralisierung der Gesellschaft, da sie sich die Schwäche ihrer Herkunftsgesellschaften gegenüber den dominierenden Europäern durch ihre "Dekadenz" erklären, die es zu überwinden gelte. "Schwule dürfen heiraten, aber Frauen sollen kein Kopftuch tragen" fassen PMF-Sprecher auf der Ladefläche des LKW, der als fahrende Kundgebungsfläche dient, eine angebliche Verschwörung zur Unterminierung der moslemischen Gesellschaft zusammen.

Die Reaktionen auf das Kopftuch-Verbotsgesetz sind teilweise aus dem Bauch heraus abgegeben, da viele Einwandererkinder sich spontan als solche, in ihrer "Identität" angegriffen fühlen, obwohl sie gar nicht an islamischen Werten hängen. So ist auch eine Minderheit von nicht verhüllten jungen Frauen (etwa 20 Prozent der Demo) gekommen. Und Angehörige der migrantischen Mittelschichten erklären am Rande des Aufzugs ihre Furcht, von der Regierung in eine Solidarisierung mit Kräften getrieben zu werden, die sie selbst für gefährlich halten, "weil man uns attackiert".

Das ist eine verbreitete Position in der maghrebinischen Einwanderungsbevölkerung, in der es allerdings auch noch völlig andere Stimmen gibt. Denn manche Frauen und Männer begrüßen auch das Gesetz oder stehen ihm zumindest passiv-wohlwollend gegenüber. Da sind vor allem die Mädchen, die der Ansicht sind, wenn die Zahl von Kopftüchern in den Schulen der Trabantenstädte sich ­ vor dem Hintergrund der sozialen Krise ­ weiter ausbreite, dann gebe es kein Halten mehr, weil auch sie dann durch ihre Eltern zum Kopftuchtragen gezwungen werden könnte. Auch viele Kabylen, also berbersprachige Algerier, die traditionell antiislamistisch eingestellt sind, teilen eine eher abwartend-positive Haltung zum Gesetzesvorhaben.

Dessen Text soll am Donnerstag dieser Woche dem Conseil d¹Etat, dem obersten Verwaltungsgericht, zur juristischen Begutachtung übergeben werden. Am Donnerstag nächster Woche soll er dann vom Kabinett abgesegnet werden. Am 3. und 4. Februar soll er dann im Parlament diskutiert, und alsbald in erster Lesung angenommen werden. Die Regierung hat es eilig und verhüllt kaum, dass sie die Annahme der Gesetzesvorlage auch mit den Regionalparlamentswahlen am 21. und 28. März in Verbindung bringt. Konkret wird das Gesetz - zwischen den Zeilen aber vernehmbar - auch als Maßnahme im Wettstreit der Konservativen mit der erstarkenden extremen Rechten bezeichnet. Deren neue Galionsfigur, die Mittdreißigerin Marine Le Pen (Tochter eines prominenten Parteigründers), bezog das Thema ihrerseits bereits in ihren Wahlkampf ein. Sie argumentierte am letzten Sonntag bei ihrer Tournee über die Wochenmärkte des Pariser Umlands, bezüglich der Demonstrationen vom Vortag: "Wir haben es vorausgesagt: Wer Einwanderung sät, wird Demonstrationen des Hasses gegen uns ernten."

In einem Leitartikel vom 9. Januar 04 warnte der Chefredakteur von Le Monde, Jean-Marie Colombani, davor, die Debatte rund um das Kopftuchgesetz werde eine "wahrhafte Büchse der Pandora" öffnen. Er fügt hinzu: "Alle haben gesehen, wie der extremen Rechten (Anm.: 2002) das Ausweiden des Themas <Innere Sicherheit> genutzt hat. Sie wird erneut an Legitimität gewinnen, weil jetzt die Frage der <Identität> in den Mittelpunkt der innenpolitischen Debatte gerückt wird." Colombani sieht dahinter ein politisches Kalkül: Bleibe die extreme Rechte als einzige starke Alternative übrig, dann könne das die Konservativen über die Wahlen retten, wie bereits 2002. "Dieses politische Kalkül wirft eine schwerwiegende historische Verantwortung auf."

Hier liegt m.E. der Kern des Problems, was die derzeitige "Kopftuchdebatte" führen kann, die in ihrer jetzigen Form nur identitäre und kulturalistische, erbarmungslos ideologisierte Reaktionen aller Art hervorrufen kann. Diese "Büchse der Pandora" würde man wohl tatsächlich besser zu behalten.

3. Die "Becklash"-Kampagne: Eine höchst fragwürdige Initiative

Eine andere "Pandorabüchse" öffnet derzeit in der BRD die Initiative "Becklash". (Siehe auch das Editorial dieser trend-Ausgabe.)

Die Petition der Initiative geht von einem grundsätzlich legitimen und sympathischen Anliegen aus: Den Rechten der Frauen, auch in (eventuell islamisch oder traditionalistisch geprägten) Einwandererkreisen, soll Geltung verschafft werden. Dagegen ist nichts einzuwenden, vielmehr handelt es sich um eine notwendige Forderung. Dabei vermengt die Initiative allerdings zwei unterschiedliche Fragestellungen, von denen die erste legitim ist ("Wie können Individuen, und vor allem Frauen, ihre Rechte geltend machen" ­ gegenüber dem Islamismus, aber auch gegenüber traditionalistischen Familienstrukturen, was zwei verschiedene Dinge sind, die man auseinanderhalten müsste). Und von denen die zweite so, wie sie gestellt wird, auf jeden Fall nicht legitim ist: "Wer darf in der BRD bleiben, und wen dürfen <Wir> hinauswerfen?". Beide aber miteinander zu vermengen, ist in meinen Augen (gutmenschelnde) Brandstifterei.

Aber man kann die Sache auch anders konkret machen. Nehmen wir einmal an, diese Initiative hätte Erfolg. Dann würde es zweifellos eine gewisse Zahl an Abschiebungen geben, denn auf diesem Terrain siedelt der Text ja die Handlungsmöglichkeiten an. (Was mit den Leuten geschehen könnte, die Deutsche sind und dem Anliegen der Initiative zuwider handeln, geht ja aus dem Text nicht hervor. Die InitiatorInnen fordern vielmehr die Justizministerin auf, sie möge doch bitte mal was vorschlagen dazu. Ein Schelm, wer dabei denkt, dass das daran liegen dürfte, dass den Leuten von der Initiative nichts dazu einfällt. Solange kann man sich ja schon mal an den Ausländern schadlos halten.)

Und dann: Was wäre damit in dieser Welt besser geworden, auch und gerade im Sinne der Frauenrechte? Könnte mir das bitte jemand ernsthaft erklären? "Des deux choses l¹une", also ent- oder weder: Entweder hält man das betreffende männliche Individuum für nicht veränderbar und einen nicht beeinflussbarer Unterdrücker von Frauen, oder man tut es nicht. Gehen wir ruhig einmal von der ersteren, ungünstigen Annahme aus. Und jetzt? Wenn er jetzt auf die Frauen in Pakistan, Algerien, oder... losgelassen wird (die bei weitem nicht über dieselben, u.a. rechtlichen Instrumente verfügen, um sich zu wehren, wie sie in Berlin zur Verfügung stehen) dann ist das besser? Was mit den BewohnerInnen in jenen Ländern geschieht, ist nicht so wichtig?

Aber stellen wir noch eine sehr wichtige Frage: Was passiert dabei eigentlich mit der zuerst betroffenen Frau? Denn um ihre "Befreiung" geht es ja angeblich, ursprünglich. Was ist, wenn sie mit "ihrem" Mann ausreist? Sei es nun, dass sie niemanden in der BRD kennt, dass sie kein oder nicht genügend Deutsch kann um einen Job zu finden, dass sie keine Berufsausbildung (die ihr in der BRD das ökonomische Leben hinreichend sichern könnte) erlernt hat? Oder einfach, dass ihr das nötige Selbstbewusstsein und ­vertrauen fehlen ­ nicht aus eigenem Verschulden, aber wg. Erziehung usw.? Man darf wohl ruhig mal davon ausgehen, dass das in 90 bis 95 Prozent der Fälle passieren wird. Und jetzt? Jetzt ist alles besser, wo die Frau in Pakistan oder Somalia oder Algerien... sitzt? Dort, wo sie vermutlich nicht mal "so einfach" (oder eher: relativ einfach) in¹s Frauenhaus gehen kann wie in Berlin? (Nicht, dass es nicht auch in Pakistan feministische Aktivistinnen gäbe, die oft eine bewunderungswerte Arbeit leisten.) Wo die Gesetze für sie unwesentlich ungünstiger ausfallen? Wo die Polizisten sie vielleicht auslachen, wenn sie sie gegen ihren Mann zu Hilfe ruft? Wo sie (das trifft jedenfalls in bestimmten Ländern islamischen Rechts zu) nicht ohne Einwilligung ihres Mannes wieder ausreisen kann? Und das soll besser sein? Oder geht es der Initiative einfach darum, dass "diese barbarischen Horden nicht mehr unsere schöne zivilisierte BRD versauen und verschmutzen" sollen? Oder aber gilt einfach die Devise: "Aus den Augen, aus dem Sinn, denn solange es nicht mehr unter unseren Augen passiert, ist uns alles egal"? Gut gemeint ist eben nicht gut, und linksbürgerliches deutsches Gutmenschentum bringt erst recht nichts Gutes. Und manchmal gilt: "Le chemin en enfer est pavé de bonnes intentions" (Der Weg in die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert). Ein Stück weit aus der Kritik ausnehmen möchte ich nur die Migrantinnen(-Strukturen), die den Aufruf mit unterzeichnet haben, da deren Herangehen sicherlich aus eigenem Erleben geprägt ist; sie haben dennoch mit ihrer Unterschrift einen kritikwürdigen Text befördert.

Man könnte auch umgekehrt heran gehen und sagen: Solange die Leute im Rahmen dieser (offenen ­ dafür müssen wir jedenfalls kämpfen) Gesellschaft leben, können wir wenigstens noch was gemeinsam mit ihnen, oder für sie tun. Denn wo kein gemeinsamer gesellschaftlicher Rahmen mehr mit ihnen vorhanden ist, da ist man ohnehin wirkungslos. Man könnte etwa daran denken, dass Solidaritätsgefühl und soziale Einbindung bereits ein wichtiger Faktor ist. Man könnte an die Möglichkeit denken, ins Frauenhaus zu gehen oder bei Bekannten Unterschlupf zu finden. Und das ist in Berlin bestimmt einfacher als in Karachi oder Algier (die bewunderungs- und unterstützenswerte Arbeit der dortigen Frauenrechtlerinnen hin oder her). Man könnte an Dinge wie Rechtsberatung denken. Oder an die Möglichkeiten, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen und deshalb wirtschaftlich autonom zu werden! Nur die Integration, nicht die Desintegration kann den Einzelnen die Mittel an die Hand geben, sich zu emanzipieren. Emanzipation lässt sich nicht, "an Stelle" der Leute (aber ohne dass sie dabei was zu sagen hätten) verordnen. Bekanntlich hat die Sache mit dem Demokratieexport, im Rahmen diverser Kriege im Mittleren Osten..., ja auch nicht so richtig geklappt.

Deswegen, weil der "Becklash"-Text all diese Dinge zuschüttet und stattdessen als Alternative das große "Raus" anbietet, ist er brandgefährlich.

Nun haben die InitiatorInnen eine vermeintlich einwandfreie Parade gefunden, nachdem ihnen Kritik an ihrer Petition zu Ohren kam. In einem "taz"-Interview von Frigga Haug (Ausgabe vom 17. Januar 04) erläutert die Unterzeichnerin der "Becklash"-Petition das Argument, das aller Kritik den Boden unter den Füßen wegziehen soll: Ist doch alles gar nicht so gemeint, Leute, "Nur eine Provokation" (so die "taz"-Überschrift). Der Aufruf sei eben nicht "Eins zu Eins zu lesen". Wer das bisher nicht gemerkt hat, ist eben selber doof. 

Nun, da ihr kollektiver Name anscheinend Pontius Pontius lautet, sollten die MitunterzeichnerInnen und InitiatorInnen sich doch fragen lassen: Meint Ihr nicht, dass man dann ein gehöriges Stück an Verantwortung übernimmt, wenn man sich im öffentlichen Raum mit etwas positioniert? Und dass man zumindest darauf gefasst sein muss, dass das, was man nun wirklich explizit fordert (und da gibt es kein "nur so daher geredet" oder geschrieben, I am very sorry) tatsächlich Eins zu Eins so umgesetzt wird? Oder macht Ihr Politik grundsätzlich nur unter der Prämisse: Ist doch alles nur Spaß, und nimmt sowieso niemand für bare Münze?

Jetzt mal im Ernst, ganz im Ernst: Die Herrschenden (wie immer man die jetzt definiert, darüber können wir uns gern unterhalten) haben seit dem Mai 1968 ja doch hinreichend ihre ausgezeichnete Fähigkeit bewiesen, neue Impulse aufzunehmen und dadurch ihre eigene Herrschaft ständig zu modernisieren, aber auch gesellschaftliche Protestpotenziale zu schlucken und zu absorbieren. Gerade die Geschichte der BRD, und jene der GRÜNEN haben das doch hinreichend bewiesen. Übrigens, gerade auf die grün-linksliberal-besserverdienende Zivilgesellschaft könnte dieser Appell ja wohl als Hauptstütze vertrauen. Die Unterschrift des Gleichstellungsamtes der Stadt Freiburg (als kollektive Struktur), also der ersten "grün" regierten Großstadt in der BRD mit neoliberaler Tagespolitik im Alltag, spricht doch ein bisschen was davon aus...

Deswegen, "liebe BecklasherInnen", könnt Ihr nicht nur, sondern Ihr MÜSST, wenn Ihr einen solchen Appell lanciert, die Möglichkeit zumindest einkalkulieren, dass auch "herrschende" politische Strukturen das irgendwie aufgreifen. Die grüne Partei ist ja da doch ein ganz guter Kanal dafür, und gerade jetzt, wo explizit öffentlich über die Bedingungen von "schwarz-grün" (einem Bündnis CDU - Grüne) verhandelt wird, weiß man, dass dieser Kanal jetzt überall ins Establishment hinein führen kann. Aber nein, aber nein, "beruhigt Euch, es wird schon niemand auf die Idee kommen, da irgendwas ernst zu nehmen..." ??

Und dass aus der BRD niemand "rausgeschmissen" wird, wird ja wohl niemand im Ernst behaupten wollen. Oder haben die grün-linksliberalen Gutmenschen etwa schon den Bundestagsbeschluss vom 26. Mai 1993 zur Demontage, pardon, Änderung des Grundgesetz-Artikels 16 (Asylrecht) vergessen? Auch wenn man es nicht selbst wahrnimmt, modernisiert sich das Grenz- und Auswahlregime modernisiert ja zunehmend. Da Europa an so genannten Überalterung der Bevölkerung leidet, sollen künftig auch Leute wieder reingelassen werden ­ nur selektiv und am besten, nach dem Greencard-Modell, für 5 Jahre mit obligatorischer Rückfahrkarte. Bei der Europäischen Union gibt es Pläne, bei der WTO die Freigabe eines Rotationsmodells für "Immigranten auf Zeit" (als nicht gegen das Konkurrenzrecht verstoßend, über das die WTO zu wachen hat) zu erwirken. Die Maschinerie modernisiert sich, wird effizienter, selektiver und ausgeklügelter. Da könnte ja gerade ein Vorstoß wie der "Becklash"-Aufruf unter Umständen aufgegriffen werden. Als Idee, die noch dazu den immensen Vorteil hat, dem gutmenschlich-aufgeklärt-zivilisierten-aber-auch-besserverdienden europäischen Gewinnerpublikum eine moralisch blütenweiße Weste zu verschaffen, wenn's mal wieder drum gehen sollte, ein paar unzivilisierte-und-leider-hier-unerwünschte Barbaren loszuwerden.

Aber solchen Realitäten wollt Ihr nicht in¹s Auge blicken, lieber BecklasherInnen? Na, dann träumt süß weiter, GenossInnen.

Nur als Anmerkung noch dazu: Günter Langer, der mit anderen zusammen die "Becklash"-Initiative lancierte (er steht jedenfalls als einer von drei Erstunterzeichnern mit unter der Petition) hat auch im November 2003 einen eigenen Beitrag zur Islamismus-Debatte im trend.partisan veröffentlicht. Dieser Text zeigt m.E. anschaulich, wie man es, als Linker/r jedenfalls, in der Islamismus-Debatte NICHT machen sollte, aber wirklich auf gar keinen Fall.

Der Schlüsselsatz lautet m.E. (Originalton): "Fereshta Ludin ist in Afghanistan geboren, in Saudi-Arabien aufgewachsen und inzwischen deutsche Staatsangehörige. Sozialisiert worden ist sie also in einem Umfeld, in dem Osama bin Ladin zu Reichtum, Macht und später zu traurigem Ruhm gelangt ist. Ludin und Ladin bekennen sich beide..."

Nun, das ist doch wirklich eine extrem billige und auf purem Ressentiment basierende Argumentation. Denn über die Feststellung einer angeblichen gemeinsamen Einbettung in ein Milieu (die zudem nur behauptet wird; Saudi-Arabien ist groß, das ist ein Land mit 20 Millionen Einwohner, einem extrem üblen Regime und üblen Gesetzen und ansonsten auch ziemlich unterschiedlichen sozialen Milieus) kommt dieses Kernargument nicht hinaus. Wer beweist, dass die politischen oder gesellschaftlichen Vorstellungen von "Ludin und Ladin", wie der Autor sie sehr bequem auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen meint, wirklich irgend etwas mit einander zu tun haben? Falls Fereshta Ludin sich in einer islamistischen Aktivistengruppe bewegt (wovon ich keine Kenntnis habe) - bitte schön, dann gibt es eventuell eine Verbindung über ihre politischen Konzepte und Aktivitäten, und da kann konkrete Kritik ansetzen. Aber die bloße "argumentative" Annäherung beider Personen, basierend auf der Feststellung, dass beide je einen Abschnitt ihres Lebens irgendwann mal in einem Land von 2 Millionen Quadratkilometern und 20 Millionen Einwohnern verbracht haben, gibt das auf jeden Fall nicht her. 

Ungefähr das gleiche wäre es, von der argumentativen Qualität her betrachtet, wenn man einen Artikel so beginnen würde: "Günter Langer, der in einem Land geboren, aufgewachsen und immer noch wohnhaft ist, dessen Bewohner Adolf Hitler zum Reichskanzler gewählt haben, fordert in einem von ihm mit initiierten Aufruf..." Ach übrigens, da könnte ja sogar etwas dran sein. Wer im deutschen Glashaus sitzt, sollte jedenfalls nicht mit Steinen um sich werfen, sondern genau hingucken und genau zielen, wenn er meint, emanzipatorische Kritik zu üben.

4. Islamophobie" ­ gibt¹s das überhaupt? Eine notwendige Begriffsklärung

Über die Tarnung des Rassismus als Religionskritik, und die Gefahr einer simplen Umkehrung der Vorzeichen

Islamophobie, gibt es so etwas? Eine Diskussion über diesen Begriff tobt seit einigen Monaten in Frankreich und scheint nun auch in Deutschland zu beginnen. Wobei es immer wieder darum geht, ob das Phänomen, das der Begriff umreißt, überhaupt existiert. Denn das bestreiten einige Diskussionsteilnehmer vehement. Ihr Argument (das ernst genommen werden muss) lautet, der Begriff und der darin implizit enthaltene Vorwurf seien nur ein Mittel, um die notwendige Kritik am autoritären Phänomen des Islamismus unter Rassismusverdacht zu stellen und so ein neues Tabu zu errichten. Das gibt es tatsächlich, aber enthält der Begriff nicht einen wahren Kern?

Die Kritikpunkte von Caroline Fourest und Fiametta Venner

Nicht ganz so weit gehen die beiden französischen Feministinnen Caroline Fourest und Fiametta Venner. Beide veröffentlichten Mitte November 03 einen längeren Artikel in der linksliberalen Tageszeitung "Libération". Eine leicht abweichende Fassung stand bereits zuvor auf der Homepage ihrer Zeitschrift "ProChoix" und wurde am 17. Dezember 03 in der "Jungle World" veröffentlicht. Die Co-Autorin Fiametta Venner ist seit Mitte der neunziger Jahre in der französischen Öffentlichkeit bekannt, da die Soziologin sich bleibende Verdienste mit ihrer Recherchearbeit über die so genannten commandos anti-IVG (Aktivistengruppen rechtsextremer Abtreibungsgegner) erworben hat. 

"Keine Verwechslung zwischen Islamophoben und Laizisten", also Anhängern der Trennung von Religion und Staat, fordert die Überschrift ihres Gastkommentars in "Libération". Das lässt die Möglichkeit offen, dass beides existiere, nämlich Islamophobie ebenso wie Säkularismus, dass man aber auch einen Trennungsstrich zwischen beiden ziehen müsse. Zugleich warnen die beiden Autorinnen vor "leichtfertiger" Verwendung des Begriffs, da man dessen Geschichte und Herkunft kennen müsse. Die Begriffsbildung datieren sie auf das Jahr 1979 im Iran, also auf den Beginn der islamistischen Konterrevolution, die auf die von sehr unterschiedlichen Kräften getragene gesellschaftliche Revolution gegen das Regime des Schahs folgte. Die damals gegründete so genannte Islamische Republik habe jene Frauen, die ihren Kopf nicht verhüllen wollten (was nunmehr per Gesetz unter Androhung körperlicher Züchtigung vorgeschrieben war), als "islamophob" bezeichnet.

Aber stimmt das wirklich? Das Wort "islamophob" mit seiner griechischen Wurzel existiert natürlich im Persischen nicht. Das Khomenei-Regime bezeichnete die bi-hijab (= unverschleierte Frauen) deswegen auch nicht als islamophob, sondern wörtlich wahlweise als zed-e eslam (gegen den Islam) oder auch als zed-e enqelab (gegen die Revolution). Letzteres erklärt sich daraus, dass die neue Diktatur die revolutionäre Legitimität für sich in Anspruch nahm und usurpierte, obwohl sie zugleich nach Kräften bemüht war, die Errungenschaften der Revolution gegen den Schah eine nach der anderen zu zerschlagen. Kann man nun diese Begriffe einfach mit "islamophob" bzw. "konterrevolutionär" übersetzen? Ist es wirklich dasselbe, wenn ein sich auf den Islam berufendes Regime in einem zu 97 Prozent von Moslems bevölkerten Land seinen (aktiven oder passiven) Gegnerinnen vorwirft, gegen die so genannte "eigene" Religion aufzubegehren, oder wenn in einem mehrheitlich von Christen und einigen Atheisten bevölkerten Land von Islamophobie die Rede ist? 

Das bedeutet beileibe nicht, dass der Islam oder sich auf ihn berufende politische Ideologien nicht auch dort, wo nur eine Minderheit der Bevölkerung ihm angehört, reaktionäre Phänomene hervorbringen könnte. Dadurch, dass eine eingewanderte Bevölkerung eine Minderheit bildet und zusätzlich noch diskriminiert und mitunter stigmatisiert wird, werden die in ihr zirkulierenden Ideologien noch keineswegs automatisch emanzipatorisch. Ein deutliches Beispiel liefert die US-amerikanische Nation of Islam des muslimischen Predigers Louis Farrakhan. Ihre Zielgruppe und soziale Basis besteht aus Menschen, deren Vorfahren auf sehr unfreiwillige Weise nach Nordamerika einwanderten, nämlich als Sklaven, und die heute zweifellos auf vielfache Weise benachteiligt werden. Dadurch wird die Ideologie dieser konkreten politischen Bewegung nicht besser: Sie ist homophob, tendenziell rassistisch, antisemitisch, und im Zweifelsfall stehen ihr weiße Neonazi-Organisationen (mit denen es tatsächlich Treffen gegeben hat), deren grundsätzliches Ziel einer "getrennten Entwicklung der Rassen" sie teilt, näher als die "Regenbogenkoalition" aller Unterdrückten und Diskriminierten.

Trotzdem ist es wichtig, jene analytische Grundregel zu beachten, die darin besteht, einen Gegenstand von seiner ideologischen Wahrnehmung bzw. Verarbeitung durch verschiedene Menschen zu trennen. Jedenfalls, sofern man davon ausgeht, dass es eine gesellschaftliche Realität außerhalb des Kopfes des jeweiligen Sprechers gibt, was zu den Grundannahmen des Materialismus gehört. 

Der Gegenstand, das wären hier einerseits der Islam und andererseits jene politischen Bewegungen, die vorgeben, die Gesellschaft nach seinen Vorschriften zu organisieren ­ also bereits ein doppeltes Phänomen. Selbstverständlich handelt es sich nicht um eine Naturgegebenheit, sondern um eine gesellschaftliche Erscheinung, die nicht unabhängig vom Verhalten und den Vorstellungen ihrer eigenen Anhänger zu betrachten ist, die also nicht "für sich" existiert. Doch außerhalb davon existiert noch die Wahrnehmung dieses sozialen Phänomens durch andere Menschen, die nicht zum Kreis dieser Anhänger gehören. Unter Umständen kann diese Wahrnehmung fantastische, ideologisch verzerrte, von ihrem (gesellschaftlichen) Gegenstand weitgehend abstrahierende Züge annehmen.

Spezifischer Rassismus mit Bezug auf den Islam ­ gibt¹s das?

Die Kritiker und Gegner der Verwendung des Begriffs der "Islamophobie" gehen davon aus, eine solche "Feindschaft gegenüber dem (Phänomen) Islam" gebe es nicht, denn man könne nur Menschen hassen. Was es gebe, sei allenfalls eine Form von Rassismus gegen arabische Immigranten, der aber nicht oder nicht hauptsächlich mit der Religion zusammenhänge. Was aber, wenn es spezifische Hassausbrüche und Handlungen gibt, die sich explizit gegen muslimische Kultstätten richten? Das ist in Frankreich der Fall: Seit etwa anderthalb Jahren gibt es eine Serie von Anschlägen auf Gebäude, die der islamischen Religionsausübung dienen. Eine häufig gewählte Aktionsform bestand darin, eine Moschee (wie etwa jene von Lyon) durch Farbbeutelwürfe mit blauer, weißer und roter Farbe zu beschmieren. Das darf man wohl ungefähr so interpretieren, als stünden die Nation, für deren Symbole die Farbenkombination steht, und "der Islam" sich feindlich gegenüber. In einem drastischeren Fall plante ein verhinderter Attentäter, sich im Februar 2003 in der Hauptmoschee von Paris in die Luft zu sprengen. Er wurde Ende September 03 zu vier Jahren Haft verurteilt.

Ebenfalls nicht unberücksichtigt bleiben sollte dabei, dass es Personen gibt, die den Begriff der "Islamophobie" nicht zu Zwecken der Kritik einsetzen, sondern die ihn als Eigenbezeichnung auf sich selbst beziehen. Das gilt etwa für Jean-Claude Imbert, den Chefredakteur des konservativen Wochenmagazins "Le Point". Er wird von Caroline Fourest und Fiametta Venner in ihrem Text zwar erwähnt. Aber er taucht bei ihnen in einer Linie mit Personen oder Organisationen wie dem antirassistischen Verband MRAP auf, die den Begriff als Anklage im Munde führen, was wiederum von den beiden Autorinnen kritisiert wird.

Aber Jean-Claude Imbert hatte den Begriff in einem völlig anderen Sinne benutzt, als er nämlich Ende Oktober 03 vor den Mikrophonen des Kabelkanals LCI erklärte: "Ich bin ein bisschen islamophob. Es stört mich nicht, das zu sagen. Ich sage, dass der Islam ­ und ich rede hier nicht von den Islamisten ­ als solcher einen Schwachsinn an verschiedenen Rückständigkeiten hervorbringt." Dass es Monsieur Imbert dabei vorwiegend um eine antiklerikale Position ging, hätte man dem gebürtigen Katholiken vielleicht eher abgenommen, wenn er sich nebenbei noch als "ein bisschen vatikanophob" bezeichnet hätte. Die Sache wurde nicht besser dadurch, dass er just zur selben Zeit dem "Hohen Rat der Integration" (HCI) angehörte, einem Gremium, das Vorschläge zur Verbesserung der Situation von Einwanderern machen soll. Mit dem Eindruck der Unbefangenheit war es damit vorbei, und es kam zu einem kurzen Aufschrei in der Öffentlichkeit, der alsbald wieder verstummte. Es wäre zumindest ehrlich von Fourest und Venner gewesen, darauf hinzuweisen, dass also der Begriff der "Islamophobie" nicht nur in denunziatorischer, sondern auch in affirmativer Absicht benutzt worden ist.

Dass eine bestimmte Form von Hetze gegen Einwanderer sich durchaus genau an der Kritik ihrer Religion festmachen und diese zum Vorwand nehmen kann, hat bereits vor 20 Jahren ein amtierender Regierungschef vorgeführt. Im Januar 1983 hatte eine Welle von Streiks in der französischen Automobilindustrie stattgefunden, unter anderem bei Renault im Großraum Paris. An der Spitze der kämpferischen Bewegung standen damals marokkanische und algerische Arbeiter, die in diesen Fabriken an den Fließbändern streikten. Der sozialdemokratische Premierminister Pierre Mauroy, der ohnehin unter Druck stand, weil just zu jener Zeit die Enttäuschung über nicht eingetretene Erwartungen an die erste Linksregierung besonders tief saß, reagierte darauf mit der Bemerkung, hinter den Arbeitsniederlegungen stünden »Anhänger des Ayatollah Khomeini«, dessen Propaganda hier verfangen habe. Für eine Richtigkeit dieser Behauptung sprachen freilich keinerlei Hinweise. Anti-arabischer Rassismus? Die solcherart Angesprochenen teilten mit dem Oberhaupt der iranischen Islamisten weder die Nationalität oder die Sprachzugehörigkeit, die einen waren Araber und Berber, der andere war Perser, noch die Konfession, da die Nordafrikaner keine Schiiten sind. Der einzige gemeinsame Punkt war offenkundig eine, als angeblich richtig vorausgesetzte, Zurechnung "zum Islam".

Es handelte sich offenkundig um die Mobilisierung von Phantasmen und Halluzinationen, die in einem Teil des Publikums vorhanden waren und die eine Bedrohung "des Westens" durch die "islamische Welle" suggerierten. Bedrohlich war Khomenei tatsächlich - für die politischen Oppositionellen und die nicht unterwürfigen Untertanen im Iran, aber bestimmt nicht für "den Westen", der ihn zur selben Zeit eifrig mit Waffen belieferte.

1983 war übrigens auch das Jahr, in dem Jean-Marie Le Pen seinen politischen Durchbruch feierte und seine ersten Wahlerfolge einfuhr. Mit dem damals entstandenen politischen Klima hatte das einiges zu tun. Und der Chef der französischen Neofaschisten hat auch ­ vor allem in den ersten Jahren seines Erfolgs ­ genau die hier angesprochenen Bedrohungsvorstellungen, die sich um "den Islam drehen, in seinem Diskurs eingesetzt. So zeigten die Wahlplakate der extremen Rechten in den achtziger Jahren regelmäßig eine verschleierte Marianne, das weibliche Nationalsymbol, um zu illustrieren, was Frankreich noch blühe, oft versehen mit dem Zusatz: "In 20 Jahren wird Frankreich eine islamische Republik sein." Vorgemacht hatte es das stockkonservative Figaro Magazine, das 1985 die glorreiche Idee hatte, ein Titelblatt mit der verhüllten Marianne zu versehen. Später freilich hat sich das Arsenal des Front National stärker diversifiziert, und Le Pen hat ab Ende der achtziger Jahre auch antisemitische Versatzstücke und Weltverschwörungsideen, die sich häufig um die so genannte Globalisierung drehen, in seinen Diskurs aufgenommen. Beide Register existieren heute nebeneinander, wobei der speziell am Islam festgemachte Rassismus eher das Massenpublikum der Partei anspricht, die "Komplotttheorien" und antisemitischen Thesen dagegen eher zum Rüstzeug der ideologisch gefestigten Kader zählen.

Dabei weist, jedenfalls im französischen rechtsextremen Diskurs, das Bedrohungsszenario von der "islamischen Flut" manche strukturellen Ähnlichkeiten zu den später bedeutsam gewordenen Verschwörungsdiskursen auf. Denn als ideologisch verfestigtes Ganzes, das über den bloßen ressentimentgeladenen Affekt gegen die Anwesenheit von "arabischen" Einwanderern hinausgeht, nimmt der Islamdiskurs auch einige Elemente von Weltverschwörungsdenken in sich auf. Demnach gibt es ein Komplott gegen die Nationen (am Anfang war vor allem von "immigrationistischen und antirassistischen Lobbys" die Rede), das deren Überflutung durch Immigranten beabsichtige, die wiederum im Auftrag finsterer und übel wollender Regime in der Dritten Welt handelten. Das Versatzstück "Islam" erlaubt es dabei, eine fertige Assoziationskette zwischen der Anwesenheit von Einwanderern in Frankreich und der Existenz offenkundig unsympathischer Regime anderswo ­ Stichwort Khomenei ­ sowie den Forderungen der Dritten Welt zu etablieren.

Damit steht die Idee, die man von der "islamischen Bedrohung" zeichnet, irgendwo zwischen dem "einfachen" Rassismus, der sich an äußerlich erkennbaren, oberflächlichen Differenzen zum Anderen festmacht, und elaborierten Verschwörungstheorien, in denen das Böse aus dem Zusammenspiel verborgener Kräfte im Interesse finsterer Mächte resultiert. Zu letzteren Theorien gehört vor allem der Antisemitismus. In neuerer Zeit erlaubt die Figur des "Schläfers", die nach dem 11. September 2001 viel von sich reden machte (es gab wirklich einige Kader, die tatsächlich diese Rolle spielten und bei den Attentaten mitwirkten), die Vorstellung von der Bedrohung durch einen besonders gut assimilierten, deswegen unsichtbaren und besonders bedrohlichen Feind in die Bedrohungsszenarien vom »Islam« einzuführen.

Es ist offenkundig, dass dies alles nicht bedeutet, es gäbe keine legitime und notwendige Kritik an der islamischen Religion oder an den politischen Bewegungen, die seit dem 20. Jahrhundert entstanden sind und sich als Programme zur Ausrichtung der Gesellschaft nach islamischen Vorschriften darstellen. Für die übergroße Mehrzahl der (nach neueren Schätzungen der Sozialwissenschaftlerin Michèle Tribalat) 3,7 Millionen Moslems in Frankreich bedeutet "Islam" einfach, kein Schweinefleisch in der Kantine zu essen und zu versuchen, während des Ramadan tagsüber nichts zu essen. Bedarf das unserer Kritik? Man muss solche Überzeugungen nicht mögen, aber solange sie Privatsache bleiben, brauchen sie uns nicht zu stören. Wo sie in den Raum des gesellschaftlichen Zusammenlebens oder in die politische Sphäre eingreifen, werden sie zum Gegenstand berechtigter Kritik.

Es verhält sich ähnlich wie mit dem Antiamerikanismus: Selbstverständlich ist es nötig und richtig, die jeweilige konkrete Politik der US-Administration zu kritisieren und oftmals zu bekämpfen. Das gibt aber jenen Ideologien und Diskursen keinen Freibrief oder keine Legitimation, die die Ablehnung von allem, was "Amerika" ist oder tut, zu einem geschlossenen Gedankengebäude verdichten, das meist sehr reaktionäre Implikationen aufweist. 

Ansonsten gilt es, Marx zu folgen, der dafür eintrat, "religiöse Fragen systematisch in weltliche zu verwandeln". Natürlich wäre es besser, wenn alle Menschen Atheisten würden, und Emanzipation ist ein notwendiges Ziel. Aber sie lässt sich nicht gegen den Willen von Bevölkerungen erzwingen. Nicht durch innerstaatliche Vorschriften, und auch nicht anderswo durch B 52-Bomber. Wo Menschen sich religiös aufgeladene Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens zu Eigen machen, weil ihnen dies als Antwort auf das Scheitern anderer gesellschaftlicher Wege oder auf eine spezifische Unterdrückung erscheinen sollte, sollten wir mit ihnen über die Gesellschaft reden. Bessere Antworten als die Religion, jede Religion, haben wir allemal.

Die Problematik der Begriffswahl bleibt

Es bleibt eine wesentliche Frage offen: Soll man diejenige Ideologie oder Geisteshaltung, die hier kritisiert wurde, weiterhin als "Islamophobie" bezeichnen? Da ich der Auffassung bin, dass man stets Begriffe mit hinreichender Trennschärfe benutzen sollte, die (sofern möglich) nicht auch von anti-emanzipatorischen Bewegungen benutzt werden, dürfte hier Vorsicht geboten sein. Tatsächlich gibt es autoritären politisch-religiöse Bewegungen, die diesen Begriff bei jeder Kritik am Islam als Religion oder auch an ihrer politischen Programmatik jederzeit sofort in¹s Felde führen werden. (Schriftstellerische Freiheit für Salman Rushdie? Islamophobie! Forderung nach Abschaffung des saudi-arabischen Regimes, "Hüterin der heiligen Stätten"? Islamophobie! Usw.)

Insofern könnte man dafür plädieren, den Begriff der "Islamophobie" aus dem linken Sprachschatz zu streichen. Das sollte man tatsächlich insofern tun, als Kritik an Religion und Politik unter islamischen Vorzeichen nicht tabu zu sein hat. Dennoch sollte man im Kopf behalten, welche richtige Aussage der Begriff bisher transportiert hat oder zumindest transportieren konnte: Der Hinweis darauf, dass ein spezifischer Rassismus sich am Islam festbeißen kann, bleibt richtig. Insofern sollte man auch all jenen Gehör schenken, die den Begriff (Islamophobie) bisher in diesem Sinne, und keinem anderen Sinne, benutzt haben oder ihn vielleicht weiterhin verwenden werden. Nennen wir ihn meinetwegen "Rassismus oder Metropolenchauvinismus, der die Kritik am Islam zum Vorwand nimmt". Damit ist eine nötige Klärung vollzogen, und das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet.

5. Zu einigen Kriterien für eine linke Positionierung in der Islam(ophobie)-, Islamismus- oder Rassismus-Debatte

Die Debatte um die Kopfbedeckung von Schülerinnen aus Einwandererfamilien ist besonders heikel. Denn hierbei kreuzen sich zwei unterschiedliche Themenstränge in einem Knotenpunkt: Auf der einen Seite steht die Frage der Rechte der Person oder des Individuums gegenüber seiner Herkunftsgruppe und seiner Familie. Diese Fragestellung wird unmittelbar durch die Stellung von Frauen in muslimischen Gesellschaften berührt. Andererseits aber stößt das Thema aber auch an die Frage, wie Frankreich oder Deutschland mit seinen Minderheiten umgeht.

Was auf dem Spiel steht ­ Und warum eine einfach gestrickte Position in die Irre führen muss

Für Linke und antifaschistische Menschen steht dabei viel auf dem Spiel. Denn eine zu einfach gestrickte Stellungnahme, die eines der aufgeworfenen Probleme vernachlässigt, droht sie unweigerlich an rechte Positionen (in der einen oder anderen Variante) heranzuführen.

So kann es im Prinzip für unsereinen nicht in Frage kommen, einfach den Standpunkt der Mehrheitsgesellschaft gegenüber einer (aus der Einwanderung herstammenden) Bevölkerungsminderheit einzunehmen, wenn die Erstgenannte (oder Teile von ihr) die Letztere beispielsweise wegen ihrer "Rückständigkeit" oder "Unintegrierbarkeit" anklagt. Das kann geradewegs in die offenen Arme eines platten, als Islam-Kritik getarnten Rassismus führen. Denn letzterer kann sich mitunter, der Niederländer Pim Fortuyn hat es vorgemacht, mit den Federn einer aufgeklärt-liberalen Weltoffenheit schmücken, die vor allem wegen der mangelnden individuellen Freiheitsrechte gegen "den Islam" (aber auch gleichzeitig gegen die Einwanderung von Menschen aus muslimischen Ländern) eintritt. Selbst ein politischer Primitivling wie DVU-Chef Gerhard Frey hat diesen Dreh noch hinbekommen. Danach befragt, was er gegen die Anwesenheit von Menschen aus der türkischen Immigration habe, antwortete dieser im Dezember 1991 der Regenbogenzeitschrift BUNTE wörtlich: "Bei den Türken ist die Frau nicht gleichberechtigt."

Umgekehrt wäre es aber ein fataler Fehlschluss, deswegen einfach die platte Gegenposition einzunehmen. Diese würde darin bestehen, deswegen einfach unkritisch das Tragen "islamischer" (oder durch traditionelle Kulturen als solche definierter) Kopfdeckungen durch die Frauen unkritisch zu verteidigen. Das heißt, ohne weitere Problematisierung einfach "für das Kopftuch" oder "das Recht auf¹s Kopftuch" einzutreten ­ wie es etwa zeitweise die (vor kurzem nach 10 Jahren Erscheinen eingestellte), in Köln publizierte, antirassistische Zeitschrift "morgengrauen" praktiziert hat. Man kann sich auch heute eine Haltung vorstellen, die einfach "den Islam" oder "die Moslems" als unterdrückte Minderheit pauschal gegen die "westliche" Mehrheitsgesellschaft unterstützt, und es sich dabei viel zu einfach macht.

Das würde nicht nur übersehen, dass es innerhalb der "muslimischen" Bevölkerungsgruppen (in denen es ja auch Ungläubige, Freidenker und AgnostikerInnen geben soll!) reaktionäre ebenso wie fortschrittliche Kräfte gibt, wobei Erstere "ihrer" Gruppe eine spezifische, eigene "Moral" aufzuzwingen versuchen. Überall, wo die politische Bewegung des Islamismus (die gewisse strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem europäischen Faschismus aufweist, sich jedoch in anderen Punkten auch von ihm unterscheidet) im 20. Jahrhundert an die Macht kam, gehörte bspw. zu den allerersten Maßnahmen, den Frauen die Zwangsverhüllung ihrer Häupter aufzuzwingen. Das geschah meist unter Androhung drakonischer Züchtigungsstrafen. Ein besonders brutales Anschauungsbeispiel lieferte der Iran ab 1979.

Nun ist Frankreich oder die BRD nicht der Iran, und jeder Vergleich (den manche der Islam-KritikerInnen ziehen, auch unter Feministinnen oder unter Exil-IranerInnen - um die Kopftuchträgerinnen unter Verweis auf den dort ausgeübten Zwang als Trägerinnen einer enormen Gefahr darzustellen) führt in die Irre. Denn die Gründe, warum "islamische" Kopfbedeckungen in einer Pariser Banlieue oder in Berlin-Kreuzberg getragen werden, sind nicht dieselben, und ihr Nichttragen wird nicht mit staatlichen Straf- und Gewaltdrohungen sanktioniert. Allerdings können sich dennoch "private" Gewaltverhältnisse (von der Familie, den Vätern oder Brüdern, aber auch von der Community ausgehend) hinter den Kleiderordnungen verbergen. Und das umso mehr, als die gesellschaftliche Krise ­ d.h. Verarmungstendenzen, das Fehlen beruflicher Eingliederungsperspektiven und die besondere Diskriminierung gegen Einwanderer(kinder) ­ die Möglichkeiten, dem Druck der "eigenen" Gruppe zu entgehen, verbaut und das Individuum auf sein "natürliches" Kollektiv zurückwirft. Um es klarzustellen: Daran ist mitnichten "der Islam" schuld, sondern die soziale Situation der ImmigrantInnen! Nichtsdestotrotz führt diese reaktionäre Entwicklung mitunter zu einem erheblichen Rückgang der Rechte des oder der Einzelnen, vor allem von Jugendlichen und von Frauen.

Diese Widersprüche und möglichen Spannungen innerhalb einer jeden ­ auch minoritären ­ Gruppe der Bevölkerung zu übersehen oder herunter zu spielen, führt zu einer essenzialistischen Sichtweise. Im Endeffekt führt eine solche Form von Antirassismus, die einfach ganze "Kulturen" als geschlossene Blöcke (etwa gegen die westliche, weitgehend unreligiöse, Mehrheitskultur) verteidigt, zu einem gesellschaftlichen Determinismus, der die menschlichen Individuum in ihrer Herkunft einschließt. Die junge Frau aus einer muslimischen Familie hat dann ein Kopftuch zu tragen, "weil es ihr Recht ist", auch wenn sie dieses "Recht" vielleicht gar nicht in Anspruch nehmen will, sondern viel lieber emanzipiert wäre.

Natürlich wird niemand, der oder die sich als links und antirassistisch bezeichnet, für einen Zwang solcher Art eintreten. Man kann ihn aber auch unfreiwillig befördern, wenn man dafür sorgt, dass innerhalb einer Gesellschaftsgruppe die reaktionär-kulturalistischen Kräfte gestärkt werden. Wenn erst einmal das Recht darauf, möglichst viele Kopftücher in einer Schulklasse zu sehen, konsequent durchgesetzt ist und diese Kopfbedeckung dann in bestimmten Schulgegenden (vor dem Hintergrund städtebaulicher Segregation und Ghettoisierung von Einwanderern) mehrheitlich präsent ist ­ was passiert dann mit denen, die nunmehr in der Minderheit sind? Drohen sie nicht, als "unmoralisch" und "Huren" abgestempelt zu werden? Hat dann nicht das Recht der Einen jenes der anderen Mitglieder derselben Bevölkerungsgruppe erdrückt?

Im Extremfall kann eine solche, wahrscheinlich im Ansatz moralisch wohlmeinende, Form von Antirassismus zu einem Verständnis der Menschheit als "Ethno-Zoo" führen, in welchem das jeweilige menschliche Individuum sich nur noch durch die Zugehörigkeit zu einer Spezies definiert. Oder auch in die Arme eines "Ethno-Pluralismus", wie ihn ­ nun ja ­ ein intelligenter Flügel der extremen Rechten, mit den Vordenkern der Nouvelle Droite (Alain de Benoist & co.) dereinst definiert hat, und der auf Dasselbe hinausläuft. Sind dann erst einmal die Minderheiten erfolgreich "ethnisiert" und in eine fest vorab determinierte "natürliche Rolle" eingeschlossen, dann wird dasselbe Programm dann natürlich auch auf die Mehrheitsgesellschaft ausgedehnt. So kann das, was ursprünglich astrein antirassistische Motive hatte, am Schluss umgedreht werden. Man erinnere sich an die französische Debatte in den 80er Jahren, in denen wohlmeinende aber kulturalistisch argumentierende Antirassisten den Slogan vom "Recht auf Differenz" (droit à la différence) aufbrachten. Sie meinten, dass nur ein Recht auf kulturelles "Anderssein" anerkannt werden müsse, und schon gebe es keinen Rassismus mehr. Aber waren die betroffenen Menschen wirklich so "anders"? Die wirklichen Rassisten waren davon überzeugt, und der Front National übernahm den Slogan am Ende, wobei er ihm allerdings einen völlig anderen Sinn verlieh. Die extreme Rechte verteidigte das "Recht auf Anderssein" der Mehrheits-Franzosen, die gern ihre "Andersartigkeit" aufrecht erhalten wissen würden.

Was also in der Praxis tun? Es gibt keine einfachen Antworten auf solche Fragen. Von einem wird man freilich auszugehen haben: Es ist nicht vorwiegend der (sei er nun "richtig" oder "falsch" verstandene) Antirassismus, der die Tendenzen zur Ethnisierung oder auch Selbstethnisierung in den verschiedenen (minoritären) Bevölkerungsgruppen an erster Stelle befördert. Nein, vielmehr ist es das soziale Elend im Zusammenspiel mit diversen Diskriminierungen, das diese Rolle spielt. Aber das ist kein Grund, seine Auswirkungen noch ­ freiwillig oder unfreiwillig ­ zu befördern.

Daher wird es darauf ankommen, dass "die Linke" (wer auch immer das jetzt sein mag) andere und bessere Antworten auf diese "wirklichen", gesellschaftlichen Fragen anbietet, als Religion und Politik unter islamischen Vorzeichen es tun. Auf Seiten staatlicher Repressionspraktiken zu stehen, verbietet sich dabei von selbst; denn wer sollte "uns" in einem solchen Fall unsere Alternativen zur herrschenden Ordnung abnehmen? Andererseits setzt das Anbieten von Alternativen voraus, dass man welche hat. Dann, wenn man sich an die potenzielle soziale Basis der Islamisten wendet (und das ist unumgänglich, nämlich um den islamisten den Boden zu entziehen), aus Opportunismus oder Einfallslosigkeit dasselbe zu erzählen wie die Islamisten, wäre für die Linke ebenfalls tödlich.

Das klingt nicht unbedingt einfach. Aber wann im Leben geht es schon einfach zu?

Editorische Anmerkungen 

Der Artikel wurde uns vom Autor  in der vorliegenden Fassung am 21.1.2004 zur Veröffentlichung überlassen. 

Der Autor unterrichtet Jura an einer Universität im Großraum Paris. 

Bernard Schmid veröffentlichte im trend u.a. folgende Artikel: