Frantz Fanon
Afrika im Werden
Politische Notizen für eine afrikanische Revolution

01/02  trend online zeitung

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Im März 1960 berief die algerische Befreiungsfront FLN Frantz Fanon zum Botschafter in Accra, Ghana. Während des Aufenthalts in Westafrika sollte er sondieren, ob der bewaffnete Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft in Algerien von südlich der Sahara her zu unterstützen wäre. Seine Perspektive weist darüber hinaus. Fanon geht es um die kontinentale Situation, darum, die isolierten Befreiungskämpfe in einer afrikanischen Revolution zu verbinden. Die folgenden Notizen schrieb er während des Sommers 1960. Sie zeigen Fanon als Autor, der schreibt, um in den vom Kolonialismus verwüsteten Gesellschaften Entwicklungslinien aufzuspüren und nach Möglichkeiten der Befreiung zu fragen.

Afrika in Bewegung bringen, an seiner Organisierung, seiner Umgestaltung nach revolutionären Prinzipien mitarbeiten. An der Bewegung, die Afrika als Kontinent befiehlt, teilnehmen, das war definitiv die Aufgabe, die ich gewählt hatte. Den Ausgangspunkt, die erste Säule stellte Guinea dar. Dann Mali, zu allem entschlossen, inbrünstig und brutal, stellte einen Brückenkopf dar und eröffnete wunderbare Perspektiven. Im Osten stampfte Lumumba vorwärts. Der Kongo, ein weiteres Sprungbrett für revolutionäre Ideen; im Moment aber gefangen in einem schmerzvollen Gewebe unfruchtbarer Widersprüche. Man müsste noch abwarten, bevor man wirksam die kolonialistischen Zitadellen umzingeln könnte, die sich Angola, Mozambique, Kenia und Südafrikanische Union nennen.

Dennoch war schon alles bereit. Aber immer noch belebte das kolonialistische Verteidigungssystem, wenn auch unkoordiniert, die alten partikularistischen Tendenzen und brach den Strom der Befreiung. Im Augenblick galt es, den Kongo zu halten und nach Westen vorzudringen. Für uns Algerier war die Situation sonnenklar. Aber das Gelände war nach wie vor schwierig, sehr schwierig. Vom Westen ausgehend, mussten wir durch konkrete Manifestationen beweisen, dass dieser Kontinent unteilbar ist. Dass es unabhängig vom Willen der Führer möglich wäre, präzise Punkte festzulegen, von denen aus die Völker, die Männer und Frauen gemeinsam ans Werk gehen könnten, sich begegnen, sich beistehen könnten. Die europäischen Fahnen, dieses Schreckgespenst aus der westlichen Welt, waren überall gegenwärtig und aktiv. Die französischen, englischen, spanischen und portugiesischen Einflusszonen waren noch Wirklichkeit. Oxford widersetzte sich der Sorbonne, Lissabon widersetzte sich Brüssel, die englischen Herren den portugiesischen, das Pfund dem Franken, die katholische Kirche dem Protestantismus oder dem Islam. Und natürlich die Vereinigten Staaten, sich überall einmischend, mit dem Dollar vorneweg, Armstrong als Helden und amerikanischen schwarzen Diplomaten, Stipendien, den Botschaftern der Stimme Amerikas ... Und nicht zu vergessen das fleißige Deutschland, Israel, das die Wüste kultiviert. Eine schwierige Arbeit. Glücklicherweise überall Arme, die uns zuwinken, Stimmen, die uns antworten, überall Hände, die man uns entgegenstreckt. Es geht vorwärts.

Das geschäftige und einschläfernde Treiben der befreiten Länder, die ihre Anker lichten und hochtrabend, aber keineswegs großartig einherkommen, die vor nicht allzu langer Zeit noch um ihre Unabhängigkeit kämpften und heute arriviert sind, sich zur Ruhe gesetzt haben und - sich in Erinnerungen sonnen. Aber die Sonne steht noch sehr hoch am Himmel und wenn man das Ohr an die rote Erde legt, hört man ganz deutlich Geräusche von verrosteten Ketten, das »Ach« höchster Angst und es sinkt der Mut, so sehr ist das geschundene Fleisch in dieser erdrückenden Mittagssonne gegenwärtig. Das alltägliche Afrika, oh, nicht das der Poeten, nicht das einschläfernde, sondern das, das einen am Schlafen hindert; denn die Ungeduld des Volkes ist groß: es drängen Taten, Spiele, seine Sprache. Das Volk, es sagt: Ich will dieses Volk zu einem Volk machen; ich will bauen, lieben, verehren, schaffen. Dieses Volk, das weint, wenn man sagt: Ich komme aus einem Land, wo die Frauen ohne Kinder sind und die Kinder ohne Mütter. Das Volk, das singt: Algerien, Bruderland, Land, das uns ruft, Land voller Hoffnung.

Das ist Afrika, das Afrika, dem wir den Weg zu seinem Kontinent weisen müssen. Dieses Afrika, das wir orientieren, mobilisieren und in die Offensive führen müssen.

Dieses Afrika im Werden.

Der Westen. Conakry, Bamako. Zwei Städte, an der Oberfläche tot; aber darunter ist die Temperatur unerträglich für diejenigen, die kalkulieren, manövrieren, sich's einrichten möchten. Die Männer und Frauen in Conakry und Bamako hämmern ein neues Afrika, schmieden es mit Liebe und Begeisterung.

Moumié. Am 30. September hatten wir uns auf dem Flughafen in Accra getroffen. Er flog wegen sehr wichtiger Besprechungen nach Genf. In drei Monaten, sagte er mir, wird der Kolonialismus in Kamerun eine Schlappe erleiden.

In Tripolis machte Nebel jede Landung unmöglich und drei Stunden lang kreiste unser Flugzeug über dem Flughafen. Der Pilot wollte unbedingt landen. Der Kontrollturm gab keine Landeerlaubnis, aber der Pilot, mutig und unüberlegt, hatte sich in den Kopf gesetzt, seine hundertzwanzig Tonnen auf den Boden zu bringen.

Dieser Kerl spielt mit dem Leben der Leute, sagte Félix zu mir. Das stimmte. Und wir, spielten wir nicht ebenfalls mit dem unsrigen? Was war die Unerschrockenheit des Piloten im Vergleich zu unserem Leben, das in beständiger Ungewissheit schwebte? Heute ist Félix tot. Vierzehn Tage später wollten wir uns in Rom wiedersehen. Er war nicht da. Bei der Ankunft in Accra sah mich sein Vater kommen, allein, und eine große Traurigkeit breitete sich über sein Gesicht.

Zwei Tage später erfuhren wir per Telegramm, dass Félix in das Krankenhaus eingeliefert sei. Vergiftung, vermutete man. Kingué, Vizepräsident der UPC, und Martha Moumié entschlossen sich, nach Genf zu fliegen. Einige Tage später erhielten wir die Nachricht: Félix Moumié ist tot.

Diesen Tod haben wir kaum bemerkt. Ein Mord, aber ohne Blutvergießen. Keine Maschinengewehrsalven, keine Bomben. Thalliumvergiftung. Ohne jeden Sinn. Thallium! Wie soll man so etwas begreifen? Ein abstrakter Tod und ein Mensch, der so konkret, so lebendig, so ungestüm war. Die Stimme von Félix war ständig laut. Aggressiv, hitzig, heftig, verliebt in sein Land, voller Hass auf die Feiglinge und Wetterwendigen. Streng, hart, unbestechlich. 60 kg Knochen und Muskeln, durchdrungen von revolutionärer Substanz.

Am Abend trösteten wir die Kameraden aus Kamerun. Der Vater, mit scharf geschnittenem Gesicht, hörte mir zu, unbeweglich, ausdruckslos, wie ich von seinem Sohn erzähle. Und allmählich erwacht in dem Vater der Kämpfer. Ja, sagt er, das Programm ist klar. Wir müssen uns an das Programm halten. Der Vater von Moumié erinnerte mich in jenem Augenblick an jene Eltern in Algerien, die in einer Art Stumpfsinn den Bericht vom Tod ihrer Kinder anhörten. Die von Zeit zu Zeit eine Frage stellten, eine genauere Angabe verlangten, dann wieder zurückfielen in jene Unfähigkeit, sich mitzuteilen; als ob sie bei ihren Söhnen weilten.

Und dennoch steckt Tatendrang in ihnen. Morgen, jetzt gleich muss der Krieg zum Feind getragen werden, darf man ihm keine Ruhe lassen, muss er hart verfolgt werden, darf ihm keine Pause gegönnt werden. Gehen wir. Unsere Aufgabe: die Front im Süden eröffnen. Von Bamako aus Waffen und Munition auf den Weg schicken. Die Bevölkerung der Sahara aufwiegeln, vordringen bis zu dem algerischen Hochplateau. Zuerst Algerien in alle Winkel Afrikas tragen und dann mit ganz Afrika zu den afrikanischen Algeriern zurückkehren, nordwärts, nach Algier, einer Stadt auf dem Kontinent. Was ich wollte: große Wege, große schiffbare Kanäle quer durch die Wüste bauen. Die Wüste leugnen, sie verneinen, Afrika sich näher bringen, den Kontinent schaffen. Dass von Mali aus die Menschen aus diesem Land, aus Senegal, aus Ghana, aus der Elfenbeinküste in unser Land strömen. Aus Nigeria und Togo. Dass alle die Abhänge der Wüste erklimmen und gegen die kolonialistische Bastion anstürmen. Das Absurde und Unmögliche möglich machen und einen ganzen Kontinent zum Sturm der letzten Festungen der Kolonialmacht führen.

Wir sind zu acht: ein Kommando. Armee, Nachrichtendienst, Politkommissare, Sanitäter. Jedes Paar muss die Arbeitsmöglichkeiten für seinen Bereich untersuchen. Und schnell. Die Zeit drängt. Der Feind ist immer noch zäh. In Wirklichkeit glaubt er nicht an eine militärische Niederlage. Aber mir schien sie noch so sehr in den Bereich des Möglichen gerückt, so zum Greifen nahe. Losmarschieren, einen Keil hineintreiben genügt. Es dreht sich nicht einmal um Strategie. Wir haben Menschenmassen, die schon mobilisiert sind, die ungestüm sind, versessen auf den Kampf, begierig nach Arbeit. Afrika ist mit uns. Aber wen kümmert das schon. Ein Kontinent gerät in Bewegung und Europa sinkt in Schlaf. Vor 15 Jahren war es Asien, das kochte. Damals amüsierte man sich. Heute geraten Europa und die Vereinigten Staaten in Rage. Die 650 Millionen Chinesen, im Besitz eines großen Geheimnisses, erbauen ganz allein eine Welt. Die Geburt einer Welt.

Chawki. Seltsamer Mensch. Kommandant der ALN, gebürtig aus Souf. Klein, vertrocknet, unversöhnliche Augen, wie sie alten Widerstandskämpfern eigen sind. Schon lange kann ich das Kampfesalter eines Widerstandskämpfers am Leuchten seiner Augen ablesen. Diese Augen täuschen niemals. Sie erzählen ohne Umschweife von den schweren Stunden: Repressionen, Folterungen, Kanonaden, Verfolgungen, Liquidierungen ... Man merkt diesen Augen ein hohes Bewusstsein an, eine beinahe mörderische Härte. Auch Unerschrockenheit. Man macht es sich zur Gewohnheit, bei solchen Menschen vorsichtig zu sein. Man kann ihnen alles sagen, aber sie müssen in deinen Worten revolutionären Atem spüren, greifen können. Sehr schwierig, sie zu täuschen, zu hintergehen, zu korrumpieren. Zur Zeit teilen Chawki und ich ein Bett. Unsere Diskussionen ziehen sich ziemlich lang in die Nacht hinein und ich bin immer wieder überrascht von der Intelligenz und Klarheit seines Denkens. Mit abgeschlossenem Studium an der islamischen Universität Zitouna in Tunesien wollte er ursprünglich in Kontakt mit der westlichen Kultur treten. Er hatte sich in Algier niedergelassen, um dort Französisch zu lernen, zu sehen, zu urteilen, zu vergleichen. Aber die Atmosphäre in Algier mit seinen herablassenden Siedlern, seine völlige Unkundigkeit der französischen Sprache, die völlige Trennung von den europäischen Kreisen ließen ihn den Entschluss fassen, nach Frankreich zu gehen. Zwei Jahre lebte er in Paris, verkehrte mit Europäern, durchstöberte die Bibliotheken und verschlang Hunderte Bücher.

Schließlich kehrte er nach Algerien zurück und nahm sich vor, die Felder seines Vaters instand zu setzen. 1954 greift er zum Jagdgewehr und schließt sich seinen Brüdern an. Die Sahara kennt er auswendig. Wenn er von ihr spricht, belebt sich diese Unermesslichkeit von Wüste und Verlassenheit mit zahllosen Details. Gastfreundliche Orte, gefährliche Wege, tödliche Gegenden, geheime Wege. Die Sahara ist eine lebendige Welt, in der Chawki sich mit der Verwegenheit und der Scharfsichtigkeit eines großen Strategen bewegt. Die Franzosen können noch nichts von den Fallen ahnen, die dieser Mann ihnen noch stellen wird.

Es muss noch gesagt werden, dass unsere Mission beinahe in den Untersuchungskammern von Algier ein böses Ende genommen hätte. In Accra hatte uns ein Angestellter der Ghana Airways, Mensah (der für jede Platzreservierung einen Franc verlangt) den Flug Monrovia-Conakry gebucht. Auf dem Flughafen in Liberia wurde uns jedoch mitgeteilt, dass das Flugzeug überfüllt sei und dass wir den nächsten Morgen abwarten müssten, um Conakry mit einem Flugzeug der Air France zu erreichen. Die Angestellten waren uns gegenüber anormal zuvorkommend und machten uns den Vorschlag, dass alle Kosten unseres Aufenthalts zu Lasten der Gesellschaft gehen sollten. Diese exemplarische Fürsorge, die französische Nationalität mehrerer Angestellter und eine dienstfertige, sehr langweilige Französin, die sich wie eine Animierdame aufführte, brachten uns dazu, einen anderen Weg zu nehmen. Wir entschlossen uns, Monrovia auf dem Landweg zu verlassen und bei Nacht die Grenze nach Guinea bei N'Zérékoré zu überschreiten.

Die Angestellten waren bis zur letzten Minute davon überzeugt, dass wir das Flugzeug nehmen würden, das an diesem Tag zwei Stunden Verspätung hatte.

Das französische »Deuxième Bureau« hatte tatsächlich die Angelegenheit in die Hand genommen. Als das Flugzeug Robertsfield verließ, nahm es, anstatt in Richtung Freetown zu fliegen, Kurs auf Abidjan, wo es von französischen Sicherheitsbeamten durchwühlt wurde. Es versteht sich von selbst, dass die Regierung der Elfenbeinküste in dieser Angelegenheit eine wichtige Rolle spielte. Eine derartige Operation ließe sich nicht ohne ihr Wissen oder ihr Wohlwollen durchführen. Houphouët-Boigny, den einige weiß zu waschen versuchen, spielt nach wie vor im französischen Kolonialsystem eine bedeutende Rolle und die afrikanischen Völker täten gut daran, ihn zu isolieren und seinen Sturz zu beschleunigen. Houphouët-Boigny ist objektiv der bewussteste Bremsklotz für die Evolution und die Befreiung Afrikas. Das »Deuxième Bureau« hat jedenfalls das Nachsehen gehabt. Eine solche Operation lohnt sich nur, wenn sie Erfolg hat. Ein öffentlicher Fehlschlag unter diesen Bedingungen enthüllt die Methoden des Brigantentums zu sehr, vor denen selbst jene zurückschrecken, die normalerweise die Augen schließen.

Ich hoffe jedenfalls, dass die französischen Behörden unsere Spur verloren haben.

Jetzt sind wir hier in Bamako. Die Hauptstadt von Mali. Modibo Keita, immer noch kämpferisch, versteht sofort. Kein großes Gerede notwendig. Unsere Arbeitssitzungen gehen zügig voran. Die Nachrichtenleute kommen mit ihm überein, in Kayes eine Abhörstation einzurichten. Ich glaube, dass sie bis zum 5. Dezember in Betrieb sein wird. Im Moment sind wir im Empfangszentrum der Kaserne von Bamako untergebracht. Jeden Tag Vorbereitungen zum Kampf. N'Krumah kommt am 21. zum Staatsbesuch.

In Bamako ist das französische Element noch sehr bedeutend. Buchhandlungen, Apotheken, Handelshäuser gehören überwiegend französischen Siedlern. Hie und da begegnet man einem Kommandanten, zwei Sergeanten ... Gestern, Sonntag, den 20., ist ein französischer Adjutant, der in der Armee von Mali dient, von Ségou her mit einer Kompanie im Empfangszentrum angekommen. Sehr höflich, hat er sich vorgestellt und uns die Hand gedrückt. Er wollte wissen, ob wir ihm nicht ein Bett zur Verfügung stellen könnten. All das verlangt ein wenig Humor. Auf alle Fälle stellten wir ab 20 Uhr eine bewaffnete Wache auf. Von Zeit zu Zeit fahren von Europäern gesteuerte Wagen um die Villa herum. Nicht sehr sicher, diese Ecke. Glücklicherweise überstürzen sich die Dinge. Dienstag, den 22. um 5 Uhr früh, fahren wir nach Gao ab. Die Straße Bamako-Tumbuktu ist unbefahrbar.

Von Bamako aus erreichen wir Ségou, wo Jouanelle uns empfängt. Auftanken und wir erreichen San. Dann Mopti. In Mopti ein Hindernis. An der Stadtausfahrt: die Straße ist von Gendarmerie gesperrt und die Wachen verlangen unsere Pässe. Mühselige Diskussionen, denn trotz des Papiers vom Innenminister wollen sie unsere Ausweise haben. Schließlich kommt der Vorgesetzte und ich soll mich ausweisen. Aber es scheint, dass wir es mit einem Mann zu tun haben, der Erkundigungen einziehen will. Er will etwas über das Ziel unserer Mission und die Aufgaben meiner Begleiter in Erfahrung bringen.

Plötzlich packt mich der Zorn und ich verlange von ihm, mich wegen Weigerung, die Papiere vorzuzeigen, zu verhaften. Angesichts dieser Situation begreift er, dass er eine Dummheit gemacht hat und lässt uns passieren, nicht ohne vorher absolutes Stillschweigen versprochen zu haben.

Die Straße Mopti-Douentza ist ein Witz. Mitten im Wald folgt man rätselnd den Spuren eines Autos, das hier vor etwa sechs Monaten gefahren sein muss. Eine solche Suchfahrt mitten in der Nacht ist sehr mühsam und wir verfuhren uns mehr als einmal. Um 2 Uhr früh kommen wir endlich an. Niemand in der Stadt. Der Kommandant ist nicht da und seine Frau schickt uns ins Lager - das geschlossen ist. Die einen im Auto, die anderen sonstwo, gelingt es uns trotz allem, ein wenig auszuruhen. Um 7 Uhr Abfahrt in Richtung Gao über Hombori. Um 21 Uhr klopfen wir beim Kommandanten an. Zehn Minuten später sind wir bei der Arbeit. Die Sache läuft gut und die Malinesen sind unbedingt bereit, uns bei der Errichtung der dritten Front zu helfen. Man hat seinerzeit von der Odyssee Leclerc gesprochen. Die, die wir vorbereiten, wird, wenn die französische Regierung nicht rechtzeitig etwas erfährt, die Episode Leclerc in einen banalen Ausflug verwandeln. In Gao finden wir eine komplette Dokumentation über die algerisch-marokkanischen Grenzgebiete vor, die vom französischen Geheimdienst zurückgelassen wurde. Alle Namen von den dort wohnenden Algeriern sind festgehalten. Auch ist am Rande ihre Einstellung zur nationalistischen Idee festgehalten. Spielend entwerfen wir ein provisorisches Schema für den Aufbau von Zellen und Übergangspunkten. Vielen Dank, Kommandant Cardaire.

Nach zwei Tagen in Gao fahren wir in Richtung Aguerhoc. Der Kommandant von Gao überredete uns, unsere alten Sachen auszuziehen, und bot jedem von uns einen schönen Gum-Anzug mit einer Mas 36 und 280 Patronen an. Wir sollten die Gelegenheit haben, eine Trappe und mehrere Hirschkühe zu erlegen.

In Aguerhoc treffen wir gegen 23 Uhr den Chef der Unterabteilung von Kidal, der in Begleitung des Chefs des Postens von Tessalit ist. Vorstellung. Dreißig Minuten später diskutieren wir Strategie, Gelände, Übergänge ...

Es ist erregend, diese Momente zu erleben. Es hat genügt, dass diese zwei verantwortlichen Männer erfuhren, wer wir waren, und schon wurden wir zu Komplizen. Sie gaben uns, was wir wollten. Können wir die Grenze aus der Nähe sehen, Tessalit, Bouressa gegenüber von Tir Zaouaten, wo die Franzosen einen Flugplatz anlegen? Einverstanden.

Und dann sind wir unterwegs und bringen fast tausend Kilometer hinter uns. Dieser Teil der Sahara ist keineswegs monoton. Selbst der Himmel über uns wechselt beständig. Vor einigen Tagen haben wir einen Sonnenuntergang erlebt, der den ganzen Himmel mit violetter Farbe überzog. Heute ist es ein sehr hartes Rot, das man kaum sehen kann. Aguerhoc, Tessalit, Bouressa. In Tessalit gehen wir durch ein französisches Militärlager. Ein französischer Soldat mit nacktem Oberkörper winkt uns freundschaftlich zu. Die Arme wären ihm gesunken, hätte er erraten, wer sich in den Gum-Uniformen verbarg.

In Bouressa nehmen wir mit einer malinesischen Nomadengruppe Kontakt auf. Wir erfahren immer mehr Details über die französischen Streitkräfte. Bordj le Prieur, Tir, Zaouaten, Bidon V.

Und dann Tamanrasset, wo wir uns durch verschiedene Gespräche eine ziemlich genaue Vorstellung über die französischen Truppen verschaffen können. Die Führer, die wir in Bouressa vorfinden, machen einen ernsten und entschlossenen Eindruck. Man wird sie unbedingt einsetzen müssen.

In Kidal stürze ich mich auf einige Geschichtsbücher über den Sudan. (Damit ist die franz. Sahara gemeint; A.d.Ü.) So intensiv, wie die Umstände und der Ort es gestatten, erlebe ich die Geschichte dieser alten Imperien von Ghana, Mali, Gao und die eindrucksvolle Odyssee der marokkanischen Truppen unter dem berühmten Djouder. Es ist nicht alles so einfach. Heute steht Algerien im Krieg und erbittet die Hilfe von Mali. Und damals verlangte Marokko Mauretanien und einen Teil von Mali ... Auch einen Teil von Algerien.

Diese Gegend der Sahara, die so vielen Einflüssen ausgesetzt war und wo die französischen Offiziere unaufhörlich Zentren der Unzufriedenheit schaffen; hier beabsichtigen wir jetzt, das Unterste zuoberst zu kehren, das Schlachtfeld bis hierher auszudehnen; das wird viel Härte und Kaltblütigkeit erfordern. Einige hie und da gesammelte Erfahrungen, z.B. regelmäßig ein schärferer Tonfall, sobald die Sprache auf den Islam und die Rasse kommt, erfordern doppelte Vorsicht.

Der Kolonialismus und seine Folgen stellen nicht die wirklichen Feinde Afrikas dar. Binnen kurzem wird dieser Kontinent befreit sein. Was mich angeht, je mehr ich in diese Kulturen und die politischen Verhältnisse mich vertiefe, umso mehr zwingt sich mir die Gewissheit auf, dass die große Gefahr, die Afrika bedroht, das Fehlen einer Ideologie ist. Das alte Europa hat Jahrhunderte gebraucht, um die nationale Einheit der Staaten verwirklichen zu können. Und als endlich ein Schlussstrich hätte gezogen werden können, wiederum Kriege! Mit dem Triumph des Sozialismus in Osteuropa erlebt man das Verschwinden der alten Rivalitäten, der traditionellen territorialen Ansprüche, so unglaublich es sein mag. Dieser Herd von Kriegen und politischen Morden, den Bulgarien, Ungarn, Estland, die Slowakei, Albanien darstellten, hat einer eng verbundenen Welt Platz gemacht, deren Ziel die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft ist.

In Afrika dagegen sind die Länder, die zur Unabhängigkeit gelangen, ebenso unstabil wie ihre jungen Bourgeoisien oder ihre wieder aufgemöbelten Prinzen. Nach einigen zaghaften Schritten in der internationalen Arena verspüren die nationalen Bourgeoisien nicht mehr die Drohung der traditionellen Kolonialmacht und entwickeln plötzlich einen großen Appetit. Und da ihnen noch die politische Praxis fehlt, betreiben sie das Ganze wie ein Geschäft. Plündern, Drohungen, ja sogar buchstäblich Beraubung des Opfers. Das alles ist besonders deshalb bedauerlich, weil den kleinen Staaten keine andere Wahl bleibt, als die ehemalige Metropole anzuflehen, noch ein bisschen zu bleiben. Auch bringt die äußerst militaristische Politik in diesen imperialistischen Pseudo-Staaten eine Verringerung der öffentlichen Investitionen in den Gebieten mit sich, die noch auf der Stufe des Mittelalters stehen. Die unzufriedenen Arbeiter unterliegen einer ebenso erbarmungslosen Unterdrückung wie in den kolonialen Zeiten. Gewerkschaften und die politische Opposition werden mehr oder weniger in den Untergrund getrieben. Das Volk, das in den schwierigen Stunden des nationalen Befreiungskampfes alles hingegeben hat, fragt sich jetzt mit leeren Händen und leerem Bauch, inwieweit das wirklich ein Sieg gewesen ist.

Seit beinahe drei Jahren versuche ich, die noch unklare, nebelhafte Vorstellung von der Afrikanischen Einheit von den subjektivistischen und sogar geistigen Zerfallserscheinungen bei der Mehrheit seiner Anhänger zu befreien. Die Afrikanische Einheit ist ein Prinzip, von dem ausgehend sich die Aufgabe stellt, die Vereinigten Staaten von Afrika zu verwirklichen, ohne die nationale, bürgerlich-chauvinistische Phase mit ihrem Rattenschwanz von Kriegen und Elend zu durchlaufen.

Um diese Einheit herbeizuführen, sind viele Methoden denkbar. Gewisse Länder wie Guinea, Ghana, Mali und morgen vielleicht Algerien setzen die politische Aktion an erste Stelle. Andere wie Liberia und Nigeria bestehen auf einer ökonomischen Zusammenarbeit. Die RAU ihrerseits betont die kulturelle Seite. Alles ist möglich und die einen wie die anderen sollten vermeiden, jene zu diskreditieren oder zu denunzieren, die diese Einheit, diese Annäherung der afrikanischen Staaten auf eine Weise sehen, die von der ihrigen abweicht. Spannungen zwischen Ghana und Senegal, zwischen Somalia-Äthiopien, Marokko-Mauretanien, zwischen den beiden Kongo sind unbedingt zu vermeiden. In Wirklichkeit scheinen die kolonisierten Staaten, die zur Unabhängigkeit gelangt sind, auf politischem Wege keine andere Beschäftigung zu haben, als sich ein richtiges Schlachtfeld zu schaffen mit richtigen Zerstörungen und Leiden. Jedenfalls ist es klar, dass diese psychologische Erklärung, die an das hypothetische Bedürfnis einer Beseitigung der Aggressivität appelliert, uns nicht befriedigt. Wieder einmal müssen wir zu den marxistischen Auffassungen zurückkehren. Die siegreichen Bourgeoisien sind die stürmischsten, die unternehmendsten, die annektionistischsten, die es gibt (nicht umsonst hat die französische Bourgeoisie von 1789 Europa in Schutt und Asche gelegt).

Editoriale Anmerkung:  

Die Notizen erschienen unter dem Titel »L'Afrique à venir« in der Sammlung Pour la révolution africaine, Paris 1964 (dt.: Für eine Afrikanische Revolution, Frankfurt a. M. 1972).
Dieser Artikel ist eine Spiegelung von:
http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2001/32/sub03a.htm