Interview 

Von der Mehrheit abgelehnt
Irak: Kein Vertrauen in die Nachkriegsordnung

01/04  
  
 
trend onlinezeitung

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Die irakische Bevölkerung steht der politischen Nachkriegsentwicklung misstrauisch gegenüber. Basisdemokratische Kräfte könnten ihr Gewicht auf die Waagschale werfen.

Im Frühjahr und Sommer 2004 soll eine demokratisch gewählte Übergangsregierung den von den Invasionsmächten eingesetzten provisorischen Regierungsrat ablösen. Täglich finden immer noch blutige Auseinandersetzungen statt. Wie realistisch ist ein friedlicher Übergang in Irak. Welche politischen Kräfte werden Einfluss auf die Zukunft des Landes nehmen? Wir fragten Sabah Alnasseri, Politologe und Exil-Iraker aus Frankfurt:

raumzeit: Angriffe in Irak richten sich immer öfter gegen andere Besatzungsmächte wie etwa Italien und nicht mehr nur gegen US-Einheiten. Was bedeutet diese Entwicklung?

Alnasseri: Es sieht so aus, als habe sich eine antiamerikanische Kraft entwickelt, die alles tut, um die Pläne der USA für eine Übergangsregierung ad absurdum zu führen. Genau da, wo bisher Ruhe war - in Nasseriya, in Kurdistan und in Basrah - wird angegriffen. Auch andere Besatzungskräfte, die Engländer, die Italiener, die Polen, die eigentlich zurückhaltender arbeiten und in den Städten nicht so viel Präsenz zeigen wie die Amerikaner in Bagdad, sind jetzt Ziel der Angriffe. Ich glaube, dass diese Angriffe eher darauf abzielen, das Vertrauen zwischen der Bevölkerung und den Besatzungsmächten zu erschüttern – eine blutige Botschaft vor allem an die, die mit der Besatzung zusammenarbeiten oder willig sind, dies zu tun – , als dass sie tatsächlich effektiv wären.

rz: Man hat den Eindruck, dass gerne eine gewisse Prominenz für die Angriffe verantwortlich gemacht wird. Im Augenblick ist der frühere Vizepräsident Essad Ibrahim El Duri im Gespräch, der jetzt hinter einigen Anschlägen stehen soll.

Alnasseri: Immer, wenn die Lage explosiv wird, wird ein bestimmter Name dieser Clique um Saddam Hussein popularisiert und als der Hauptgegner inszeniert. Die Alliierten wissen eben nicht, wer hinter den Anschlägen steckt. Ihnen fehlen die Informationen und sie haben einen Riesenfehler gemacht, als sie die Sicherheitsapparate in Irak auflösten, so dass ein Sicherheitsvakuum entstand. Diese Personifizierung der Gewaltverhältnisse ist nicht nur eine Vereinfachung, sondern dient der Propaganda. Sie wissen, dass sie handlungsunfähig sind, vor allem, was sicherheitspolitische Fragen angeht. Sie befürchten mittlerweile, dass aufgrund der ständigen Verschiebung der Machtübergabe ihre Glaubwürdigkeit auch in den Augen derer, die bis dato neutral waren – und das ist die Mehrheit der irakischen Bevölkerung - dahin ist. So stehen sie unter Druck und greifen um so mehr zu diesen Inszenierungen bzw. Ablenkungstaktiken, um Handlungsfähigkeit vorzutäuschen.

rz: Einer Ihrer Hauptkritikpunkte nach der Einrichtung des provisorischen Regierungsrates war die Machtverteilung nicht auf politische, sondern auf ethnische und religiöse Gruppen. Ihrer Ansicht nach setzt dies nur die Regierungsweise Saddam Husseins in einer neuen Form fort. Werden die Alliierten bei der bevorstehenden Neuorganisierung der Macht diesen Fehler vermeiden?

Alnasseri: Nein, sie werden diese Aufteilung beibehalten. Sie möchten lediglich, dass diese, von ihnen bestimmte politische Form mehr Legitimität durch die irakische Bevölkerung erhält. Aber, wenn wie vorgesehen bis Juni 2004 eine Übergangsregierung gewählt wird und diese Übergangsregierung dieselbe ist wie der jetzige provisorische Regierungsrat, wäre das eine Katastrophe, auch für die Besatzungsmächte. Daher denke ich: Man wird darauf achten, dass auch neue Gesichter auftauchen, die mehr Neutralität vermitteln und dieser Regierung stärkere Legitimität verleihen sollen. Aber grundsätzlich wird diese Variante nicht aufgegeben.

rz: Ist denn der frühe Zeitpunkt im Mai 2004 zur Wahl der Nationalversammlung überhaupt realistisch für einen demokratischen Übergang?

Alnasseri: Man muss zwei Dinge beachten. Erstens: Das Timing der Wahl der provisorischen Nationalversammlung ist an die Wahlen in den USA im nächsten Jahr gekoppelt. Die Bush-Administration muss gewisse Erfolgsgeschichten während der heißen Wahlperiode von Juli bis Oktober verkaufen, etwa: "Ja, der Irak befindet sich in einem demokratischen Prozess, wir haben unsere Versprechen eingelöst."

Noch gravierender ist, dass die USA feststellen mussten, dass die provisorische Regierung von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird - nicht zuletzt aufgrund dieser ethnisch-religiösen und tribalistischen Teilung. Aber auch, weil es in der letzten Zeit zu Korruptionsaffären, und zur Verteilung von Ressourcen nach Partikularinteressen kam. Daher soll der Mehrheit der Iraker, die wie gesagt bis dato neutral waren, vermittelt werden, es gehe wirklich vor allem darum, eine Regierung zu bilden, die von der Mehrheit der irakischen Bevölkerung legitimiert und gewählt ist.

rz: Was wird eigentlich nach den Wahlen im Mai mit den Besatzungstruppen geschehen?

Alnasseri: Die USA wollen, noch bevor es zur Übergangsregierung kommt, mit dem provisorischen Regierungsrat – spätestens bis Ende März 2004, also zwei Monate vor der Wahl der provisorischen Nationalversammlung – ein Abkommen schließen, in dem geregelt wird, dass amerikanische Truppen in Irak stationiert werden. Sie wollen im Land bleiben und darauf achten, dass dieses Abkommen vom provisorischen Regierungsrat institutionalisiert wird, so dass die Übergangsregierung das nicht mehr rückgängig machen kann. Die amerikanischen Truppen sollen aus den Städten zum Teil abgezogen werden, so dass sie nicht mehr so stark in Erscheinung treten und damit die Bevölkerung provozieren. Dann aber brauchen sie neue Truppen, neue Kräfte - aus Japan oder Australien von mir aus. Diese Kräfte sind neutraler - denn sie waren keine Invasionsmächte -, sie genießen vielleicht bei der irakischen Bevölkerung eine größere Akzeptanz und bringen auch neue Ressourcen mit. Dann können die amerikanischen und britischen Truppen stärker im Hintergrund bleiben und sich in bestimmte strategische Zonen in Irak verlagern.

rz: Welche Entwickelungen finden innerhalb der irakischen Gesellschaft seit dem Ende des Regimes statt?

Alnasseri: Auf der Ebene des provisorischen Regierungsrats steht das Kräfteverhältnis zugunsten der konservativ-liberalen Kräfte. Auf der Ebene der Zivilgesellschaft haben sich neue Gruppen gebildet, alte Gruppen und Infrastrukturen wurden ansatzweise reaktiviert, die Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis im Regierungsrat haben werden.

Dann ist da die schweigende Mehrheit derer, die zwar froh sind, dass es zu demokratischen Veränderungen kommt, die aber passiv bleiben oder unzufrieden sind. Sie sagen: "Die Demokratie hat uns nur Unsicherheit, Armut und Hunger gebracht".

Es besteht die Gefahr, dass diese unzufriedene Mehrheit schnell zu Gunsten bestimmter radikaler rechter oder konservativer Kräfte kippt. Hier ist viel Arbeit zu leisten, die basisdemokratischen Kräfte müssen auf lokaler Ebene darauf hinwirken, dass die Menschen ihre eigene Unzufriedenheit in produktiver Form artikulieren, sich selbst organisieren, ihre Interessen konkret fassen und dementsprechend politisch agieren. Wenn sie das schaffen, gibt es einen gewaltigen Schub in Richtung Demokratisierung in Irak. Wenn hingegen diese schweigende Mehrheit von bestimmten Kräften durch spektakuläre Aktionen beeindruckt wird, dann wird die Sache für die Besatzungsmächte aber auch für die demokratischen Kräfte noch schwieriger.

rz: Was steckt hinter den krawallartigen Protesten gegen Arbeitslosigkeit, von denen man vor kurzem erfuhr?

Alnasseri: Die Vereinigung der Arbeitslosen ist eine der Erfolgsgeschichten der basisdemokratischen Kräfte. Die Basis dieser Gruppe hat sich unheimlich erweitert, nicht zuletzt weil die Mehrheit jetzt arbeitslos ist. Dies birgt ein riesiges politisches Potenzial, weil in den nächsten Jahren die Mehrheit der Iraker arbeitslos sein wird.

Das ist vielleicht auch ein Grund für die US-Verwalter, den provisorischen Regierungsrat abzulösen. Was dessen Mitglieder bis jetzt verfolgt haben, sind rein neoliberale Gedankenstränge, nach Modellen, die sie in den USA, in England oder bei der Weltbank gelernt haben.

Ein Beispiel: Der Landwirtschaftsminister flog nach Australien, angeblich um Kenntnisse zu sammeln, die für den Irak von Bedeutung seien. Besser hätte er sich mit in der Landwirtschaft erfahrenen Irakern (Wissenschaftler, Techniker, Bauern, Planer etc.) zusammensetzen und aus den konkreten Problemlagen, aber auch auf der Basis des lokalen Wissens der Bauern in Irak Strategien entwickeln sollen. Aber er traf sich dort mit Konzernen, die einzig und allein ihre eigenen Produkte in Irak verkaufen wollen und gar nicht an einem Wissenstransfer interessiert sind. Dadurch ist klar geworden, dass dieser Regierungsrat mehrheitlich Partikularinteressen verfolgt, modellhaft vorgeht und dass er so ökonomisch keine, langfristig tragfähige Entwicklung in Gang setzen kann. Deshalb gewinnen diese politischen Vereine immer mehr an Popularität.

rz: Hat sich der Alltag für die IrakerInnen normalisiert?

Alnasseri: Es gibt immer noch Versorgungsprobleme: Bei Strom, Wasser, in der Gesundheits- und Lebensmittelversorgung. Der Schulbetrieb und der Wissenschaftsbetrieb sind kaum im Gange. Die Besatzungstruppen haben in den letzten Monaten mehr Zeit und Geld und Bomben in das Chaos investiert, das sie selber verursacht haben, als systematisch Projekte zu verfolgen.

Erst jetzt fangen sie aktionistisch an, gewisse Projekte in Gang zu setzen, Krankenhäuser oder Schulen. Aber diese haben lediglich Vorzeigecharakter. Es ist keine Infrastruktur im wirklichen Sinne.

rz: Gibt es schon eine freie Meinungsäußerung im Irak?

Alnasseri: Die offiziellen Medien werden vom amerikanischen Militär zensiert. Aber da die Besatzungsmächte nicht die gesamte Gesellschaft kontrollieren können und wollen, entwickelten sich auf anderer Ebene neue Ansätze: Kommunikationsguerilla, autonome Medien, Netzwerke. Diese üben heftige Kritik an den Besatzungsmächten und ihrer Medienpolitik, sind aber noch nicht so präsent, dass sie ein Äquivalent zu den Medien der etablierten Parteien und Cliquen in Irak oder der Besatzungsmächte wären.

Editorische Anmerkungen

RAUMZEIT, die Monatszeitschrift für Nünberg-Fürth-Erlangen interviewte in ihrer Dezemberausgabe Sabah Alnasseri. Im Rahmen des Antikriegskongresses in München Anfang 2004 hält Sabah Alnasseri am 10. Januar einen multimedialen Vortrag zur Rolle von Medien-Militär-Macht unter dem Titel "Der Kampf um die Köpfe – Krieg und Medienbilder". Die Datei ist eine Spiegelung von http://www.raumzeit-online.de/122003/artikel190.html