Ein Denken in Bewegung
Fanon heute

von Alice Cherki

01/02  trend online zeitung

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Die postume Verdammung Frantz Fanons wirkt bis in die Gegenwart. Selbst die positive Bezugnahme durch postkoloniale Intellektuelle entpolitisiert seine Position. Alice Cherki war im algerischen antikolonialen Kampf aktiv. In ihrem Porträt Fanons beschreibt sie die Entwicklung seines Denkens aus seiner Haltung zu politischen und sozialen Erfahrungen.

Betrachtungen darüber, in welchem Land, unter welchen Bedingungen, wie und mit wem Frantz Fanon heute leben würde, sind reine Spekulation.

Fanon ist bekanntlich jung gestorben, und für diejenigen, die ihn kannten, bleibt er in seinem Appell an das Gewissen und an die Leidenschaften des Kopfs und des Körpers jung. Und vielleicht ist es auch gerade das Überlegen und Losgehen, das Handeln und Denken, was nachfolgende Generationen, die heute Fanon lesen, entdecken, noch bevor sie überhaupt zum Inhalt seiner Äußerungen kommen. Sie fühlen vor allem die Aufforderung zur Bewegung. Fanon ist weder ein Ideologe noch ein politischer Theoretiker. Auffällig am ihm ist ein Denken, das in Bewegung ist.

Mit Fanons Tod endete das Leben eines Mannes, das mit 36 Jahren heutzutage noch am Anfang stehen würde; die Entwicklung eines Denkens wurde abgebrochen, das durch das Verhältnis zu seiner Umgebung sowie die Sensibilität für die Geschehnisse charakterisiert ist und beides als Erfahrung in sich aufnimmt. Die erlebte, verinnerlichte und reflektierte Erfahrung der rassistischen, kulturellen und politischen Unterdrückung - von der Oberfläche des Körpers bis in alle politischen Organe -, die unendlich entfremdend wirkt, die Entdeckung der Gewalt dieser Unterdrückung, das Feststellen der entpersonalisierenden Wirkungen, die sie sowohl individuell wie sozial nach sich zieht, die Suche nach Lösungen, die Entfremdung zu überwinden, und das Arbeiten an Orientierungen, all das steht im Zentrum des Denkens und Handelns von Fanon, seines Lebens, seiner Taten und seiner Schriften, ungeachtet aller politischen Umstände.


Distanz und Nähe

Dennoch ist Fanons Denken historisch, gebunden an die Welt des Kalten Krieges, des Kolonialismus, der nationalen Befreiungskämpfe, des Zusammenbruchs der kolonialen und imperialen Ordnungen, der nicht ohne Gewalt zu haben war. Zu diesen Bedingungen gehörte ein politisches Klima, in dem der antikoloniale Kampf im Rechtsstaat Repression, Kriminalisierung und Polizeiterror gegenüberstand, und zwar, wie am 17. Oktober 1961, selbst mitten in Paris. Diese Epoche liegt vermutlich hinter uns, und sogar die Geschichtsbücher für Schulen tragen dem Rechnung. Alle Nach- und Vorworte in den Neuauflagen von Peau noire, masques blancs (dt. Schwarze Haut, weiße Masken) und Les damnés de la terre (dt. Die Verdammten dieser Erde) zeigen das. Sie sind an Behutsamkeit nicht zu überbieten. Francis Jeanson lässt in seinem Nachwort zu Schwarze Haut, weiße Masken bereits seine Enttäuschung über ein unabhängiges Algerien durchschimmern, das weit von seinem Wunschbild entfernt ist, und zeigt eine gewisse, im Vorwort von 1952 nicht anzutreffende, zwiespältige Haltung gegenüber Fanon, der sogar in seinem Tod noch exzessiv gewesen sein soll. Auf andere Weise legt Gérard Chaliand in jüngster Zeit Wert darauf, sich von den in Die Verdammten dieser Erde entwickelten Gedanken zu distanzieren. Sie kommen einem, so schreibt er, so »weit entfernt und unzeitgemäß« vor, »ausgenommen seine Analyse der Traumata des Kolonisierten, der sich durch eine selbst ermächtigende Gewalt befreit, und seine Beschreibung der afrikanischen Staatsbourgeoisien«. So weit weg wie die Erklärung eines Ferhat Abbas, der 1936 meinte, dass es keine algerische Nation gebe. Chaliand historisiert die Niederschrift von Die Verdammten dieser Erde; doch zugleich stellt er fest, Fanon habe sich geirrt, er idealisiere die Mobilisierung des Volks und mache sich bezüglich der FLN etwas vor. Man schaue sich nur an, so sein Appell, was aus Algerien geworden ist. Dass Fanon sich auf der Ebene der »Realpolitik« getäuscht hat, zum Beispiel, indem er Roberto Holden Amilcar Cabral vorzog, die Volksbewegungen überschätzte, hingegen das Gewicht der Bürokratien, der alten regionalen Unterschiede und andere Schwerfälligkeiten unterschätzte, ist unbestreitbar. Aber - und ich hoffe, dass diese kurze Aufzählung es klar gemacht hat - er war hellsichtig genug, wenn er die Zusammensetzung der FLN, ihre Heterogenität und ihren Mangel an einem wirklich revolutionären Programm betrachtete. Als er L'an V de la révolution algérienne (dt. Aspekte der algerischen Revolution) oder den Essay »Missgeschicke des nationalen Bewusstseins« schrieb, richtete er sich damit gleichermaßen an die Algerier. Ist da nicht die gewaltige, wenn auch gedämpfte Enttäuschung, die es auch auf Seiten der französischen Unterstützer gibt, die Algerien idealisiert hatten? Ich kann mich an einige spätere »Pieds-rouges« erinnern, die zwischen Mai und September 1962 in ein letztlich besiegtes und rückschrittliches Algerien kamen, und die davon träumten, daraus einen Ort der Revolution zu machen, die noch dazu exportiert werden könnte.


Die Wiederentdeckung Fanons

Ist es ausgemacht, dass Fanons Analysen, einschließlich seiner Analysen der Gewalt, obsolet sind? Auf der politischen Ebene sind seine Voraussagen und Warnungen bestätigt worden, auch in Algerien: Eine Führerfigur, ehemals Patriot des Unabhängigkeitskampfs. Eine Einheitspartei, inhaltsleer, bürokratisiert, die ihre Befehle von oben erhält. Ein Regime, das sich auf Armee und Polizei stützt, ohne parlamentarische Institutionen, und das gegen die Korruption nichts ausrichten kann, sie gar begünstigt. Eine Landwirtschaft, die sich in Nichts auflöst »zugunsten« einer wenig dynamischen Industrialisierung. Letztere begnügt sich damit, ihre Einkünfte aus dem Erdöl abzusichern. Nur als Alibi geduldete oder mundtot gemachte Intellektuelle. Die Erfindung einer heroischen Geschichte, ohne kritischen Geist, und noch dazu im Namen eines homogenen Ursprungs verfälscht; den späteren Generationen ist so die Möglichkeit verwehrt, die Spuren ihrer Geschichte wiederaufzunehmen. Eine unglückliche Arabisierung der Bildung, die oft mit einer Islamisierung verwechselt wird. Schließlich die Unterdrückung der Minderheiten und die Missachtung der Menschenrechte. Ist dieses grob gezeichnete Bild nicht genau das, was Fanon befürchtet und sogar im Voraus beschrieben hat? Hat er nicht die drohenden Folgen aufgezeigt? Jedes politische System, das die Individuen von ihrer Geschichte und ihrer Erinnerung abschneidet, ihnen einen fiktiven Ursprung zuweist, sie daran hindert, Identitäten und Identifikationen in ihrer Komplexität zu äußern, das ihnen verbietet, Akteure der politischen Zukunft zu werden, wird eines Tages erleben, wie Gewalt ausbricht, vereinzelt oder organisiert, aber manifest. Fanon hat über dieses unerbittliche Drama nachgedacht und geschrieben, das die ganze Zeit in der Versenkung ruht, bis vor den Augen der ohnmächtigen Zuschauer der letzte Akt abläuft. Die vergangenen zehn Jahre in Algerien, um nur diese anzuführen, veranschaulichen das auf tragische Weise.

Édouard Glissant, ein Schriftsteller und Intellektueller aus Martinique sagte 1981, Fanon wollte eine allgemeine Theorie der Kolonisation schaffen, die aber aktualisiert werden müsse. Welche politischen Bedingungen würden demnach die Situation auf den Antillen auszeichnen? Glissant prangert die politischen Parteien an, die das Modell der französischen Parteien nachahmen, und eine Bourgeoisie, die er als »Tischbesen-Profiteure« bezeichnet. Er stellt fest, dass der Bevölkerung das Wirtschaftssystem völlig fremd ist. Er erwähnt ferner, wie in der Gesellschaft von Martinique ständig dumpfe rassistische Spannungen zu wiederkehrenden Eruptionen unkontrollierter Gewalt führen, die im Nichts enden und keine politische Organisierung finden. Zu all diesen Elementen tritt eine modernere Form der Entfremdung, als sie zu Zeiten Fanons noch existiert hat. Glissant hebt am Schluss seiner Analyse der dortigen Verhältnisse das geistige Elend hervor: nicht unbedingt die große Pathologie, die in Schizophrenie oder Delirien endet, sondern das psychische Elend, das mit der Privation zusammenhängt. Um eine Theorie der Entkolonisation zu aktualisieren, greift Glissant nach zwanzig Jahren in einer kaum aktuelleren Sprache alle Faktoren wieder auf, die bereits Fanon betont hat, und beruft sich in gleicher Weise auf die Notwendigkeit eines Bruchs. Wer Bruch sagt, meint nicht unbedingt den bewaffneten Kampf, sondern die Aufgabe, die den Umständen inhärente Gewalt zu organisieren, sei es in Straßendemonstrationen, in Streiks oder im Eintreten für politische Gewalt. Entgegen der gängigen Meinung war Fanon nicht der Ansicht, dass terroristische Gewalt ein Selbstzweck sei. Für deren Einsatz müssten vielmehr bestimmte Voraussetzungen gegeben und bestimmte Ziele definiert sein. Jede Ausübung von Politik beruht auf Gewalt. Doch wenn diese vom Staat ausgeht, wird vergessen, sie so zu nennen.

Interessant ist es auch, Takeshi Ebisaka zu hören. Fanon, so sagt er uns mit einem Abstand von 30 Jahren, hatte im gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang Ende der sechziger Jahre in Japan großes Gewicht. Die politische Linke in diesem Land war geprägt von den Studentenbewegungen in den USA und in Westdeutschland, dem Prager Frühling und dem Kampf Che Guevaras in Lateinamerika. In der damaligen Zeit war man offen für Fanons Denken, umso mehr als in Japan von den linken Studenten der Kampf gegen den Vietnamkrieg, und vor allem gegen die Militärstützpunkte der Amerikaner, mit militanter Gewalt geführt wurde. In den folgenden Jahren geriet Fanon in Vergessenheit, es gab den Wirtschaftsboom, die Parteien der Linken wurden gesellschaftlich integriert, während Japan die asiatischen Länder in neokolonialer Manier ausbeutete. Heute wird Fanon wieder gelesen, in einer von Diskriminierung und Konkurrenz geprägten Gesellschaft.

Was finden junge zeitgenössische Filmemacher interessant und setzen es für das Publikum in Kino- oder Fernsehbilder um? Die Dokumentation »Pourqoui la Guinée dit non« (1998) etwa zeigt, wie sich Frankreich innerhalb von 48 Stunden aus Guinea zurückgezogen hat, nachdem Sékou Touré Nein zur »Inneren Autonomie« sagte, und dabei sogar die Betriebsanleitungen für die Telekommunikation und die Eisenbahn mitgenommen hat. Dass Lumumba ermordet wurde, weil die Amerikaner und Europäer es so beschlossen hatten, und dass Mobutu mit der Unterstützung und dem Wohlwollen der westlichen Staatschefs in Zaïre regieren konnte, ist Thema etwa von »Mobutu, roi du Zaïre« (1999) von Thierry Michel. Und wie Léopold Senghor ein politischer Potentat geworden ist, der seine Macht auf Autokratie und Repression gründete und dabei von Europa geachtet und bewundert wurde, zeigt Jean-Noël Jeanneney in einem Fernsehfilm (1998). Auch die Person von Félix Moumié bleibt in der Erinnerung junger Kameruner lebendig, allerdings im Geheimen, und junge Zaïrer möchten gerne wissen, warum man ihre Eltern daran hinderte, Anhänger von Lumumba zu sein. All diese Filme belegen die Beteiligung Europas nicht nur durch direktes Handeln, sondern auch durch die Art und Weise, wie von hier aus daran mitgewirkt wurde, alle Spuren zu verwischen.


Die postkoloniale Situation

Es gibt zwar keine Kolonien mehr, doch bleibt Fanons Beschreibung des Ausschlussverhältnisses zwischen zwei geteilten Welten, deren einzige Vermittlung Armee oder Polizei sind, deshalb außen vor? Ist die Frage nach einer Gewalt, die selbstbefreiend wäre, wirklich überholt und unzeitgemäß? Ist man in der Analyse der Gewalt in den zurückliegenden 30, 40 Jahren einen Schritt weiter gekommen? Gewalt hat sich ausgebreitet und verteilt, sie hat sich von den Kolonien in die großen Städte der Metropolen, oder genauer gesagt, in ihre Vorstädte verlagert. Sie erzeugt dort denselben Mechanismus, den bereits Fanon konstatierte, den zweier geteilter Welten, ohne Wahrheit, und die einzige Vermittlung sind die Ordnungskräfte. Wie weit ist es heute mit der Gewalt? Sie wird verurteilt, und zwar umso mehr, als man in einer Gesellschaft lebt, die sie auf mehr oder weniger »softe« Weise auslöst, aber umso heftiger leugnet. Sie wird angeprangert, sie wird beklagt. Anderswo sind es »die Wilden«, doch bei uns, mitten in unserer friedlichen Gesellschaft, unserem so genannten Rechtsstaat ist das unmöglich. Man weigert sich folglich, über die Gewalt nachzudenken. Sie sich gar als Ort vorzustellen, an dem das Leben sich weigert, dem Tod zu weichen, dem individuellen wie auch dem kollektiven Tod. Sie als Ablehnung einer Ordnung zu sehen, deren Gewalt sich nicht als solche äußert, sondern dadurch, dass sie es verhindert, mit anderen Subjekt seiner Geschichte, seiner Zeit, seines Schicksals zu werden. Sie als Ruf nach Veränderung zu erkennen.

Die Gewalt in dieser Art zu begreifen, und zwar in der Gegenwart und in der Geschichte, betrifft in erster Linie die junge Generation aus den ehemaligen Kolonien; im Alltag in Frankreich sind das vor allem die Algerier. Denn wenn der Kolonialismus auch in seiner expliziten, historischen Form nicht mehr existiert, so können die Auswirkungen seiner Struktur in den zwei Welten Folgen haben, die ihn in anderem Gewand fortbestehen lassen. Und gleichzeitig muss es Möglichkeiten geben, die Konflikte zwischen den Nachkommen der Afrikaner und denen der Araber, von denen Fanon ausgiebig spricht, in Bewegung zu bringen. Für die Afrikaner bleiben die Araber im überlieferten Imaginären Eindringlinge, die die afrikanischen Reiche zerschlagen und sich wenig über ihre Funktion als Sklavenhändler empört haben. Für die Araber sind die Afrikaner im selben Imaginären Schwarze, Bastarde des Islam und außerhalb jeglicher Zivilisation. Diese Erinnerungsfetzen bleiben in Symbolen und Emblemen geronnen, sofern sich ihnen nicht die Möglichkeit bietet, sich zu entfalten, sich zu inszenieren, um dann historisiert werden zu können. Von der Möglichkeit der Inszenierung zu sprechen, heißt nach Orten der Vermittlung zu suchen, wo genau diejenigen die Hauptdarsteller sind, die man ihrer Gewalt wegen ausschließt.

Fanon war, mit den Instrumenten seiner Zeit und unter den gegebenen historischen Umständen, ein Wegbereiter für ein Verständnis von Gewalt als einem nicht hintergehbaren psychischen Mechanismus. Wenn Gesetzesbruch, Ausschluss, Orientierungsverlust durch den herrschenden Diskurs und die Entwertung des Selbstbilds zusammenkommen, dann stoppt der Prozess der Subjektwerdung »vom Körper zum Gehirn«. In der Zeit und in der Sprache seinen Ort wiederzufinden, kann, reduziert auf den Körper und die Bilder, ohne Gewalt nicht geschehen. In großen Linien wurde dieser Zusammenhang seinerzeit schon von Fanon skizziert. Noch mehr, wenn man von Gewalt in den Vorstädten und insbesondere von Seiten der Kinder von Einwanderern spricht, so spricht man tatsächlich von Leuten, die »von einem Ort verbannt« (»ban de lieu«) sind, die im allgemeinen aus einer Welt der Bauern, der Armen, aus dem Volk stammen. Die Kinder der immigrierten Bourgeoisie und der Intellektuellen aus Nordafrika und aus Schwarzafrika können, wie zerrissen sie auch sein mögen, ohne allzu große Probleme ihren Ort finden. Ihnen fehlt nicht die Orientierung, der Raum für Verhandlungen, die Vielzahl der Identifikationen; es gelingt ihnen, Übergänge zu schaffen, an denen das Anderssein nicht nur in Form eines Schreckgespensts auftaucht. Dagegen sind die »Erben« der Enterbten, von denen Fanon am Ende seines Lebens spricht, unbestreitbar diejenigen, die in den Banlieues und Innenstädten gelandet sind, die ihre Würde haben, aber in jeder Hinsicht enteignet sind, im Zustand der Privation, aber nicht kampflos. »Wo sind die maßgeblichen Kraftlinien?« fragte Fanon. Wo sind die symbolischen Bezugspunkte? Was wird aus einem Subjekt, das sich zwischen zwei symbolischen Welten konstituiert, die sich gegenüberstehen, und die nicht nur nichts voneinander wissen, sondern einander ablehnen und ausschließen? Es bleibt entweder die Versteinerung oder der gewaltsame Bruch. Und die Versteinerung würde ganz und gar Unterwerfung unter ein schon vorausbestimmtes kulturelles Muster heißen.


Eine Sprache finden

Wie kann man eine Sprache dekonstruieren und sie auf andere Art schwingen lassen? Es ist nicht ausgeschlossen, dass die frankophonen antillesischen, algerischen und afrikanischen Schriftsteller, ohne es zu wissen, Fanon einiges verdanken. Doch nicht notwendigerweise das, woran man denkt, nämlich die offenkundigen Äußerungen Fanons über die Sprache, die er in seiner Rede beim Zweiten Kongress der Schwarzen Schriftsteller 1959 in Rom an seinesgleichen richtete: sie sollten die Sprache benutzen, »um die Nation auszusagen, den Satz zu formen, der das Volk ausdrückt, sich zum Wortführer einer neuen, aktiven Realität zu machen«. Glissant wird viel später beiläufig bemerken, dass nur das haitianische Kreolisch problemlos den Status einer Nationalsprache erlangt hat, weil es sehr früh zur Sprache der Nationenbildung geworden ist. Das hätte von Fanon sein können. Aber auf den französischen Antillen in den fünfziger Jahren hatte Kreolisch nicht diesen Status, und es hat ihn heute immer noch nicht. Fanon, der mit seinen Freunden von den Antillen oder aus Guyana spontan Kreolisch sprach und sich über unser Erstaunen darüber amüsierte, prangerte in jenen Jahren an, dass man in dieser Sprache eine verbotene Sprache sah, die in den Familien der antillesischen Bourgeoisie als minderwertig galt, eine Sprache der Tarnung oder des Spotts im Volksmilieu. Das Kreolische diente damals einem sich seiner Überlegenheit noch sicheren Kolonialismus vor allem als gehässiger Vorwand für Ausschluss und Abwertung. »Du sprechen petit nègre«, bedeutet auch: »Bleib, wo du bist«. Und es gab eine Zeit des Kolonialismus, in der das völlig stimmte. Die Abwehr bleibt weiterhin sehr aktuell: »Wenn du den Boubou trägst und magische Rituale treibst, bleib, wo du bist, oder geh dahin, wo du herkommst.«

Was Fanon meint, geht aber über seine Äußerungen, die direkt die Funktion der Sprache betreffen, hinaus. Worauf es ankommt, ist nicht so sehr die Sprache der »Nation« oder der »Wortführer«, sondern überhaupt sprechen zu lassen. Und durch seinen Stil setzt sich Fanon dafür ein. Über explizite Äußerungen hinaus greift er von seinen ersten Texten an in die französische Sprache ein, und zwar durch die semiotische Infiltration der Sprache selbst. Strömung, Rhythmus, Bilder, die Worte suchen, die als Metapher dienen können. Eine Schreibweise, in der Begriffe nur aus der Arbeit im Redefluss, den mit dem Körper zusammenhängenden Sprachfetzen, den mit den Empfindungen verbundenen Darstellungen entstehen können. Fanons Sprache kümmert sich nicht um die Unterscheidung zwischen gesprochener Sprache und Schriftsprache, sie greift in die Interpunktion ein, sie ist gespickt mit Bildern, die vom Körper und von den Empfindungen kommen. Sie kommt von der Dekonstruktion des Denkens zur Rekonstruktion, ausgehend von körperlich kräftigen Metaphern. Sie will die französische Sprache verändern, sie erschüttern. Kateb Yacine, der Fanon nur einmal kurz in Tunis getroffen hat und damals bereits ein anerkannter Schriftsteller war, macht dasselbe. Er bemächtigt sich der französischen Sprache, so sagt er, wie einer »Kriegsbeute« und lässt Rhythmen, Skandierungen und Metaphern herein, die anderswoher kommen. Fanon legte das, wie auch Kateb Yacine, nicht theoretisch fest. Er machte es, weil er nicht anders konnte. Heute praktizieren viele Schriftsteller diese Métissage der Sprache, die Infiltration der herrschenden Sprache, in die man etwas einschmuggelt, um sie anders schwingen zu lassen. Verdanken diese Schriftsteller dabei nicht, wenn sie das Französisch zur Bastardisierung mit dem Kreolischen oder dem Kabylischen, dem Arabischen oder dem Wolof zwingen, diese Freiheit, diese Loslösung von der Einsprachigkeit des anderen, Fanon, ohne es zu wissen, mehr als den Älteren, etwa Senghor und Césaire? Deren bewundernswerte Sprache, so poetisch sie auch sein mag, bleibt einer elitären Literatur, ob erzählend oder protestierend, verhaftet, in der die eindeutige Trennung der Sprache des Affekts und des Körpers einerseits, der Sprache des Denkens andererseits, weiterbesteht. Sogar die Möglichkeit, das Abenteuer dieser Sprache für die heutigen Generationen reflektieren und darstellen zu können, wurde von Schmugglern und Schriftstellern wie Fanon eröffnet, auf welcher Seite der kolonialen Schranke sie auch waren. Diese Befreiung der Sprache entwirft, über die Notwendigkeit einer Rückkehr zur Wirklichkeit, die durch Worte zu vermitteln ist, hinaus, die Fluchtlinien einer anderen Zeit, vielleicht der heutigen. In der sich eröffnenden Freiheit kann eine Sprache die andere anstecken, und beide sind schließlich in einem Zustand, in dem ihr Ursprung niemals richtig zu benennen ist.

Editoriale Anmerkung:  

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung aus: Alice Cherki, Frantz Fanon. Ein Porträt. Das Buch erscheint im Frühjahr 2002 bei Edition Nautilus, Hamburg. Aus dem Französischen von Andreas Löhrer. Die hier veröffentlichten Auszüge sind dem Schlusskapitel »Fanon ajourd'hui« entnommen.
Dieser Artikel ist eine Spiegelung von: 
http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2001/32/sub05a.htm
Alice Cherki ist Psychoanalytikerin. In Algerien geboren, lernte sie Fanon als Kollegen in der Psychiatrie im algerischen Blida kennen. Sie arbeitete später in Tunis für die FLN. Heute lebt sie in Paris.