Die Meister der Krise
Über den Zusammenhang von Vernichtung und Volkswohlstand

von Gerhard Scheit

01/03
 
 
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Take off 1: Das Wunder Heidegger

Zahlreich sind die Versuche, Heidegger vom Nationalsozialismus reinzuwaschen: Jacques Derrida etwa meint, daß sich Heidegger in der Rektoratsrede vom Nationalsozialismus abgehoben habe, weil er den Begriff des „Geistes“ aufnahm; Pierre Bourdieu wiederum schließt ihn als Vetreter des ‚revolutionären Konservatismus‘ vom Nationalsozialismus aus, als handle es sich hier wie überall um eine Frage des Milieus. Solche Versuche können sich stets auf bestimmte Momente des Heideggerschen Denkens berufen, worin sich der Philosoph tatsächlich vom Nationalsozialismus abhob – aber in genau jenem Sinn, in dem der Take off Nachkriegsdeutschlands bereits inmitten Hitlerdeutschlands stattfand. Wer Heidegger liest, kann sich ja wirklich dem Eindruck kaum entziehen, daß dieser Philosoph von Anfang an über den Nationalsozialismus hinaus gedacht hat - insofern er nämlich nicht nur wie die gewöhnlichen Nazis vom Endsieg träumt als der Erlösung und endgültigen Erringung von Macht und Wohlstand für die Deutschen, sondern dieses Wunschdenken auf einer eigens geschaffenen Abstraktionsebene abbildet, wo sich die Krisenbewältigung des Nationalsozialismus als Ontologie abzeichnet: Arbeit und Kampf für diesen Staat heißt, der Übermacht des Seienden zu wehren, um dem Sein gerecht zu werden; heißt, der Überproduktion von Gebrauchswerten und dem Überschuß an Arbeitskräften Vernichtung und Krieg entgegensetzen.

In den Vorlesungen zur Einführung in die Metaphysik von 1935 steht zu lesen: „Rußland und Amerika sind beide, metaphysisch gesehen, dasselbe; dieselbe trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen.“ Die bedrohlichen Aspekte der abstrakten Seite der Warenproduktion, der Verwertung des Werts und der industriellen Massenproduktion, werden zwar nicht personifiziert im Judentum, aber projiziert auf Amerika und Rußland. Heideggers Philosophie gelingt es immer präziser, jene Aufgaben zu erfüllen, die sonst dem Antisemitismus zukommen: „Die vorherrschende Dimension wurde die der Ausdehnung und der Zahl (...) All dieses steigerte sich dann in Amerika und Rußland in das maßlose Und-so-weiter des Immergleichen und Gleichgültigen soweit, bis dieses Quantitative in eine eigene Qualität umschlug.“ Nunmehr sei also „dort die Vorherrschaft eines Durchschnitts des Gleichgültigen nicht mehr etwas Belangloses und lediglich Ödes, sondern das Andrängen von Solchem, was angreifend jeden Rang und jedes welthaft Geistige zerstört und als Lüge ausgibt. Das ist der Andrang von jenem, was wir das Dämonische (im Sinne des zerstörerisch Bösartigen) nennen.“

Hier ist Heidegger ganz nahe an der antisemitischen Personifizierung - Richard Wagner etwa sprach von ‚dem Juden‘ als dem „plastischen Dämon des Verfalls der Menschheit“, Carl Schmitt vom „Dämon der Entartung“, Alfred Rosenberg vom „Dämon des ewigen Verneinens“. Aber auch hier weicht Heidegger doch der eindeutigen Identifizierung aus und beschwört stattdessen die Identität, die diesem Dämonischen den Garaus bereiten soll: „Wir liegen in der Zange. Unser Volk erfährt als in der Mitte stehend den schärfsten Zangendruck, das nachbarreichste Volk und so das gefährdetste Volk und in all dem das metaphysische Volk.“

Diese Ontologie des Vernichtungskriegs verstärkte sich in den letzten Jahren des Dritten Reichs – je aussichtsloser die Situation für den Staat wurde, desto größer die Hoffnung auf die Mächte des Seins: so wurde Heidegger zum Durchhaltephilosophen par excellence. „Wir wissen heute, daß die angelsächsische Welt des Amerikanismus entschlossen ist, Europa, und d.h. die Heimat, und d.h. den Anfang des Abendländischen, zu vernichten. (...) Was immer und wie immer das äußere Geschick des Abendlandes gefügt werden mag, die größte und eigentliche Prüfung der Deutschen steht noch bevor, jene Prüfung, in der sie vielleicht von den Nichtwissenden gegen deren Willen geprüft werden, ob sie, die Deutschen, im Einvernehmen sind mit der Wahrheit des Seyns, ob sie über die Bereitschaft zum Tode hinaus stark genug sind, gegen die Kleingeisterei der modernen Welt das Anfängliche in seine unscheinbare Zier zu retten (...) Das Wesen des Menschen ist aus den Fugen. Nur von den Deutschen kann, gesetzt, daß sie ‚das Deutsche‘ finden und wahren, die weltgeschichtliche Besinnung kommen. Das ist nicht Anmaßung, wohl aber ist es das Wissen von der Notwendigkeit des Austrages einer anfänglichen Not.“

Im Dezember 1944 - auf der Flucht aus dem zerbombten und von den Alliierten ‚bedrohten‘ Freiburg - schrieb Martin Heidegger ins Gästebuch eines Freundes: „Anderes denn ein Verenden ist das Untergehen. Jeder Untergang bleibt geborgen in den Aufgang.“ So bleibt Heidegger Hitler treu bis zuletzt – und doch befindet sich sein Denken schon wieder im Vorlauf. Es ist nicht nur die diskrete Philosophie des Nationalsozialismus, sonderen ebenso die aparte des Postfaschismus.

Diese Doppeldeutigkeit seiner Philosophie bezeichnete Heidegger selbst als „Kehre“. In dem Aufsatz über „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘“ von 1943 sind nun wirklich bereits die Weichen für die Nachkriegsphilosophie gestellt. Während er zur selben Zeit in den eben zitierten Vorlesungen über Heraklit von 1943/44 noch auf den Endsieg hoffte - darauf, daß die Deutschen im Einvernehmen mit der Wahrheit des Seins wären -, heißt es hier, wo Nietzsche als eine Art Chiffre für Hitler fungiert, „jeder Weg zur Erfahrung des Seins“ sei „ausgelöscht“: „Mit dem Sein ist es nichts.“ Das ist die Enttäuschung über die sich abzeichnende Niederlage Deutschlands. Aber Heidegger weiß daraus eben Nutzen zu ziehen: Dem nationalsozialistischen Deutschland wird es plötzlich als Verdienst angerechnet, das Zeitalter der Subjektivität, des Nihilismus vollendet und damit dessen Überwindung, die Überwindung der Seinsvergessenheit, als Möglichkeit gerettet zu haben. Hier sieht er nun auf einmal die Bedeutung Nietzsches und wie sich aus seinen aktuellen Anspielungen erkennen läßt: Hitlers. Deren Umwertung der Werte, deren theoretischer und praktischer Nihilismus verharre selbst noch innerhalb der Metaphysik, und demonstriere, daß in ihr die Wahrheit des Seins ausbleibe. Gerade darin aber könnte – in der nachträglichen Legitimation des Vernichtungskriegs - das Einvernehmen mit der Wahrheit des Seins bestehen: sichtbar gemacht zu haben, daß sie ausbleibe. Indem der bereits postfaschistische Philosoph statt auf sichtbare Werte auf das verborgene Sein sich bezieht, statt der Werte des Gebrauchs und der Moral (des Humanismus!) also den Wert - das Jenseits des Gebrauchs und der Moral (des Humanismus) - beschwört, ist er der deutschen Gesellschaft abermals ein Stück voraus.

Wenn die Wahrheit des Seins ausbleibt, so heißt es nicht, daß es sie nicht gibt, ganz im Gegenteil - aber die Subjektivität rückt in ein anderes Verhältnis zu ihr: „Mit dem Beginn des Kampfes um die Erdherrschaft treibt das Zeitalter der Subjektivität in seine Vollendung. Zu ihr gehört, daß das Seiende, das im Sinne des Willens zur Macht ist, seiner eigenen Wahrheit über sich selbst nach seiner Weise in jeder Hinsicht gewiß und deshalb auch bewußt wird.“ Damit „entzieht“ sich aber das Sein selbst „in seine Wahrheit. Es birgt sich in diese und verbirgt sich selbst in solchem Bergen.“ Aus dem Vernichtungskrieg geht ein Dasein hervor, das sich des Stellenwerts gegenüber dem Sein vollkommen bewußt werden kann: der Mensch ist nur mehr dazu ausersehen zu hüten, was er nach wie vor weder begreifen noch kritisieren kann, er ist „Hirte des Seins“. Die Götterdämmerung mündet in ein Hirtenspiel, damit der Vernichtung weiterhin Sinn zuteil werden kann.

Es gibt keinen Bruch in Heideggers Entwicklung, sondern einen ständigen Integrationsprozeß: jede Erfahrung, die der Philosoph machen könnte, wird sofort dem ontologischen Wahngebilde integriert und bedingt eine Art Verschiebung in der Konstellation von Dasein, Seiendem und Sein. Vor allem aber macht sich nun bezahlt, daß Heidegger sein Abstraktionsniveau nie verlassen und auf die Personifizierung des real Abstrakten im Judentum so gut wie verzichtet hat. So kann er seine Vorstellungen von Amerika und Rußland weitgehend unbeschadet und nahezu unzensiert in die Nachkriegszeit retten. Im Briefwechsel mit Herbert Marcuse ist es ihm ein Leichtes, das Schicksal der Juden vor 1945 einfach mit dem der Ostdeuschen nach 1945 gleichzusetzen und auszutauschen. Heidegger hat damit das Geheimnis der Totalitarismustheorie begriffen, ohne sie (wie von seiner Schülerin Hannah Arendt gedacht) gegen das nationalsozialistische Deutschland wenden zu müssen: „Zu den schweren berechtigten Vorwürfen, die Sie aussprechen ‚über ein Regime, das Millionen von Juden umgebracht hat, das den Terror zum Normalzustand gemacht hat und alles, was je wirklich mit dem Begriff Geist und Freiheit u. Wahrheit verbunden war, in sein Gegenteil verkehrt hat‘, kann ich nur hinzufügen, daß statt ‚Juden‘ ‚Ostdeutsche‘ zu stehen hat und dann genauso gilt für einen der Alliierten, mit dem Unterschied, daß alles, was seit 1945 geschieht, der Weltöffentlichkeit bekannt ist, während der blutige Terror der Nazis vor dem deutschen Volk tatsächlich geheimgehalten worden ist.“

Was nun als deutsches Volk verstanden wird, ist förmlich dadurch bestimmt, gleichermaßen Opfer der Nazis wie Opfer der Alliierten zu sein. Heidegger ist zweifellos der geeignete Mann, die Deutschen auf diese Weise zu exkulpieren, hat er doch immer schon die deutsche Volksgemeinschaft, der jedes Opfer zu bringen sei, beschworen und ebenso hartnäckig über das Schicksal jener geschwiegen, deren Vernichtung die Voraussetzung von Volksgemeinschaft ist.

Hannah Arendt meint, daß Heideggers Wendung vom Macht-Willen zu „neuer Gelassenheit“ und „paradoxem ‚Willen zum Nichtwollen‘“, von der Entschlossenheit des Daseins zur „Heiterkeit des ‚Seinlassens‘“, stimmungsmäßig „die Niederlage Deutschlands“ ausdrücke. Sie selbst aber konnte diese Kehre nicht akzeptieren, da sie doch in der Demokratisierung von Sein und Zeit, in der Umstellung des Seins zum Tode auf das „Herstellen“ und „Handeln“ für die Demokratie, den Sinn ihrer Philosophie erblickte. So mußte Hannah Arendt, als sie die späten Werke Heideggers las, von dem schockiert sein, was zur selben Zeit Michel Foucault und Jacques Derrida an Heidegger zu faszinieren begann: daß der Mensch eben lediglich als ein Effekt des Seins zu begreifen wäre.

In den sechziger und siebziger Jahren werden unter dem alten Begriff der Seinsvergessenheit („die sich heute bis ins Äußerste steigert“) die Bedrohungen durch das „Informationszeitalter“ mobilisiert - „die Macht des Wesens der Technik“. Inmitten des Wirtschaftswunders und an dessen Ende triumphierend bleibt Heidegger damit bei seiner Sache: die Krise deutsch denkend. Ja, sein Denken ist nach wie vor im Kern faschistisch: denn wenn Heidegger gegen die Technik im Namen des Seins auftritt, dann denkt er den Wert - aber gegen das Wertgesetz, so wie der NS-Staat das Kapital zu seiner Sache machte, indem er der unmittelbaren kapitalistischen Rationalität zuwider handelte.

Wird die Welt auch „immer düsterer“, ist Europa auch „nur noch ein Name“, sieht der Oberhirte des Seins „trotz gesteigerter äußerer Bedrohung in allem eine Ankunft“ und bekennt sich bis zuletzt zum „Angriffscharakter“ seiner Philosophie. Ungebrochen ist dabei der Bezug aufs Abendland und dessen Kern: Deutschland - sie werden „weltgeschichtlich aus der Nähe zum Ursprung“ begriffen. „Das ‚Deutsche‘ ist nicht der Welt gesagt, damit sie am deutschen Wesen genese, sondern es ist den Deutschen gesagt, damit sie aus der geschickhaften Zugehörigkeit zu den Völkern mit diesen weltgeschichtlich werden.“ Aber das ist nicht die Kinderhymne von Brecht, sondern nach wie vor das Deutschlandlied von Heidegger, denn weltgeschichtlich heißt Nähe zum Ursprung: „Die Heimat dieses geschichtlichen Wohnens ist die Nähe zum Sein.“ Deutschland, Deutschland am nächsten zum Sein.

Die Gelassenheit, die Heiterkeit des Seinlassens, die Arendt als Ausdruck der Niederlage Deutschlands interpretiert hat, entpuppt sich als das Gegenteil: Vertrauen auf seinen Triumph. Und die Kehre, die Heidegger vollzogen hat, bedeutet zwar eine Abwendung von der Subjektivität, von der Möglichkeit des Eingriffs durch den Staat, sie ändert jedoch nichts an der Nähe zum Nationalsozialismus.

Take off 2: Das deutsche Wirtschaftswunder

Das Wirtschaftswunder, das den Verlierern des Zweiten Weltkriegs, soweit sie auf der richtigen Seite des ehemaligen Dritten Reichs lebten, einen nie gekannten Reichtum bescherte, ist also keineswegs nach den Vorstellungen des nationalsozialistischen Erlösungswahns realisiert worden - und gab ihm dennoch recht: Hinter dem Rücken der Beteiligten hatte sich im bewußt geplanten Krieg die weltweite Krise des Kapitals ‚von selbst‘ erledigt. Der deutsche Wahn, die Krise durch Vernichtung zu bewältigen, wurde damit ungewollt, d.h. nicht von den Siegern des Kriegs, sondern vom automatischen Subjekt des Kapitals, bestätigt - und das in einem bisher unbekannten Ausmaß. Die Anerkennung blieb, der Fetischform dieses ‚Subjekts‘ gemäß, anonym; weder Sieger noch Besiegte haben offen ausgesprochen, daß der Reichtum des Nachkriegsbooms, der die Stabilität der politischen Ordnung einschloß, nicht ein Geschenk des Himmels oder die Frucht der Arbeit, sondern ein Resultat von Vernichtungskrieg und Massenmord war. Nur dort, wo der deutsche Wahn weiterwucherte, in den Herzen der Besiegten, brach sich dieses Verdrängte plötzlich Bahn: „Wenn das der Hitler noch erlebt hätt’!“

Der Nachkriegsaufschwung, die erstaunliche Regenerationsfähigkeit der westdeutschen und österreichischen Gesellschaft und die eminente Akkumulationsfähigkeit ihres Kapitals beruhten zunächst auf der Beute, die man im Zweiten Weltkrieg und im Massenmord an den Juden gemacht hatte, ebenso wie auf der Zwangs- und Sklavenarbeit, die vom Dritten Reich in diesem Zusammenhang organisiert worden war. Mit dieser Beute konnten - ganz anders als nach dem Ersten Weltkrieg - in der Währungsreform von 1948 die übriggebliebenen Schulden des Dritten Reichs gegengerechnet werden. Die deutsche Bevölkerung verlor dabei angeblich noch immer neun Zehntel ihrer Ersparnisse, der große Gewinn sprang jedoch dadurch (auch für sie) heraus, daß das industrielle Sachvermögen zum vollen Wert in die DM-Eröffnungsbilanz eingesetzt werden konnte. Und dieses Sachvermögen war durch den einzigartigen Investitionsschub des Nationalsozialismus, durch Aufrüstung und Krieg, beträchtlich gesteigert worden.

Mit diesem Investitionsschub war auch eine ungemein erfolgreiche Bildungsoffensive des Nationalsozialismus einhergegangen, die in Zusammenhang mit dem Ausbau des Sozialstaats (Ehestandsdarlehen, Kindergeld, Gesundheitsfürsorge, Altersversicherung...) eine breite Schicht von Facharbeitern hervorgebracht hatte. Sie ermöglichte zunächst unter den besonderen Bedingungen des deutschen Angriffskriegs einerseits Rationalisierung der Produktion und andererseits Zwangsarbeit auf hoher technologischer Grundlage - und bald nach der Niederlage schließlich den wirtschaftlichen Aufschwung. Mit dem „System Speer“ im Rüstungsministerium kam ein neuer Typus von Wirtschaftsführer hinzu: der des „jungen, selbstverantwortlich handelnden Managers (...) (‚Speers Kindergarten‘), der auch in der Zeit des Wiederaufbaus nach 1945 weitgehend auf seinem Posten blieb.“ Es ist allgemein bekannt, daß die Bundesrepublik Deutschland beim Wiederaufbau in hohem Maße auf die alten Funktionseliten, die schon dem NS-Regime gedient hatten, zurückgriff; weniger bekannt ist, daß sie als homogene Arbeitsgesellschaft – d.h. als Einheit von Eliten, Angestellten und Arbeitern - nur darum so gut funktionierte, weil ihr die Volksgemeinschaft zugrunde lag. Denn die nationalsozialistische Verbesserung der Bildungschancen ist nicht von dem Interesse zu trennen, die Klassengesellschaft als Volksgemeinschaft, den Obrigkeitsstaat als Volksstaat zu realisieren.

Wenn der Nationalsozialismus, wie Horkheimer sagt, die Krise für die Dauer des ewigen Deutschlands hypostasierte, konnte davon die Nachkriegsentwicklung den größten Nutzen ziehen: sie gehört eben auch dem verewigten Deutschland an. Der Raub von Rohstoffen, Gold und Lebensmittel in kaum berechenbarem Ausmaß und der Einsatz von sechs Millionen Zwangsarbeitern, zwei Millionen Kriegsgefangenen und über einer Million KZ-Häftlingen waren die Voraussetzung dafür, daß Deutschland sich nach 1945 weiter modernisieren konnte. Vorbereitung und Durchführung des Vernichtungskriegs legten das Fundament für den Nachkriegsboom.

Gerade auf dem Höhepunkt und in der Endphase des Kriegs, unter dem wachsenden Druck der drohenden Niederlage mit dem totalen Feindbild der „Weltverschwörung des Judentums“ vor Augen - das zur selben Zeit in den Vernichtungslagern in die Tat umgesetzt den Druck der drohenden Niederlage nur noch steigerte - unter den Bedingungen also des totalen Vernichtungskriegs setzte die deutsche Industrie und die deutsche Arbeitsgesellschaft ihre entscheidenden innovativen Kräfte frei und realisierte die für die Nachkriegsentwicklung ausschlaggebende Rationalisierung (die vor dem Krieg noch durch unproduktive Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gebremst worden war).

Ab 1942 - zeitgleich mit der Massenvernichtung der Juden - setzten diese Umstruktierungen voll ein. Die Arbeitsproduktivität in der Rüstungsindustrie stieg derart, „daß dort 1944 der Pro-Kopf-Ausstoß eines Arbeiters mindestens 60 Prozent über dem Niveau von 1939 lag“ . Der Überschuß an Facharbeitern, der durch die Bildungsoffensive zustande gekommen war, konnte fortlaufend durch Fremd- und Zwangsarbeiter ausgeglichen werden. Der Kapitalstock verjüngte sich ganz erheblich: 55 Prozent der Anlagen, im Bereich der Produktionsgüterindustrie zwei Drittel, waren jünger als zehn Jahre. Die Göringwerke (später Salzgitter und Voest-Alpine genannt) und die Volkswagenwerke (für die eine ganze neue Stadt aus dem Boden gestampft wurde) waren nur die Spitze eines Eisbergs, denn die größten der bereits existierenden Industriebetriebe erreichten im Krieg neue Rekorde an Produktionssteigerung: Krupp konnte den Jahresumsatz mit Rüstung von 1933 verzwanzigfachen, Daimler-Benz verzehnfachen – und die Gewinne wurden, abgesehen von einem geringen Teil, nicht von den Herren Kapitalisten verpraßt, sondern neu in die Industrie der Volksgemeinschaft investiert. „Der Stand des Bruttoanlagevermögens bei Kriegsende (1945) lag um fast 21 Prozent über dem Stand von 1936 (...) Also hat der Umfang der Investitionen die Bomben und andere Kriegsschäden bei weitem aufgewogen. Deutschland stand am Ende des Krieges tatsächlich mit einem stärkeren industriellen Potential da als bei Kriegsbeginn (...) Die untersuchten Fakten der deutschen Kriegskonjunktur drückten der Nachkriegsgeschichte ihren Stempel auf. Sie entkleiden das westdeutsche ‚Wirtschaftswunder‘ der ‚freien Marktwirtschaft‘ allen mirakelhaften Scheins.“ Mit der Bezeichnung Wirtschaftswunder traf die Nachkriegsöffentlichkeit allerdings ganz spontan die richtige Wortwahl, die jene Kontinuität nur bestätigte: bereits in den dreißiger Jahren war verschiedentlich die Rede vom „deutschen Wirtschaftswunder“, um die deutsche Rüstungskonjunktur zu beschreiben.

Schon ab Herbst 1943 hatten die großen Unternehmen überall im Dritten Reich eine Exportoffensive gestartet, um Vermögen und Produktionskapazitäten in neutrale Länder (Schweiz, Spanien ...) auszulagern. Karl Heinz Roth spricht von einer „wilden Nachkriegsplanung“ des Kapitals: „Was aus heutiger Sicht nicht nur skrupellos und zynisch, sondern auch konfus und widersprüchlich wirkt, wurde von den damaligen Wirtschaftsakteuren offensichtlich komplementär verstanden. Sie wollten einerseits die ‚Festung Europa‘ so effizient und so lange wie nur möglich verteidigen, andererseits klammerten sie sich durch die vorweggenommene Exportoffensive in den Wirtschaftsstrukturen der neutralen Länder so fest, daß die künftigen Sieger zu einer europäischen Nachkriegspolitik ohne wesentliche deutsche Beteiligung nur um den Preis radikaler struktureller Eingriffe auch in den neutral gebliebenen Ländern in der Lage waren. (...) Für die Verwirklichung beider Varianten gab es genügend ausländische Partner, die zur Kollaboration bereit waren, weil sie sich eine europäische Nachkriegsperspektive ohne das Wirtschaftspotential der Deutschen nicht vorstellen konnten.“ Auf welchen Grundlagen die günstige Ausgangsposition Deutschlands und Österreichs im Nachkrieg ruht, wird unmittelbar an den letzten Maßnahmen deutlich, die im Dritten Reich zur Sicherung der industriellen Anlagen getroffen wurden: Die Verlagerung dieser Kapazitäten unter die Erde und in Bunkerbauten „konnte nur funktionieren, indem die Arbeitskraft von KZ-Häftlingen bis in die letzten Kriegswochen rücksichtslos ausgebeutet wurde. Tausende von ihnen mußten sterben, damit die Werksleitungen möglichst große Anteile der in der Rüstungskonjunktur akkumulierten Anlagen, Fertigungsstraßen und Vorrichtungen über den Krieg hinaus retteten.“

Die gewaltigen Zerstörungen des Kriegs aber sorgten ihrerseits für die nötige Nachfrage nach Waren und Arbeitskraft, damit diese Anlagen, Fertigungsstraßen und Vorrichtungen wieder profitabel arbeiten konnten, deren Potential überhaupt wirksam wurde und die Arbeitsgesellschaft kontinuierlich funktionieren ließ. Der Krieg hat das Terrain von Mehrwertproduktion und -realisierung bereinigt, unabsehbare Absatzgebiete für die Waren - einschließlich der Arbeitskraft - geschaffen, die Kaufkraft der Massen im großen Maßstab aufgestaut und die „günstigste Konstellation“ der Alterszusammensetzung und des „Gütegrads“ der industriellen Anlagevermögens hergestellt, so daß also die von den Nationalsozialisten in Gang gesetzte Modernisierung in Deutschland - nach einer kurzen Übergangsphase - weiter voranschreiten konnte. Der Krieg hat schließlich auch das Wunder vollbracht und die Volksgemeinschaft von ihren Schulden befreit.

Wenn jedoch irgendein ehemaliger Leiter von Görings und Speers Staatsapparaten seinen Lebenserinnerungen den Titel „Krisenmanager im Dritten Reich“ gegeben hat, so scheinen manche Zeithistoriker solchen Memoirendreck allzu wörtlich zu nehmen. Götz Aly und Susanne Heim etwa stellen den Nationalsozialismus vor allem als Werk bewußt geplanter Modernisierung, als Sache des Managements dar. Die eigentliche Krisenbewältigung, die der Nationalsozialismus ins Werk gesetzt hat, wird dabei verfehlt, die antisemitische Ideologie nur noch als „Hilfsmittel“ begriffen, um Rationalisierungen möglichst rasch und großräumig durchzusetzen. Wer den Nationalsozialismus mit der Rationalität von Mittel und Zweck zu fassen sucht, blendet aber notwendig aus, was der Antisemitismus als Projektion für die Durchsetzung der Identität des Ganzen leistet. Und das wäre auch der einzige Krisenbegriff, der dem Antisemitismus gewachsen ist: die Krise als eine Konstellation, worin die Identität des Ganzen sich gewaltsam geltend macht. Die antisemitische Projektion muß demnach immer auf die Totalität bezogen sein; sie kann nicht kausal aus einem einzelnen sozialen Vorgang – etwa der Enteignung der Kleineigentümer – abgeleitet werden, in diesem bestimmten Sinn ist Antisemitismus unerklärlich, so unerklärlich wie die Totalität selbst.

Wenn also Daniel Goldhagen den Antisemitismus als „kognitives Modell“ völlig unabhängig von der Modernisierung durch Vernichtung analysiert, stellt er immerhin diese Rationalität von Mittel und Zweck in Frage und löst das antisemitische Phänomen prinzipiell aus der Mittel-Funktion, die immer nur dazu dient, es zu verharmlosen. Allerdings wird der Antisemitismus der Deutschen damit zu etwas spezifisch Irrationalem, das seinserseits völlig unabhängig vom Zusammenhang des Ganzen betrachtet werden kann.

Die merkwürdig existentialistisch klingende Frage Theodor W. Adornos, ob es sich nach Auschwitz noch leben lasse, kommt dabei dem gesellschaftlichen Zusammenhang von Menschenvernichtung und Volkswohlstand wesentlich näher, ohne ihn zu rationalisieren. Das hat Adorno selbst in seinen Vorlesungen zur Metaphysik erläutert, wenn er sagt, man könne sich sehr schwer nur dem Gefühl entziehen, „daß man eigentlich bereits dadurch, daß man weiterlebt, gewissermaßen einem anderen, dem das Leben versagt worden ist, die Möglichkeit wegnimmt, ihm das Leben stiehlt; so wie wenn eine Gesellschaft, die in ihrer absurden Gestalt heute zwar nicht die Arbeit, wohl aber die Menschen überflüssig gemacht hat, gewissermaßen eine Rate, einen Prozentsatz, einen statistischen Prozentsatz von Menschen vorbestimmt, dessen sie sich entledigen muß, um in ihren schlechten bestehenden Formen weiterleben zu können. Und wenn man dann weiterlebt, dann hat man gewissermaßen das statistische Glück gehabt, das auf Kosten eben derer ging, die in den Vernichtungsmechanismus hineingeraten sind und, wie man fürchten muß, noch hineingeraten werden. Die Schuld reproduziert sich in jedem von uns - und ich rede nun wirklich mehr auf das Subjekt gewandt - deshalb, weil wir unmöglich dieses Zusammenhangs in jedem Augenblick unseres wachen Lebens ganz gewärtig sein können. Wenn wir: jeder von uns, die wir hier zusammen sitzen, in jedem Augenblick wüßten, was da geschehen ist und welchen Verkettungen wir auch unsere eigene Existenz verdanken und wie unsere eigene Existenz verflochten ist mit dem Unheil, selbst wenn man nichts Schlimmes getan hat, etwa nur dadurch, daß man es aus Angst versäumt hat, im rechten Augenblick anderen Menschen entscheidend zu helfen, und das ist eine mir sehr vertraute Situation aus der Zeit des Dritten Reichs, - daß man, wenn einem all diese Dinge in jedem Augenblick ganz gewärtig wären, daß man dann wirklich überhaupt nicht leben könnte; daß man gewissermaßen gedrängt wird, gestoßen wird auf jenes Vergessen, das selbst bereits etwas Schuldhaftes hat und das dadurch, daß man sich des Drohenden und des Geschehenen nicht in jedem Augenblick bewußt ist, zugleich auch dazu beiträgt, daß man zu wenig widersteht und daß es in jedem Augenblick sich wiederholen und sich wiederherstellen kann.“

Volksgemeinschaft vor Ort

Das Wissen, den Massenmord begangen, mitbegangen oder ihm aus nächster Nähe einfach zugesehen zu haben, dieses Wissen konstituierte die Volksgemeinschaft in neuer Weise. Es handelt sich um eine sekundäre insofern, als ihr jener Volksstaat fehlte, der die ursprüngliche konstituiert hatte: der Staat der Vernichtung, dem auch die individuelle Reproduktion der Arbeitskraft in Obhut gegeben war. Ihn hatten die Allierten zerstört: einerseits stoppte man die Vernichtungsmaschinerie und verfolgte einige Täter, der Massenmord wurde damit zum Verbrechen der Vergangenheit, das eine neue Art heimlicher, verschworener Gemeinschaft von Mördern und Mitwissern stiftete; andererseits setzte man in den beiden westlichen Nachfolgestaaten des Dritten Reichs (im östlichen mit 40 Jahren Verspätung) den Markt in seine alten Rechte ein und privatisierte die individuelle Reproduktion. Die Individuen wurden sich wieder ihrer Eigenschaft als Eigentümer der Ware Arbeitskraft bewußt, aber nach dieser Ware bestand nun eine gewaltige Nachfrage. Das hat sich inzwischen etwas geändert – aber nicht nur das.

Sollte unter diesen geänderten Bedingungen erneut der Zusammenhang von Vernichtung und Reichtumsproduktion akut werden – dann können die Formen, die er annimmt und worin die Wiederkehr der Deutschen in der Krise erfolgt, nicht mehr dieselben sein wie im NS-Staat: wie im Äußeren anstelle der Massenheere Eingreiftruppen mit High-Tech-Gerät mobil gemacht werden, formiert sich im Inneren statt des breiten Organisationsspektrums der Nazis die schlanke Volksgemeinschaft der flexibel gewordenen Deutschen.

Ihr Wahn aber bleibt sich treu. Was an sich als Auflösung fordistischer Arbeitsverhältnisse bejaht („Jobwunder“), hingenommen oder kritisiert werden kann, ruft in der sekundären Volksgemeinschaft automatisch Sehnsucht nach der ursprünglichen hervor - als der Staatsbürger alles war und der Warencharakter der Arbeitskraft in ihm verschwand. Bewußt oder unbewußt ist der Nationalsozialismus der Referenzpunkt der Demokratie geworden, und Jörg Haider hat nur ausgesprochen, was viele – niemand weiß wieviele – insgeheim oder offen meinen: „Im Dritten Reich haben sie ordentliche Beschäftigungspolitik gemacht ...“

Der Referenzpunkt kann allerdings nicht mehr erreicht werden; er erscheint vielmehr als archimedischer Punkt. In dieser Hinsicht sind die sogenannten Ewiggestrigen dazu verdammt, Ewigmorgige zu bleiben. Denn die ordentliche Beschäftigungspolitik wird niemand machen können. Die Individuen sind als Geldmonaden und Arbeitskraftbesitzer zu sehr vereinzelt, die Staaten als Standorte und Märkte zu sehr verflochten. Wer sollte also den Arbeitern die Sorge um den Verkauf ihrer einzigen Ware abnehmen? Welcher Staat wäre in der Lage, Arbeits- und Kaufkraft seiner Bevölkerung zu verstaatlichen, Lohn- und Preisstops durchzusetzen und mit dem Wechsel auf künftige Beutezüge ein Arbeitsbeschaffungsprogramm zu finanzieren?

Da der Staat nicht imstande ist, die Individuen der Sorge um den Verkauf ihrer Ware Arbeitskraft zu entheben, die Gesellschaft sie vielmehr auffordert, als Unternehmer ihrer Arbeitskraft auf deregulierten Arbeitsmärkten aktiv zu werden und als (Klein)Anleger ihre Altersversorgung auf den Finanzmärkten zu sichern, sieht sich jedes einzelne vereinzelte vor die Aufgabe gestellt, auch die Krisenbewältigung zu übernehmen, die der Staat einst en bloc besorgte; in sich selbst und für sich selbst zu tun, was der faschistische und nationalsozialistische Staat für alle gemeinsam tat: Jeder sein eigenes „Staatssubjekt Kapital“ (- mit diesem Begriff hatte einmal Heinz Langerhans die mit dem NS-Staat anbrechende Ära bezeichnet).

Was nun also hinzukommt, ist die Privatisierung der Volksgemeinschaft, die Vereinzelung des Volksgenossen. Werden doch die Staatsbürger nun en detail zu jenem Konsum motiviert, den einst für sie der Staat en gros besorgte. Es verschwindet damit etwa nicht das Objekt völkischer Identifikation: die Führerfigur. Sie ist nur anders vermittelt: weniger durch die bürokratischen Apparate des Staats, als durch die marktförmigen Kanäle der Medien. Der neue Führer-Typus dieser atomisierten Volksgemeinschaft begreift sich nicht umsonst als Gegenpol zu Partei- und Staatsbürokratie. Er beansprucht ein unmittelbares Verhältnis zum ‚Volk‘, zu den ‚Bürgern‘, engagiert sich permanent für Volksbefragungen und andere plebiszitäre Formen der Politik und zeigt durch fortwährendes Grinsen und pointiertes Zuzwinkern, daß er mit dem Volk auf Du und Du steht. Er vermag die direkte Demokratie gegen die Mechanismen der formalen nur darum zu mobilisieren, weil die Medien dafür den Boden bereiten - einerlei, ob diese ihm nun „kritisch“ oder apologetisch gegenüberstehen. Durch die Warenform, die jede politische Information annimmt, durch die Degradierung des Politischen zum Anhängsel eines allumfassenden Reklamebetriebs, wird sukzessive jene Distanz des Politischen zurückgenommen, die einstmals in Form von Parlament, Ausschüssen, Parteiapparaten und anderen zwischen Bevölkerung und Exekutive geschalteten Institutionen hergestellt worden ist - eine Distanz, die es immer wieder auch erlaubt hat, gewisse Maßnahmen erziehungsdiktatorischer Art zu treffen. Repräsentative Demokratie in ursprünglicher Gestalt setzt jedenfalls eine relative Autonomie von Parlament, Ausschüssen und Parteien voraus, die eben durch jene Kapitalisierung politischer Information schrittweise liquidiert wird.

Die Macht, die solchermaßen vom ‚Volk‘ ausgeht, hat die Distanz zum Staat verloren und darum immer nur den eigenen Staat im Sinn. Wozu der Nationalsozialismus mittels Verstaatlichung die Grundlagen geschaffen hat, wird nun durch Kapitalisierung eingelöst: Das Volk ist eine nach den Schlachtplänen des Staats schon vorformatierte Bevölkerung, aber es ist umso mehr Volk, je mehr es den Souverän verinnerlicht, Staat und Kapital in sich bereits versöhnt hat.

Nichts anderes als die Privatisierung der Volksgemeinschaft meint ja auch der plötzlich beliebt gewordene Begriff der „Zivilgesellschaft“, auf den die Gegner der Neonazis sich einschwören, ohne zu bemerken, daß sie damit in der Form bejahen, was sie inhaltlich bekämpfen wollen. Ein Satz aus Haiders Public Relations bringt all das auf den Punkt: „Keine Verstaatlichung des Menschen, sondern eine Vermenschlichung des Staates“. Doch der vermenschlichte Staat oder das kapitalisierte Volk zerfällt sofort in zivilgesellschaftliche Banden, politisierende Amokläufer und mitwissende Zuschauer. Soweit es neue rechtsextreme Führer und dementsprechende politische Organisationen gibt, tun sie im Prinzip kaum anderes mehr, als diese volksgemeinschaftlichen Atomteilchen zu beschleunigen; ihr ganzes ideologisches Auftreten scheint weniger davon bestimmt, das voneinander Abgekapselte zu vereinen zu einer großen homogenen staatstragenden Massenpartei, als es in Gestalt lauter kleiner, irrsinnig und irregulär agierender, rassistischer Gruppen, Einzeltäter und Sympathisanten zu akzelerieren.

Die postfaschistische Demokratie hat damnach zwar die alten Vermittlungen der Form nach wieder hergestellt – aber die Form selbst bleibt unrealisiert. Der einzelne Warenhüter weiß seit dem Vernichtungsstaat des Nationalsozialismus von der Möglichkeit einer Aufhebung der Vermittlung, einer anderen Identität. Vor ihr graut es ihm und doch fühlt er sich zu ihr unwiderstehlich hingezogen, da sie ihn von den Gegensätzen erlöst, die er mit seiner Ware in der Hand hält, die er nicht zu handhaben weiß und die ihm unheimlich sind.

Realisiert wird diese Möglichkeit allerdings – jedenfalls vorerst - nur in begrenzten, sogenannten national befreiten Zonen und oft nur in einem bestimmten Alter. Als würde ein Deutscher für sich in seiner individuellen Entwicklung die historische der Nation nachvollziehen: wie der Embryo die evolutionären Stadien in verkürzter Form durchmacht, wandelt er sich regelmäßig vom rechtsextremen Gewalttäter zum gesitteten Familienvater in der Gemeinschaft des Extremismus der Mitte. Von außen zeigen sich diesem Extremismus merkwürdige, exotisch verzerrte Figurationen der eigenen Vergangenheit: die islamistischen Selbstmordattentäter realisieren jeder für sich und relativ unabhängig von den real existierenden Staaten, was einmal das deutsche Volk für alle und mit dem eigenen Staat verwachsen umzusetzen wußte: Vernichtung als Antwort auf die Krise.

Volksgemeinschaft international

Die sogenannten Selbstmord-Attentate fanden bisher in den USA oder Israel statt. In Europa aber und insbesondere in Deutschland ist man mit ihrer Interpretation befaßt: sie werden in moralischer Hinsicht vor allem als „Verzweiflungstaten“; in ästhetischer Hinsicht was New York betrifft auch als etwas „Erhabenes“ – wenn nicht gar als „Gesamtkunstwerk“ - gedeutet. Im Falle des Anschlags auf das World Trade Center wird immer wieder die Frage gestellt, was daran antisemitisch sein könne, schließlich hätten die beiden Türme nicht in Tel Aviv gestanden. Die einen fragen nach Beweisen für den antisemitischen Charakter des Anschlags auf das World Trade Center – die anderen bezweifeln, daß selbst jene Attentate in Israel antisemitisch seien.

Die Annahme, daß die Menschen, die im World Trade Center arbeiteten oder an der Ostküste leben, den Tätern darum als Feinde gelten, weil sie – einer pathischen Projektion zufolge – entweder zum Judentum gehören oder das Judentum unterstützen, ist aber prinzipiell nicht zu widerlegen. Zu fragen wäre, worin oder wodurch Antisemitismus überhaupt beweisbar sein kann, schließlich handelt es sich hier nicht um eine mathematische Gleichung, sondern um eine pathische Projektion. Die Shoa ist ein Resultat; die Menschen, die ermordet wurden, bezeichneten sich selbst als Juden oder wurden von anderen als solche identifiziert. Allein darum, weil das Identifizieren selbst dem wahnhaften Bewußtsein entspringt, ist die Suche nach den Motiven immer mehr als eine detektivische Aktivität; als ideologiekritisches und zugleich psychoanalytisches Verfahren kann sie von einem spekulativen Moment nicht absehen – selbst dort, wo wirklich alles manifest geworden ist. Man denke nur an eine Figur wie Eichmann, bei dem bekanntermaßen von ernsthaften Zeugen (z.B. Hannah Arendt) ernsthaft in Frage gestellt wurde, daß er ein Antisemit gewesen sei, seine Taten mit antisemitischem Bewußtsein verübt habe. Es kommt auf den gesamten Zusammenhang an, aus dem die einzelne Tat resultiert.

Was zunächst herausgearbeitet werden kann, ist ein bestimmtes Verhältnis von Täter, Mittel und Opfer. Die Attentate in Israel und in den USA folgen einer Logik – der nicht gerecht wird, wer bloß von Attentaten oder gar Terrorismus spricht. (Die Bezeichnung Terrorismus ist überhaupt Abstraktion im schlechtesten Sinn: wie geschaffen, um von dem abzusehen, was für die Selbstmord-Massaker konstitutiv ist. Darum ist es für die Feinde Israels ein leichtes, den Spieß umzudrehen und von Staatsterrorismus zu sprechen.) Die verschiedenen Gruppen, die sich der neuen Form der Gewalt bedienen, mögen im einzelnen durchaus unterschiedliche Ziele haben. Das Ziel, das sich allein aus dem Mittel ergibt, ist aber immer dasselbe: möglichst viele Menschen zu vernichten – und da die Attentate in Israel und in den USA stattfinden und für Synagogen in aller Welt geplant werden: möglichst viele Israelis, US-Amerikaner und Besucher von Synagogen. Das Mittel ist die Botschaft, und wer sich seiner bedient, ist von ihm schon besessen.

Die Logik kann im einzelnen als Fortsetzung des Pogroms mit anderen technischen Mitteln, im ganzen als Privatisierung staatlicher Vernichtungsaktionen betrachtet werden; die Intention wird ohne direkte Verfügung über das Gewaltmonopol des Staates verfolgt – so hat die Aktion selbst den Anschein von Ohnmacht und bietet sich der Deutung als „Verzweiflungstat“ an. (Auch die ‚klassischen‘ Pogrome wurden übrigens stets als Handlungen von desperaten, verschuldeten und hungernden Handwerkern und Bauern gedeutet, wobei die Betonung des verzweifelten Charakters der Taten deren tiefes Einverständnis mit den repressivsten Interessen des Staats verdecken sollte.) Das moderne Selbstmord-Racket braucht auch – von kleinen Sendern und Videoproduktionen abgesehen - kein Propagandaministerium, denn seine Taten sind selbst identisch geworden mit Propaganda und nutzen nach außen die internationalen Medien als Reklameapparat; wie ja auch im übrigen die Palästinenser - soweit sie sich als Volk verhalten, d.h. den Staat verinnerlicht haben - ähnlich wie die Albaner im Kosovo den Maßgaben dieser Medien auf neue und unmittelbare Weise zu entsprechen suchen: sie sprengen z.B. ihre Häuser in die Luft, um den „Vernichtungskrieg“, den die deutsche Öffentlichkeit den Israelis bereits als Vorhaben unterstellt hat, dann auch glaubhaft zu vermitteln.

Selbstmord-Attentäter realisieren also jeder für sich, eingebunden in Gruppen, aber relativ unabhängig von den wirklich existierenden Staaten, was einmal die deutsche Volksgemeinschaft mit dem eigenen Staat vollkommen verwachsen umzusetzen wußte: Vernichtung um jeden Preis als Antwort auf die Krise. Die Voraussetzungen jedoch könnten verschiedener nicht sein - und hier liegt das Wahrheitsmoment jenes von den vernichtenden „Märtyrern“ am eigenen Leib vorgeführten Ausdrucks von Ohnmacht im Vergleich zur totalen Macht des nationalsozialistischen Vernichtungsapparats: auf der einen Seite eine im Ökonomischen einzigartig homogen strukturierte Nation auf dem Sprung zur Weltmacht, mit einem industriellen Potential und einer Produktivität ohnegleichen: Deutschland vor den beiden Weltkriegen – auf der anderen Seite: eine kaum zu überschätzende Heterogenität in und zwischen Staaten, die allesamt außerhalb der Metropolen des Kapitals situiert sind - von denen jedoch einige vor allem aufgrund der Bedeutung der Erdölproduktion ziemlich weit oben, die anderen aber weit unten auf der Stufenleiter des Reichtums stehen. So sehr die gesellschaftliche Lage in den Heimatländern von politischem Islamismus und deutscher Ideologie differiert, so sehr hat sich die Konstellation von Weltmarkt und Nationalstaat überhaupt gewandelt.

Der Schlüssel, der hier Gemeinsamkeit und Differenz kenntlich machen könnte, liegt vermutlich in diesem Begriff des Rackets. Racket bedeutet ursprünglich „Erpresserbande“ ebenso wie „Selbsthilfegruppe“ und „Wohltätigkeitsverein“. Was aber Max Horkheimer (in seinen Aufzeichnungen zur Dialektik der Aufklärung) bewogen hat, den Begriff seinerzeit auf die mit dem Nationalsozialismus anbrechende Ära anzuwenden, ist die Politisierung dieser Bandenstruktur, ihre Legierung mit staatlicher Herrschaft – „als der echte Leviathan“, missing link für die kritische Theorie des Staats: Der Nationalsozialismus, der auf der einen Seite wie ein monolithisch strukturiertes „Staatssubjekt Kapital“ (Heinz Langerhans) erscheint, ein vollkommen integriertes und alles integrierendes Gebilde totaler Durchstaatlichung, enpuppt sich auf der anderen Seite als in sich völlig Zerfallenes, als ein „Unstaat“ und „Chaos“ (Franz Neumann), worin die Rackets in rasenden Konkurrenzkämpfen die Vernichtung vorantreiben.

Im Sucide bombing kulminiert hingegen eine gesellschaftliche Ordnung, in der jene Seite des integrierten Staatssubjekts zur Gänze weggefallen scheint: das macht es den westlichen Ideologen so schwer, den Totalitarismusbegriff weiter anzuwenden wie einst im Kalten Krieg; darum muß George Bush dumpf moralisierend vom Krieg gegen das „Böse“ schwadronieren, wenn er Bin Ladens Al-Qaida-Racket ins Auge faßt (und angesichts von eher disparatet, statt totalitär homogenisierter Strukturen von „Schurkenstaaten“ sprechen). Aber in Wahrheit handelt es sich um eine Art Inversion: was einmal im totalen Staat sich behauptete, ist in den Rackets aufbewahrt: als gemeinsames inhaltliches Telos jeder einzelnen Handlung, die nunmehr aber in privatisiert vereinzelter Form vollzogen wird – sei’s von Hisbollah, Hamas, Al-Qaida oder wie diese NGOs der Vernichtung alle heißen. Soweit sich die Rackets überhaupt zum Gewaltmonopol des Staats zusammenschließen und verallgemeinern können, fehlt ihnen das ökonomische Potential, die Vernichtungsanstrengung als Staat nach außen hin fortzusetzen – und so sieht sich ein solcher Staat darauf reduziert, wieder nur einzelne Rackets zu unterstützen, die außerhalb des eigentlichen Gewaltmonopols, aber in z.T. sehr enger Verbindung mit der Bevölkerung („Wohltätigkeitsverein“!) operieren. Bei einem technischen Standard allerdings, der kleine Massenvernichtungswaffen herzustellen erlaubt, ist dieser doch fundamentale gesellschaftliche Unterschied zum nationalsozialistischen Staat wenig beruhigend. Suicide bombing ist das Furchtbarste in kleinen Dosen. Aber die Dosis kann eben jederzeit erhöht werden. Wie die Shoah nicht auf die industrielle Menschenvernichtung reduziert werden darf (Goldhagens Studie hat darauf nachdrücklich aufmerksam gemacht), so falsch wäre es, prinzipiell davon auszugehen, daß die Wiederholung von Auschwitz in denselben Formen stattfände – und das heißt auch: im selben Zeitraum. Gerade der schleichende Charakter, der dem Vernichtungswahn der Selbstmord-Attentate eignet, verdunkelt alles.

Editorische Anmerkungen

Der Text ist eine Spiegelung von http://www.copyriot.com/sinistra/reading/scheitf1.html