Kein Blut für Bush

Von Thomas Becker 

01/02  trend online zeitung

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Der Schrecken des 11. September hielt in Deutschland nicht lange vor. Alsbald wurde klar, daß so etwas hierzulande nicht passieren kann. Es sollte wohl kein Zufall gewesen sein, daß die nachbarlich angepaßten jungen Männer, die sich hier auf den Showdown vorbereitet hatten, nicht einmal auf die Idee gekommen wären, in Hamburg, Frankfurt oder Berlin zuzuschlagen. Tatsächlich hatte ja noch nie ein faschistisches Täterkollektiv, weder das einheimische noch ein ausländisches, seine Opfer unter den Deutschen gesucht. Nein, die Angst vor Terroranschlägen in deutschen Großstädten, vor einer islamistischen Kriegserklärung gegen Deutschland vergleichbar der gegen Amerika wäre vollends unbegründet gewesen, und so mußten sich die Deutschen ihr Angstobjekt woanders suchen. Sie griffen dabei auf jene Muster zurück, die sie zwei Jahrzehnte zuvor in den Hochzeiten der Friedensbewegung einstudiert hatten, verwickelten ihre Gedankengänge in Gewaltspiralen, verdrehten die Zusammenhänge und schossen sich über die Gleichsetzung von Bush und Bin Laden endlich auf ihren wahren Feind ein, der gerade zum Gegenschlag ausholte und deshalb selbst als der eigentliche Angreifer ausgemacht war: Amerika.

In Reinkultur und ungeschminkt konnten diese verkehrte Logik aber nur die Repräsentanten des ohnmächtigen Bürgers vertreten, die sich für kurze Zeit aufblasende Friedensbewegung, Moderatoren und Talkshow-Prominenz, die linksradikale, rechtsradikale und liberale Presse, die PDS und Islamwissenschaftler, das intellektuelle Gesindel mit einem Wort, das sich am nächsten Tag um sein Geschwätz von gestern nicht mehr zu kümmern braucht. Schon ein verbeamteter Pädagoge oder ein verantwortlicher Nachrichtensprecher aber konnte nach einem unüberlegten Spruch in die Verlegenheit kommen, sich später selbst dementieren oder seinen Hut nehmen zu müssen. Die Repräsentanten der bürgerlichen Macht, die Regierung und die staatstragenden Parteien dagegen mußten von vornherein vorsichtiger sein, denn weil sie nicht nur ihr Privatinteresse, sondern das Ganze, Deutschland, vertreten, dürfen sie sich mit Amerika, mit "der einzigen Weltmacht"(1) nicht offen anlegen.

Der deutsche Außenminister hatte seine Kritik an den amerikanischen Kriegsvorbereitungen deshalb unmittelbar nach dem 11. September in Unterstellungen gekleidet. Angesichts der aus Washington angekündigten Vergeltungsschläge warnte er im Namen Deutschlands, "wir sollten einen Krieg der Zivilisationen nicht zulassen". Die zu Grunde liegenden Konflikte dürften nicht weiter verschärft werden, damit nicht am Ende mit der Reaktion mehr Instabilität erzeugt und der gegenteilige Effekt eintrete. Das war wieder die Story von der Gewaltspirale: "Nichts spricht dafür, daß man unüberlegt handelt."(2) Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung wagte es noch nicht, ihre eigene Meinung als solche kenntlich zu machen, und hatte tags zuvor an ihrer statt Susan Sontag den Angriff auf Amerika mit dem antiimperialistischen Argument rechtfertigen lassen, dieser habe sich nicht, wie von Bush behauptet, gegen die Zivilisation, sondern gegen "die einzige selbsternannte Supermacht der Welt" gerichtet und sei "als Konsequenz der Politik, Interessen und Handlungen der Vereinigten Staaten unternommen" worden; das seien die wahren Gründe, weswegen "Amerika sich nun im Krieg befindet".(3)

Ohne den Mut zu haben, es offen auszusprechen, versteckt hinter frechen Andeutungen und fremden Federn bediente man damit die im Lande längst verbreitete Überzeugung, die Amerikaner hätten weder einen Grund noch das Recht zur Selbstverteidigung, sondern folgten bloß ihrem unwiderstehlichen Hang zur Kanonenboot-Politik. Man traute George W. Bush allenthalben zu, daß er die Menschheit geradewegs in einen dritten Weltkrieg treiben wolle. Aber Fischers auf den amerikanischen Präsidenten gemünzte Appell zur Besonnenheit hatte nicht den Sinn, den Bürgern ihre Angst zu nehmen, ganz im Gegenteil. die Berechtigung dieser Angst sollte nur noch amtlich bekräftigt werden. In Deutschland lernte man auf diese Weise schnell, Busch mehr zu fürchten als Osama bin Laden. Diese Stimmung bildete fortan das unumstößliche ideologische Fundament der Fischerschen Afghanistan-Diplomatie.

Während Washington deshalb noch seine Militärmacht zum Gegenschlag in Stellung brachte, arbeitete Berlin schon an den Plänen für ein Nachkriegs-Afghanistan. In aller Eile wurde für den 27. September die Afghanistan Support Group, die von den 15 gewichtigsten Geberländern Afghanistans gebildet und deren Vorsitz bis zum Jahresende von Deutschland geführt wurde, zu einer Sondersitzung nach Berlin zusammengetrommelt. Auf der Tagesordnung stand die Vorbereitung einer Geber-Konferenz, die dann am 5. Dezember in Berlin stattfinden sollte. Fischer, der die Sitzung mit einer Rede eröffnete, nutzte auch diese Gelegenheit, um seinen Unterstellungen eine weitere hinzuzufügen, die sich diesmal dem gängigen Urteil über die Skrupellosigkeit amerikanischer Außenpolitik bediente. Mit den amerikanischen Kriegsvorbereitungen kündige sich bereits neues Elend an. Die Afghanen, die vor dem kommenden Krieg flüchteten, seien die lebendigen Zeugen dafür, daß die "zerstörende Kraft" des 11. September fortwirke und "mittlerweile auch Millionen unschuldiger Menschen in Afghanistan" träfe.(4) Zu dieser Zeit war noch keine Bombe gefallen. Später wurde das selbe Argument der neuen militärischen Lage angepaßt, und die Flüchtlinge wurden durch andere Zivilisten ausgetauscht, die den dann wahllosen Flächenbombardements und Splitterbomben der Amerikaner zum Opfer gefallen wären. Die Forderung eines Bombenstops, den die Bundesvorsitzende der Grünen, Claudia Roth, von ihrer Reise zum Kriegsschauplatz noch im Oktober mit nach hause brachte, lag ganz auf dieser Linie. Nach der deutschen Ideologie geht Amerika bei der Durchsetzung seiner egoistischen Interessen über Leichen, während Deutschland nur für den Frieden und die Menschenrechte in den Krieg zieht: "Wir werden die Menschen Afghanistans in ihrem Hunger und ihrer Not nicht allein lassen."(5)

Gerhard Schröder setzte scheinbar ganz andere Akzente. In seiner Regierungserklärung nach Kriegsbeginn bezeichnete er die "gezielten Militärschläge" gleich im ersten Satz als "Teil der notwendigen Antwort auf die terroristischen Anschläge von New York und Washington", die deshalb "unsere uneingeschränkte Solidarität" verdienten.(6) Nicht der leiseste antiamerikanische Unterton war aus dieser Rede herauszuhören. Der Grund dafür war wohl weniger eine Meinungsverschiedenheit zwischen Kanzler und Minister, eher noch innenpolitische Arbeitsteilung. Der wahre Grund aber war das Dilemma deutscher Außenpolitik selbst, die den Anspruch einer Weltmacht durchsetzen soll, ohne über das dafür notwendige militärische Rüstzeug zu verfügen. Noch nicht, denn der Gegensatz zwischen Schröder und Fischer reduzierte sich bei näherer Betrachtung auf den unterschiedlichen Zeithorizont, den sie jeweils vor Augen hatten. Während der mehr oder weniger unterschwellige Antiamerikanismus Fischers seinen Alltagspflichten als Außenminister gemäß die im Hier und Jetzt sich darbietenden Möglichkeiten auszuloten und auszuschlachten hatte, widmete sich Schröders Rede gedanklich schon den Möglichkeiten, die es erst zu schaffen gäbe. Dafür daß Deutschland in der aktuellen Situation seine Präsenz zeigen müsse, gäbe es Gründe, "die mit der Positionierung Deutschlands in der Zukunft zu tun haben. Nach dem Ende des Kalten Krieges, der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands und der Wiedererlangung unserer vollen Souveränität haben wir uns in einer neuen Weise der internationalen Verantwortung zu stellen."(7)

Volksaufstand statt Bombenkrieg

Deutschland wollte längst Krieg führen, aber es hatte noch weder die Mittel zu eigener weltweiter militärischer Machtprojektion überhaupt, noch mochte Deutschland sich im konkreten Fall einem von Amerika geführten Krieg nur anschließen, dessen Ziele es nicht selbst bestimmen konnte und auch nicht teilte. Auch nach Schröders folgenloser Solidarität blieb für die deutsche Alternative zum amerikanischen Feldzug deshalb nur die Zeit nach dem Krieg: der Wiederaufbau und die Neuordnung Afghanistans, wofür Fischer in der Afghanistan Support Group frühzeitig den Weg geebnet hatte. Und noch bevor die ersten amerikanischen Bomber am 7. Oktober ihre Ziele in Afghanistan gefunden hatten, hatte das Auswärtige Amt schon seine Pläne für ein Post-Taliban Regime in der Tasche. Die Stiftung Wissenschaft und Politik, die die Bundesregierung in außenpolitischen Angelegenheiten berät, veröffentlichte am 5. Oktober einen Stufenplan zur Befriedung Afghanistans, der den Sturz der Taliban und die Eliminierung von Al Qaeda zwar voraussetzte, und sich gleichwohl ein weiteres Mal von der Kriegsstrategie Amerikas distanzierte.

Fischers Berater störte an der Kriegsplanung der Amerikaner vor allem der sich anbahnende enge Schulterschluß mit der Nordallianz, der ihre eigenen Vorstellungen von einer auf die Paschtunen-Stämme des Südens gestützten Nachkriegsordnung in Afghanistan Schlag um Schlag zunichte machen würde. Zwei Tage vor Beginn der amerikanischen Luftangriffe also schrieb die Stiftung: "Ob ein begrenztes militärisches Eingreifen Washingtons den Zerfallsprozeß der Taliban beschleunigen oder - im Hinblick auf den anschließenden politischen Prozeß - sogar kontraproduktiv wirken kann, hängt von dem Zeitpunkt der Militärschläge ab. Konstruktiv sind sie dann, wenn sie erst unmittelbar nach dem Aufstand im paschtunischen Siedlungsgebiet erfolgen. Würden sie dagegen in einer früheren Phase durchgeführt, in der sie lediglich das Vordringen der Nordallianz beschleunigen, könnten sie das tiefsitzende Mißtrauen der paschtunischen Stämme wecken. Dann würde sich der Verdacht unter den Paschtunen, die ca. 40 Prozent der Bevölkerung stellen, verdichten, daß es diesmal die USA sind, die in Gestalt der Nordallianz ein neuerliches ‚Marionettenregime' einsetzen will."

Gegen die Stärkung der Nordallianz und vor allem dagegen, daß sie nach dem Krieg eine führende politische Rolle spielen solle, spräche vor allem deren "ethnische Zusammensetzung", da sie lediglich die afghanischen Minderheiten im Norden des Landes (Tadschiken, Usbeken, Hazaren) repräsentiere, nicht aber den zahlenmäßig gewichtigsten Volksstamm der Paschtunen im Süden. Die amerikanischen Militärschläge sollten deshalb möglichst gering dosiert und ausschließlich gegen die Kommandozentralen der Taliban und Osama bin Ladens gerichtet sein. Die Nordallianz sollte die Taliban lediglich aus Nordafghanistan verdrängen, und der eigentliche Sturz des Taliban-Regimes sollte das Werk der paschtunischen "Stammesältesten" im Süden Afghanistans sein, die "im Geheimen einen offenen Aufstand gegen die Taliban vorbereiten, der entweder dezentral an mehreren Orten oder regional übergreifend ausbricht...Nach meiner Lagebeurteilung reichen diese Maßnahmen - auch ohne US-Militärschläge - bereits aus, um in kurzer Zeit das Taliban-Regime hinwegzufegen."(8)

Wären diese Gedankenspiele umgesetzt worden, hätte dies die Trennung des Nordens vom Süden, die Teilung des Landes an seinen ethnischen Grenzen, die Balkanisierung Afghanistans und der gesamten Region befördert. Einem Paschtunen-Aufstand in Südosten Afghanistans hätten sich wohlmöglich die Paschtunen-Stämme im Südwesten Pakistans angeschlossen, um für ein in den dortigen Stammesverbänden bereits populäres "Groß-Paschtunistan"(9) zu kämpfen, und damit - ähnlich wie die Albaner in Kosovo - einen Ethno-Terror loszutreten, der die religiös vertieften ethnopolitischen Spannungen weiter in die benachbarten Staaten getragen hätte, anstatt gerade das zu verhindern. Die Amerikaner verfuhren bekanntlich genau umgekehrt, warteten einen Aufstand gegen die Taliban nicht ab, sondern brachten einen solchen durch den Druck ihrer Militärschläge erst zustande, und sie ließen die der Taliban abtrünnigen Paschtunen-Füherer erst gewähren, als der auf die Nordallianz gestützte Krieg so gut wie gewonnen war und Amerika selbst das Heft schon fest in der Hand hielt.

Daß die Amerikaner den Krieg so führen würden wie sie es für richtig hielten, war klar, nur nicht, daß ihre Strategie so erfolgreich sein würde. Die Kritik aus Berlin konnte also nicht den Sinn haben, die Amerikaner von dem abzuhalten, was sie vorhatten; vielleicht kalkulierte man damit, daß es Schwierigkeiten geben würde, die man dann für sich hätte politisch ausschlachten können - seht ihr, wir haben es ja schon immer gesagt. Das ging allerdings gründlich in die Hose, und das Auswärtige Amt war sich bewußt, daß eine deutsche Führungsrolle erst ab der zweiten Phase, "im nicht-militärischen Bereich"(10) ausgespielt werden könnte, allerdings dann einschließlich einer Beteiligung der Bundeswehr an einem Militäreinsatz nach dem Krieg. Gerhard Schröder machte diesen Unterschied noch einmal in seiner Rede zur Vertrauensabstimmung über den deutschen Beitrag für die Anti-Terror-Koalition deutlich. Es ging nie um einen Bundeswehreinsatz im Krieg gegen Taliban und Al Qaeda, der zu dieser Zeit, nach der Eroberung Masar i Sharifs und Kabuls, schon faktisch entschieden war. Dieser Krieg sei aber nur ein "Etappenziel" im Kampf gegen den Terrorismus, die Entscheidung für einen Bundeswehreinsatz aber sei eine "Zäsur" für die deutsche Außenpolitik insgesamt: "Durch diesen Beitrag kommt das vereinte und souveräne Deutschland seiner gewachsenen Verantwortung in der Welt nach. Wir müssen erkennen: Nach den epochalen Veränderungen seit dem Herbst 1989 hat Deutschland seine volle Souveränität zurückgewonnen."(11) Der deutsche Militäreinsatz in Afghanistan hatte damit einen symbolischen Wert; er sollte Deutschlands Willen zur Macht demonstrieren, der sich erst in der Zukunft mit eigenen kriegerischen Mitteln voll entfalten würde. In der Gegenwart, in der Deutschland nur eine "Weltmacht im Wartestand"(12) ist, reicht seine Macht gerade dafür, sich den Völkern der Welt als künftige Alternative zur Kriegsmacht Amerika anzudienen.

Die deutsche Afghanistan-Diplomatie sollte deswegen erst am 27. November kurz vor der Eroberung des Taliban-Stützpunkts Kandahar ihren ersten spektakulären Auftritt haben. Zu diesem Tag hatten die Vereinten Nationen eine Afghanistan-Delegation zu einer Konferenz auf den Petersberg bei Bonn eingeladen, um eine Übergangsregierung für das Nachkriegs-Afghnaistan einzusetzen. Schon die Rolle als Gastgeber der Konferenz bestätigte, wie eine Pressemitteilung des Auswärtigen Amts verlautbarte, "die unparteiische Rolle Deutschlands gegenüber allen Beteiligten"(13) und somit das Selbstbildnis Deutschlands als uneigennütziger Moderator und Freund aller unterdrückten Völker, das also, was die deutsche Weltmacht mehr als alles andere vom eigennützigen Amerika unterscheide; eine Rolle die Deutschland in Jugoslawien mit Erfolg und zum größten eigenen Nutzen spielte, und die Fischer auch im Mittleren Osten gerne einnehmen möchte.

Neben der Zusammensetzung einer Übergangsregierung in Kabul war die Entscheidung über einen von den Vereinten Nationen legitimierten Militäreinsatz in Afghanistan das wichtigste Streitthema auf der Petersberg-Konferenz. Auch für die Führung eines solchen Militäreinsatzes, konstatierte die Stiftung Wissenschaft und Politik schon in ihren Vorplanungen, komme Amerika nicht in Frage, da dafür nötig sei, "was nicht gerade seine Stärke ist: Fingerspitzengefühl."(14) In Wirklichkeit schien das deutsche Mißtrauen gegenüber Amerika aber noch andere und gewichtigere Gründe zu haben, nämlich die amerikanische Unterstützung der Nordallianz, die sich ursprünglich nicht nur gegen die Einberufung der Petersberg Konferenz gesträubt, sondern während dieser Konferenz auch die Notwendigkeit eines folgenden Militäreinsatzes in Frage gestellt hatte. Das konnte wiederum kaum überraschen, denn die Petersberg-Konferenz wie der geplante Militäreinsatz hatten letztlich nur den einzigen Sinn, die Nordallianz zur Teilung der Macht zu zwingen, welche diese Dank direkter amerikanischer und indirekter russischer Waffenbrüderschaft auf dem Schlachtfeld erkämpft hatte. Gerade weil die Kämpfe in Afghanistan Ende November noch andauerten, drängte Deutschland auf den sofortigen Beginn des Militäreinsatzes, um doch noch Einfluß auf die dortige Machtverteilung zu gewinnen und weitere Eroberungen der Nordallianz und ihre Etablierung auch in den Paschtunen-Gebieten zu verhindern: "Ein Friedenseinsatz muß deswegen schnell auf die Beine gebracht werden. Die Vorstellung von einem afghanischen Friedensprozess, der aus sich heraus stabil bleibt, ist eine Illusion. Es sind nicht zufällig Gruppierungen der Nord-Allianz, die diese These immer wieder vertreten. Natürlich, dann können sie besser ihr eigenes Süppchen kochen"; gerade das aber müsse durch eine "unparteiische Friedenstruppe" verhindert werden.(15)

Auf dem Petersberg wurde das Mandat für einen Afghanistan-Einsatz zwar vergeben, aber kaum war das geschafft, begann das Ringen darum, wie dieses erst im Grundsatz erteilte Mandat ausformuliert werden würde. Die Amerikaner wollten das Einsatzgebiet vorerst auf Kabul beschränkt wissen, um sich in dem noch andauernden Krieg um Kandahar und Tora Bora von anderen Staaten, die wie Deutschland in der Rolle des Quertreibers auftreten würden, nicht behindern zu lassen. Ein "gefährliches Spiel" in den Augen von Firschers Beratern, die für einen allumfassenden Militäreinsatz plädierten, einschließlich der Kontrolle der wichtigsten Städte und Verkehrsverbindungen im ganzen Land, Grenzkontrollen und die Abhaltung "von unguten Einflüssen einiger Nachbarstaaten und von feindlichen Aktionen von Warlords wie General Rashid Dostum oder Ismail Khan."(16) Dem Auswärtigen Amt schwebte anscheinend ein regelrechtes Kolonialsystem vor, das statt der Nordallianz alle innen- und außenpolitischen Angelegenheiten des Staates Afghanistan an sich reißen sollte. Man stellte sich auf den Standpunkt, "daß ein exekutives Mandat durch die UNO - die vorübergehende Übertragung von Regierungs- und Verwaltungsaufgaben an die internationale Gemeinschaft - der einzig gangbare Weg ist." Entsprechend des umfänglichen Mandats wurde auch die Größenordnung des "größten Friedenseinsatzes aller Zeiten" kalkuliert; obwohl der Sache nach noch viel mehr Soldaten gebraucht würden: "Die politisch durchsetzbare Größenordnung liegt wohl zwischen 50000 und 100000."(17)

Doch auch diese Rechnung hatten die Strategen des Auswärtigen Amts wieder ohne den Wirt gemacht. Trotz wochenlanger Auseinandersetzungen und mehrmaliger Aufschiebung einer Entscheidung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, während derer die deutsche Regierung nun doch den offen auszutragenden Streit, zwar nicht direkt mit den Amerikanern, aber mit den Briten suchte, setzte sich das Berliner Konzept nicht durch.

Protektorat statt Nation Building

Fast wie zur Demonstration dessen, daß das deutsche Insistieren auf einen überdimensionierten Militäreinsatz sich mit einer vollends haltlosen Darstellung der Wirklichkeit in Afghanistan begründe, erschien die feierliche Wiedereröffnung der "Brücke der Freundschaf" über den Amu Darya an der Grenze zwischen Afghanistan und Uzbekistan, die Collin Powell, der amerikanische Außenminister, zusammen mit dem uzbekischen Präsidenten Islam Karimov während seiner Asienreise Anfang Dezember arrangiert hatte. Dieser Grenzübergang war 1996 geschlossen worden, nachdem die Taliban Mazar i Sharif und Kabul erobert und sich im Norden Afghanistans festgesetzt hatten, von wo aus islamistische Terrorkommandos ihr Unwesen in die ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens und des Kaukasus trieben. Rußland hatte die jetzt unabhängigen zentralasiatischen Staaten bei der Sicherung ihrer Grenzen militärisch unterstützt, nicht zuletzt weil auch tschetschenische Gotteskrieger unter den afghanischen Terrorkommandos waren.

In umgekehrter Richtung kamen seit dem 11. September umfangreiche russische Waffenlieferungen für die Nordallianz über die selbe Grenze, u.a. jene modernisierten T-55 Panzer, die ein "Schlüssel für jede erfolgreiche Bodenoffensive in Afghanistan in diesem Jahr"(18) waren. Die Wiedereröffnung der "Brücke der Freundschaf" am 9. Dezember begann mit einer Feier in der uzbekischen Grenzstadt Termez, wo während des Krieges ein amerikanischer Militärstützpunkt entstanden war. Nach der Feierlichkeit startete ein Zug von 15 Waggons mit Hilfsgütern des UN World Food Program in Termez und fuhr über die Brücke weiter in Richtung Masar i Sharif. Der Transport wurde zuerst von uzbekischen Streitkräften und auf afghanischer Seite von den Truppen Abdul Rashid Dostums gesichert, der in den achtziger Jahren auf der Seite der pro sowjetischen Regierung Najibullahs gekämpft hatte und dem Auswärtigen Amt jetzt als Schreckgespenst diente, das durch einen gigantischen Militäreinsatz in Schach gehalten werden müsse. Die Symbolik der Veranstaltung widersprach also der durchsichtigen Berliner Panikmache vom wilden Afghanistan, indem sie nicht nur auf die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Amerika, Rußland, Uzbekistan und der Nordallianz, speziell mit dem Eroberer Masar i Sharifs, Dostum, während des Krieges verwies, sondern diese Allianz ebenso für die Nachkriegszeit empfahl.

Dostum hatte das Petersberg-Abkommen vom 5. Dezember kritisiert, in dem seiner Partei nur ein untergeordnetes Ministerium in der Übergangsregierung zugestanden worden war, Dostum wurde aber überraschend am 24. Dezember zum stellvertretenden Verteidigungsminister ernannt. Er selbst nannte seine Ernennung den ersten Schritt zu einer afghanischen Armee. Die Nordallianz schien durch diesen Schritt politisch gestärkt, als Garant der inneren Sicherheit in den von ihr besetzten Städten und Gebieten, und sogar als potentielle nationale Macht mit der Kontrolle über Polizei und Armee in ganz Afghanistan. Es war ein weiterer Schritt in Richtung Stärkung der nationalen Souveränität Afghanistans, nicht in Richtung Protektorat.

Die amerikanische Regierung bestand also darauf, daß nur eine kleine Zahl, aber keinesfalls mehr als 5000 Soldaten in Kabul stationiert würden, und deren Aufgabe zeitlich und sachlich auf den Schutz der dortigen Übergangsregierung beschränkt werde. Der amerikanische Sonderbotschafter für Afghanistan, James Dobbins, erklärte gar, die ganze Angelegenheit sei eher "eine Frage der Symbolik".(19) Angesichts der sich abzeichnenden diplomatischen Schlappe für Deutschland läutete die Frankfurter Allgemeine Zeitung schon den Rückzug ein und ermunterte die Bundesregierung zu einer konsequenten Verweigerungshaltung: "Insofern ist die Frage berechtigt, ob die Bundeswehr, deren Einsatz der Kanzler in Aussicht gestellt hat, irgend etwas in einem Land verloren hat, das Tausende Kilometer vom Herzen Europas entfernt ist und mit dem Deutschland - jenseits alter kultureller Verbindungen - keine unmittelbaren strategischen, politischen oder wirtschaftlichen Interessen verbinden."(20)

Derweil hatte sich der britische General John McColl, der die Kabul-Truppe befehligen sollte, bereits vor Ort mit der Nordallianz über die Einzelheiten des Militäreinsatzes verständigt und für die weiteren Vorbereitungen eine Planungsgruppe zusammengestellt; zu diesem Team zählten, wie McColl der Presse mitteilte, Vertreter Frankreichs, Italiens und Kanadas - von Deutschland war keine Rede. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hatte immer noch keine Entscheidung getroffen. Jetzt ging es um die Kommandostruktur des Militäreinsatzes und den Zusammenhang zwischen den in Kabul zu stationierenden Truppen und den amerikanischen Streitkräften, die noch immer in Kämpfe mit den verbliebenen oder flüchtenden Gruppen von Taliban und Al Qaeda verwickelt waren. Deutschland hatte das Ansinnen, den großen Kabul-Einsatz für den Wiederaufbau anzuführen, schon fallen gelassen, und kämpfte jetzt selbst darum, nicht doch noch in den Krieg der Amerikaner hineingezogen zu werden und den bevorstehenden Bundeswehreinsatz deutlich davon abzugrenzen: "Beide Operationen sollten - auch im Hinblick auf eine spätere Blauhelm-Truppe - klar voneinander getrennt geführt werden. Je früher dazu ein Beschluß vorliegt, desto besser".(21)

Am 19. Dezember flogen zum ersten Mal französische und italienische Kampfflugzeuge über Afganistan einen Einsatz zusammen mit der amerikanischen Luftwaffe. Während des Einsatzes wurden keine Bomben abgeworfen, es handelte sich offensichtlich abermals um eine symbolische Aktion, die die Stärke der Anti-Terror- Koalition demonstrieren sollte. In dieser Koalition war Deutschland nun die einzige europäische Großmacht, die ihren militärischen Beitrag noch nicht geleistet hatte.

Am 20. Dezember wurde die Entscheidung des Sicherheitsrats über das Kabul-Einsatz bekannt, die den deutschen Vorstellungen in fast allen Punkten widersprach - Stationierung von maximal 5000 leicht bewaffneten Soldaten einer multinationalen Truppe für 6 Monate (davon 3) unter britischem Befehl zum Schutz der Übergangsregierung in Kabul. Außerdem stellte die Vereinbarung nicht allein schon durch den brritischen Befehlshaber sicher, daß der Kabul-Einsatz eng mit den schon in Afghanistan kämpfenden amerikanischen und britischen Militäreinheiten abgestimmt würde, sondern übertrug den amerikanischen Streitkräften auch formal die Obhut über die so genannte International Security Assistance Force (ISAF), die nun zeitgleich zur Amtseinführung der Übergangsregierung am 22. Dezember in Kabul eintreffen sollte. Die amerikanischen Streitkräfte sollten für die militärische Sicherheit in Afghanistan insgesamt verantwortlich bleiben, und die amerikanischen Streitkräfte würden im Notfall zum Schutz der ISAF-Einheiten bereitstehen, sie unterstützen und mit ihnen alle ihren begrenzten Einsatz in Kabul betreffenden Angelegenheiten besprechen. Die von Deutschland gewünschte Trennung zwischen den amerikanischen Streitkräften und der ISAF sollte nach Beschluß des Sicherheitsrats also so vollzogen werden, daß das ISAF-Kommando den amerikanischen Streitkräften vollkommen untergeordnet würde. Aber Berlin wollte sich mit dieser Entscheidung noch nicht abfinden. Verteidigungsminister Rudolf Scharping bestand weiter darauf, daß der Krieg, den die Amerikaner in Afghanistan führten, klar von dem ISAF-Einsatz getrennt sein müsse. Peter Struck, der Vorsitzende der sozialdemokratischen Kanzlerfraktion im Bundestag endlich brachte die deutschen Bedenken auf den Punkt: "Wir wollen nicht, daß deutsche Soldaten unter das Kommando der Amerikaner kommen."(22)

Anläßlich der Entscheidungen von Bundeskabinett und Bundestag über die Entsendung des deutschen ISAF-Kontingents am 21. und 22. Dezember wiederholte die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihren Rat an die Bundesregierung, sich zurückzuhalten, "Dies würde es rechtfertigen, wenn die Entscheidung über die eigene Teilnahme zumindest so lange verschoben würde, bis alles klargeworden ist."(23) Und tatsächlich war auch Ende Dezember noch kein deutscher Soldat in Kabul. Der deutsche ISAF-Beitrag sollte ohnehin von 1300 auf 770 Soldaten reduziert werden. Das war also am Ende des Jahres von der deutschen Solidarität mit Amerika übrig beblieben. Währenddessen war die deutsche Diplomatie schon in Kabul angekommen. Eben war die ehemalige Botschaft der Deutschen Demokratischen Republik als neues Residium eingerichtet worden. Aus Kashmir war hier schon das Grollen des "eurasischen Balkan"(24) zu vernehmen. Die frischen deutschen Diplomaten in Kabul warteten in der Sylvesternacht ungeduldig auf bessere Zeiten.

(1) Zbigniew Brzezinski, The Grand Chessboard, American Prmary and its Geostrategic Imperatives, New York 1997; der Titel der vom Fischer Taschenbuch Verlag im Mai 1999 herausgegebenen deutschen Übersetzung lautet: Die einzige Weltmacht, Amerikas Strategie der Vorherrschaft.
(2) Fischer warnt vor "Krieg der Zivilisationen", Die Welt, 16. September 2001, http://www.welt.de/daten/2001/09/16/0916pte282536.htx
(3) "Unsere Stärke wird uns nicht helfen" - Susan Sontag über Amerikas Selbstbetrug, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. September 2001
(4) Rede des Bundesministers des Auswärtigen Joschka Fischer zur Eröffnung der Sondersitzung der "Afghanistan Support Group" in Berlin, Auswärtiges Amt, 27. September 2001, http://www.auswaertiges-amt.de
(5) siehe 4
(6) Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder zur aktuellen Lage nach Beginn der Operation gegen den internationalen Terrorismus in Afghanistan, Bundesregierung, 11. Oktober 2001, http://www.bundesregierung.de/
(7) siehe 6
(8) Afghanistan nach den Taliban, Optionen für eine dauerhafte Konfliktregulierung, Citha Maaß, Stiftung Wissenschaft und Politik, 5. Oktober 2001, http://www.swp-berlin.org/produkte/brennpunkte/wnd11sep4druck.htm
(9) Pashtun identity defies colonial line, Chicago Tribune, 6. November 2001, http://chicagotribune.com/news/nationworld/chi-0111060256nov06.story?coll=chi-newsnationworld-hed
(10) siehe 8
(11) Rede des Bundeskanzlers vor dem Bundestag anlässlich der Abstimmung über den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Kampf gegen den Terrorismus, Bundesregierung, 16. November 2001, http://www.bundesregierung.de/
(12) Europa vor der Vollendung - Das Profil der großen Europäischen Union, Forschungsgruppe Europa am Centrum für angewandte Politikforschung an der Universität München, im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung angefertigte deutsche Diskussionsvorlage zum Internationalen Bertelsmann Forum vom 3.-4. Juli 1998 im Schloß Bellevue in Berlin.
(13) Afghanistan-Konferenz in Bonn ("UN-Talks on Afghanistan"), Auswärtiges Amt, 5. November 2001, http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/laenderinfos/reaktion/konferenz_html
(14) UNO-Friedenseinsatz in Afghanistan?, Winrich Kühne, SWP-Aktuell 24, November 2001, http://www.swp-berlin.org/pdf/swp_aktu/swpaktu_24_01.pdf
(15) Nach dem Petersberg - schwieriger Friedenseinsatz mit Beteiligung der Bundeswehr?, Winrich Kühne, Stiftung Wissenschaft und Politik, 3. Dezember 2001, http://www.swp-berlin.org/produkte/brennpunkte/wnd11sep19druck.htm
(16) siehe 15
(17) siehe 14
(18) Upgraded T-55 tanks key to Afghan ground offensive, Jane's Information Group, 16. November 2001, http://www.janes.com/regional_news/asia_pacific/news/jdu/jdu011116_1_n.shtml
(19) Friedenstruppe unterwegs nach Kabu, Süddeutsche Zeitung, 17. Dezember 2001, http://www.sueddeutsche.de/index.php?url=/ausland/politik/32751&datei=index.php
(20) Truppen am Hindukusch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Dezember 2001
(21) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Dezember 2001
(22) Britain to Lead Peacekeeping Force, Washington Post, 20. Dezember 2001. http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/articles/A3964-2001Dec19.html
(23) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Dezember 2001
(24) siehe 1 

Editoriale Anmerkung:  

Thomas Becker  thobecker@addcom.de schrieb uns am 5. Jan. 2002:

Sie haben Texte von mir oder Diskussionen darüber auf Ihrer Website. Vielleicht interessieren Sie sich auch für die neueren Veröffentlichungen auf meiner Website?

Wir nahmen dieses Angebot gern an und spiegelten den obigen Artikel von Beckers Website: http://www.realization.info, "Kein Blut für Bush" ist auch in der Bahamas 37/02 veröffentlicht.