Der Diskurs über "Kulturelle Differenz" und die Ausgrenzungspraktiken

Von Jael Bueno, Nosotras-Wir Frauen

01/04  
  
 
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Migration ist nicht einfach Folge individueller Entscheidungen, sondern ein hochdifferenzierter und begrenzter Prozess.

Internationale Migration entsteht nicht zufällig, sondern durch eine ganze Reihe wirtschaftlicher und geopolitischer Prozesse, nicht einfach durch den Wunsch einzelner Menschen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. In diesen Prozessen sind Regierungen, die Wirtschaft, die Medien und die Bevölkerung der hochentwickelten Länder beteiligt. Migration ist produziert, strukturiert und eingebettet in historische Phasen.

MigrantInnen stammen selten aus den ärmsten sozialen Schichten eines Landes oder  kommen kaum aus den ärmsten Ländern. Die Migrationwege haben eine erkennbare Struktur, die mit den Beziehungen und Interaktionen zwischen Herkunfts- und Zielländern zusammenhängt. Wie z.B. koloniale Vergangenheit, Tourismus, wirtschaftliche Produktion und Handel u.a. Verfolgung, Armut und Überbevölkerung sind Faktoren, die Einfluss auf die Migration haben, aber die Migration kann nicht auf diese Faktoren reduziert werden. Keine Migration hat je – wie Saskia Sassen 1997 berichtet- das Ausmass einer Invasion erreicht, nicht im 19. Jahrhundert, als es wenig oder gar keine Grenzkontrollen gab, und auch nicht im 21. Jahrhundert.

Der Diskurs über „Kulturelle Differenz“ und die „defizitären Bilder"

Viele Kinder mit Migrationerfahrung sind hier aufgewachsen und kennen das Heimatland ihrer Eltern kaum. Ihre bekannte Umgebung ist, wo sie aufwachsen. Ihre soziale und politische Situation ist ein sozialer Prozess, der von wirtschaftlichen, historischen und politisch ökonomischen Bedingungen der schweizerischen Gesellschaft beeinflusst ist

So wenig wie jedes Kind, das in der Schweiz lebt, aus einem armen Land kommt, so wenig gehört jedes Kind, das Migrationerfahrung hat, zu einer traditionellen Familie.

Oft werden die Herkunftsländer der Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Migrationerfahrung als traditionelle, von der Zivilisation unberührte Agrargesellschaften geschildert, während die Anwerbegesellschaft – die Schweiz – zum Inbegriff einer modernen Industrienation konstruiert wird. Kinder und Jugendliche mit Migrationerfahrung werden diesem Trugbild nach, erst zum Zeitpunkt ihrer Einwanderung mit Modernisierungs- und Individualisierungsprozessen konfrontiert. Ihre eigenen Erfahrungen mit Industrialisierungsprozessen in ihren Herkunftsgesellschaften und ihre Erfahrung in der Schweiz bleiben in diesen Ansätzen unbenannt.

Das Begriffspaar Tradition/Moderne (Encarnacion Gutierrez Rodriguez: 1996) wird zur Analyse der Lebensbedingungen und des Selbstverständnises der MigrantInnen verwendet. Diese Dichotomie verhindert, die Komplexität der Herkunft und der Erfahrung der Kinder und Jugendlichen zu erfassen. Statt dessen bietet sie den argumentativen Nährboden für die Gestaltung des Bildes einer «defizitären Ausländerin oder Ausländers».

Kinder mit Migrationerfahrung, wie Kinder ohne Migrationerfahrung wachsen in einer komplexen Umgebung auf, die sich nicht im Schema traditionell/modern beschreiben lässt. Die persönliche Entwicklung beeinflussen Geschlecht-Stereotypen, Familiemuster, Religion, Berufsbilder u.a. je nach sozialer Schicht und Ausbildung der Familie oder der Referenzpersonen.

Der Diskurs über  «Kulturelle Differenz» bewirkt, dass Kindern und Jugendlichen mit Migrationerfahrung qualifizierte Tätigkeiten verweigert werden oder sie gänzlich vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden.

Kinder mit Migrationerfahrung werden oft als «anders» wahrgenommen, was auf eine «andere Kultur» geschoben wird. Ein Missverständnis wird schnell mit der kulturellen Differenz begründet. Was heisst kulturelle Differenz?

Via das Zeichen «Kultur» werden homogene Einheiten von Menschen konstruiert, die sich auf hegemoniale nationalstaatliche Werte und Normen berufen. Kultur ist zumeist durch folkloristische Elemente (Essen, Musik, Kleider u.a.) bestimmt und wird nicht als prozessuales und sozial gewordenes Gebilde begriffen. MigrantInnen und ihre Kinder werden somit zu «TrachtenträgerInnen» ihrer Herkunftsländer stilisiert und hinter musealen Glasvitrinen eingefroren. So wird eine «ethnische Grenzziehung» zwischen Ausländer / Inländer auf die Ebene des Kulturellen übertragen. Kulturelle Differenz taucht also nicht als Ergebnis eines politischen Aushandlungsfeldes auf, sondern AusländerInnen werden so zu Fremden und zum kulturell Differenten gemacht (Encarnacion Gutierres Rodriguez: 1996, Sedef Gümen: 1996).

In letzter Zeit wird in der Schweiz viel über Differenz gesprochen. Gewachsen ist der Diskurs über die «kulturelle Differenz» in der Öffentlichkeit vor allem mit den Integrationsleitbildern. Es wird – nach E. Gutierrez Rodriguez – über die «kulturelle Differenz» auf zwei Ebenen gesprochen: einmal im hegemonialen Diskurs um die öffentliche Anerkennung «kultureller Differenz» und zweitens auf der Ebene der Betroffenen bzw. der als «different» bezeichneten, die über den Diskurs um «kulturelle Differenz» aus ihrer Unsichtbarmachung heraustreten wollen.

Die «Kulturelle Differenz» baut auf den Unterschied und die Unveränderlichkeit von Menschen auf. Neben anderen Unterschieden wie Hautfarbe, Religion, Geschlecht kann auch die Kultur durchaus als eine Art Natur fungieren, insbesondere als eine Art, Individuen und Gruppen a priori in eine Ursprungsgeschichte, eine Genealogie einzuschliessen, in ein unveränderliches Bestimmt-Sein durch den Ursprung (Encarnacion Gutierres Rodriguez: 1996, Sedef Gümen: 1996).

Auf dieser Grundlage werden Kinder und Jugendliche mit Migrationerfahrung, obwohl sie hier geboren oder als kleines Kind in die Schweiz gekommen sind, in einer ethnischen Kategorie konstituiert. Kinder mit Migrationerfahrung sind nicht zuerst Kinder und danach «Ausländerinnen», sondern sie werden immer zugleich als  das «ost- südeuropäische, afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Kind» angesprochen. So bleibt verdeckt, dass jedes einzelne der Kindern und der Jugendliche mit Migrationerfahrung sich in den Begabungen und in der gesamten Persönlichkeit von allen anderen unterscheidet.

Den schweizerischen Arbeitsmarkt durchdringen Ausgrenzungspraktiken, die auf einer Rassenkonstruktion basieren. So wie die Ideologie des Sexismus beigetragen hat, dass Frauen in beträchtlichem Umfang vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und ihre Tätigkeiten auf die unbezahlte Arbeit im Bereich von Haushalt und Familie beschränkt wurde. In ähnlicher Weise trägt die Rassenkonstruktion in Bevölkerungsgruppen dazu bei, eine Eignungshierarchie aufzubauen und die ideologische Grundlage für Ausgrenzungspraktiken zu errichten (Robert Milles: 1991). So wurde in verschiedenen Ländern Europas und in der Schweiz nach der Einwanderungswelle aus nicht europäischen Ländern der Arbeitsmarkt durch Staat und Arbeitgeber rassisch konstruiert, und der Rassismus hat (zusammen mit anderen Faktoren) eine Schlüsselrolle dabei gespielt, beträchtlichen Minderheiten qualifizierte Tätigkeiten zu verweigern oder sie gänzlich vom Arbeitsmarkt auszuschliessen.

Das Reden über Kulturelle Differenz ist keine neutrale Beschreibung, sondern Ausdruck einer Mehrheitskultur, die eine Umschreibung sucht für das, was sie nicht beim Namen nennen will, nämlich die Ausgrenzung von Menschen und deren damit einhergehenden sozialen Segmentierung.

Sozialpolitische Folgeprobleme der Exklusionspolitik werden mittels des  Diskurses um "kulturelle Differenz" nicht unter "sozialer Ungleichheit" chiffriert. Ethnizität wird in diesem Kontext als Mitgebrachte kulturelle Eigenschaft von Migrantinnen behandelt, was dazu führt, dass die soziale und politische Situation von Migrantinnen nicht als soziale, sondern als kulturelle Phänomene konstruiert werden.

So können z. B. im Vergleich zu jungen Schweizer Frauen Migrantinnen weniger oft einen Lehrgang abschliessen. Über ein Fünftel der jungen Migrantinnen in der Schweiz besitzt keinen Berufsabschluss. Dies steht im Gegensatz zu Erfahrungswerten, die belegen, dass Migrantinnen eine hohe Berufsorientierung haben und Berufslehren nicht auffallend häufiger abbrechen als Schweizerinnen. Bei Stellenknappheit auf dem Arbeitsmarkt werden Migrantinnen jedoch eher ausgeschlossen als Schweizerinnen und ausländische Männer. Der Bildungshintergrund ist eine zentrale Determinante für Ungleichheit.

Der Begriff Kultur müssen wir anders definieren:

Kultur ist die Art und Weise, wie die Personen die Beziehungen zwischen sich und anderen Personen und der sozialen Umgebung aufbauen. Damit ist Kultur ein permanenter Prozess, Kultur bleibt nie statisch, bewegungslos. Und etwas ist noch wichtig zu erinnern: Personen tragen die Kultur nicht unter der Haut, auch nicht als eine Information, die in ihren Chromosomen steht. Kultur ist ein gesellschaftlicher Aufbau. Kultur ist erlernt und kann sich ändern.

Literatur:

Gutierrez Rodriguez, Encarnacion (1999): Veortungsstrategien intellektueller Frauen in Kontext der Arbeitsmigration. In: Vor der Information: Staatsarchitektur. Wien. S. 44-47.

Gutierrez Rodriguez, Encarnacion (1996): Migrantinnenpolitik jenseits des Differenz- und Identitäsdiskurses. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis. Heft 42. Köln. S. 99-112.

Mahnig, Hans (2000): Ethnische Segregation als Herausforderung städtischer Politik. Neuchâtel. SFM.

Milles, Robert (1991): Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs. Berlin. Argument Verlag.

Gümen, Sedef (1996): Die sozialpolitische Konstruktion «kultureller» Differenzen in der bundesdeutschen Frauen- und Migrationsforschung. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis. Heft 42. Köln. S. 77-87.

Sassen Saskia (1997): Migrantin, Siedler, Flüchtlinge. Von der Massenauswanderung zur Festung Europa. Frankfurt. Fischer.

Editorische Anmerkungen 

Der Artikel ist eine Spiegelung von
http://frauen.lora.ch/artikel/Kulturelle_Differenz.htm