Vom 9. November zum 4. Februar
von Jörg Wollenberg

Bremen, Hochburg und Experimentierfeld der Linken. Die »Arbeiterpolitik« im Gefolge der Novemberrevolution

01/02

 
trend
online
zeitung

Briefe oder Artikel
info@trend.partisan.net
ODER per Snail:
trend c/o Anti-Quariat
610610 Postfach
10937 Berlin
Ein Jahr herber Enttäuschungen lag hinter ihnen, als die Fraktionen der Bremer Arbeiterbewegung am 4. Februar 1929 zur 10. Gedächtnisfeier für die Gefallenen der Bremer Räterepublik immer noch nicht zusammenfanden. Ein Jahr zuvor hatten 600 Bremer und Bremerinnen am 4. Februar 1928 dem KPD-Bezirksleiter Nordwest, Paul Taube, zugejubelt. Einen Tag später folgten fast tausend KP-Anhänger dem Leiter der »Roten Hilfe« und Bürgerschaftsabgeordneten Willi Deisen. Jahrelang war Deisen der Hauptredner bei den Gedächtnisfeiern zum 4. Februar 1919 in Bremen.

Am 4. Februar 1929 gehörte er zu den oppositionellen Kommunisten um Heini Busch, Adolf Ehlers und Franz Cavier. Sie kritisierten die Linkssektierer der KPD, vor allem aber die vom Bezirkssekretär Hannes Koschnik verantwortete oppositionelle Gewerkschaftspolitik. Eine »vernichtende Niederlage« hatte die RGO bei den Betriebsratswahlen von 1929 erlitten. Nur noch zwei von 20 Betriebsräten zählten im einstigen Vorreiterbetrieb, der AG Weser, zur »Revolutionären Gewerkschaftsopposition«.

War damit auch die Arbeiterpolitik gescheitert, die sich auf Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht berief und unter dem Slogan »Freiheit und Sozialismus« jährlich zu den Revolutionsfeiern zusammenfand? Noch blieben die Arbeiterjugendlichen der KPD treu. 700 Mitglieder wies allein der Kommunistische Jugendverband in 38 Ortsgruppen des Bezirks Nordwest im Jahre 1929 nach. Hans Geusendam, Heini Landwehr, Kurt Brumlop und Hans Lübeck waren ihre herausragenden Sprecher. Sie hatten vor allem noch 1928 zahlreiche Mitglieder aus dem »Zentralverband der Angestellten« (ZdA) um Käthe Fürst-Lübeck (Popall) gewonnen. Zum gleichen Zeitpunkt polarisierten das Verbot des Rotfrontkämpferbundes, der Berliner Blutmai von 1929 und die Nachrüstungspolitik der von der SPD angeführten Reichsregierung die Bremer Arbeiterjugendlichen in der SPD. Die SAJ-Jugendlichen unter Karl Grobe und Albert Müller näherten sich der Gruppe der oppositionellen Kommunisten um Adolf Ehlers und Willi Deisen.

Trotz der herben Enttäuschungen über die Regierungspolitik der Weimarer SPD sah diese Gruppe der SAJ-Jugendlichen auf dem Treffen der Arbeiterjugend in Wien (12. bis 14. Juli 1929) erneut die Hoffnung bestätigt, daß der Sozialismus nach wie vor auf der Tagesordnung stände. Die Begegnung mit dem »Austromarxismus in Aktion« (Anton Pelinka), mit dem Roten Wien als einem gelungenen Experimentierfeld sozialistischer Kommunalpolitik, insbesondere im Bereich der Sozialpolitik und des Wohnungswesens, begeisterte die sozialistischen Arbeiterjugendlichen aus den Zentren der Arbeiterbewegung. Noch fünfzig Jahre später nahmen sie zu Hunderten am Wiedersehenstreffen in Wien teil. Viele dieser Arbeiterjugendlichen orientierten sich damals an den SPD-Parteioppositionellen der »Klassenkampfgruppe« um Otto Bauer, Max und Friedrich Adler, Kurt Rosenfeld und Max Seydewitz, deren deutsche Vertreter im September 1931 aus der SPD ausgeschlossen wurden. Zu den Mitbegründern der neuen »Sozialistischen Arbeiter-Partei« (SAPD) und ihren Jugendorganisationen gehörten so bekannte Sozialdemokraten und Gewerkschafter wie Willy Brandt (Lübeck), Otto Brenner (Hannover), Walter Fabian und Peter Blachstein (Dresden), Karl Grobe (Bremen), Otto Kraus (Nürnberg), Willi Elsner (Hamburg), Fritz Sternberg und Ernst Eckstein (Breslau) sowie Anna und August Siemsen (Jena) oder Klaus Zweiling (Plauen).

Geprägt durch die Bildungsarbeit der Arbeiterbewegung und ihre kulturellen Vorfeldorganisationen, erlebten sie in der Arbeiterfestkultur einen proletarisch-sozialistischen Gegenentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft. Der 9. November und der 4. Februar gehörten zu diesen Gegenentwürfen. Auf dem Wiener Treffen fand dieses Konzept seinen wirksamsten Ausdruck. Mit dem Slogan »Republik, das ist nicht viel, Sozialismus bleibt das Ziel« zogen die Jugendlichen zu den Maidemonstrationen und beunruhigten 1929/1930 immer wieder prominente Sozialdemokraten, darunter auch den Reformjuristen und Justizminister Gustav Radbruch, dem Gustav Heinemann der Weimarer Republik. Noch in den 1945 diktierten biographischen Aufzeichnungen »Der innere Weg« notierte Radbruch: »Wie dem nationalen Gedanken, so vermochten wir auch der demokratischen Staatsform nicht hinreichendes Pathos zu verleihen. Man konnte bei Umzügen der Arbeiterjugend auf mitgeführten Schildern folgende Inschrift lesen: ›Republik das ist nicht viel, Sozialismus unser Ziel‹. Man hätte umgekehrt der Masse mit allem Nachdruck sagen müssen, daß mit der Demokratie die Hälfte des sozialdemokratischen Programms verwirklicht sei und daß es nun zuerst gelte, die gewonnene Stellung fest auszubauen. Man hätte den Parteigenossen einprägen müssen, daß die Demokratie nicht nur Vorstufe zum Sozialismus, sondern eine Errungenschaft eigenen Wertes sei. Freilich fehlte es dazu an der gedanklichen Vorbereitung, hatte doch die sozialistische Theorie den Fall, der 1918 eintrat, den Fall der Machtübernahme in einem zur Durchführung des Sozialismus noch nicht reifen Staat, gar nicht erörtert.«

Hier irrte Gustav Radbruch. Gerade in Bremen waren schon vor dem I. Weltkrieg in der noch geeinten, freilich in mehrere Flügel zersplitterten Arbeiterbewegung konkrete Vorstellungen entwickelt worden, die auf die Ausrufung einer sozialistischen Republik drängten. Neben der Bremer Bürgerzeitung (BBZ) war es vor allem die Arbeiterpolitik, die ab 24. Juni 1916 von Johann Knief herausgegebene Wochenschrift für wissenschaftlichen Sozialismus, die auf theoretische Fundierung und Konkretisierung eines Alternativmodells zum Kaiserreich drängte. Selbstverständlich gehörte dazu die intensive Aufarbeitung der Erfahrungen der russischen Revolution von 1917, aber auch die Massenstreikdebatte von 1905. Anton Pannekoek und Karl Radek, der Vertraute Lenins, gehörten neben Rosa Luxemburg und Friedrich Adler von Anfang an zu den Mitarbeitern der BBZ und der Arpo.

Am 9. November 1918 proklamiert die Arbeiterpolitik einen »Aufruf an die Arbeiter und Soldaten Deutschlands«, der mit folgenden »Gegenwartsforderungen« endet:

– »Nationalisierung allen Groß- und Mittelgrundbesitzes. Übergabe der Leitung der Produktion an Delegierte der Landarbeiter und Kleinbauern.

– Nationalisierung des gesamten Bankkapitals, der Bergwerke, Hütten, überhaupt jeglicher volkswirtschaftlich wichtiger Großbetriebe.

– Annullierung sämtlicher Kriegsanleihen von 1000 Mark aufwärts.«

Den »Weg von der bürgerlichen Republik zur proletarischen Revolution« (Knief, 7.12.1918) verband die Gruppe der Bremer Linken mit dem »Ruf nach der Einheitsorganisation« und der Ablehnung des »Führertums«.

Sie setzten auf die Spontanität kommender Massenkämpfe und sprachen sich gegen jede Form des demokratischen Zentralismus aus. Intensives »Studium des Sozialismus« bildete die Voraussetzung ihrer Arbeit (Arpo 17.02.1917). Früh wurden diese Bremer Linken mit der Spartakusgruppe gleichgesetzt. Schon am 4. Dezember 1918 warnte der Preußische Generalkonsul in Bremen den Reichskanzler, »Seine Exzellenz Herrn Ebert«: »Bremen gilt im ganzen Reich für die Hochburg und das Experimentierfeld der Spartakusgruppe«. Wohl mit Recht, denn die schon immer streikbereite Arbeiterschaft der AG Weser hatte am 18. November eine »Fabrikordnung« im Arbeiterrat beschlossen, die den Achtstundentag durchsetzte, Mindestlöhne festlegte und das Akkordverrechnungssystem aufhob. Die Ausrufung der »Sozialistischen Republik Bremen« vom 10. Januar 1919 bildete den Höhepunkt dieser Entwicklung. Die moralische Rigorosität der politischen Neuordnung ist u.a. daran ablesbar, daß der Kommissar (Senator) für Presse und Propaganda, Alfred Faust, (USPD, später Reichstagsabgeordneter der SPD, Chef der Bremer Volkszeitung vor 1933 und Pressechef des Senats nach 1945) sein Amt in die Hände des Rates der Volksbeauftragten legte, weil er eine Diffamierung der ermordeten Liebknecht und Luxemburg im Feuilleton der Weser-Zeitung übersehen hatte – eine »unverzeihliche Fahrlässigkeit«, wie er am 17. Januar 1919 schrieb.

Lenin machte den Erfolg der Russischen Revolution davon abhängig, daß die starke Arbeiterbewegung in den hochkapitalistischen westeuropäischen Staaten den Schritt zur sozialistischen Umgestaltung wagte. Bremens Vorreiterrolle hing ebenfalls davon ab, ob die Arbeiter- und Soldatenräte bereit waren, den Weg zur sozialistischen Republik zu gehen. »Nationalversammlung oder Räteregierung?« war nicht nur für Rosa Luxemburg damals die »Kardinalfrage der Revolution«. Und sie fügte ihren Überlegungen in der Roten Fahne vom 17.12.1918 hinzu: »Ein idyllischer Plan dies: auf parlamentarischem Weg, durch einfachen Mehrheitsbeschluß den Sozialismus zu verwirklichen! Schade, daß diese himmelblaue Phantasie aus dem Wolkenkuckucksheim nicht einmal mit den geschichtlichen Erfahrungen der bürgerlichen Revolution, geschweige mit der Eigenart der proletarischen Revolution rechnet.« Das bedeutete eine eindeutige Positionierung zu den Republiken, die seit dem November 1918 in Deutschland verkündet worden waren – zwei Monate vor der Ausrufung der Sozialistischen Republik Bremen.

Denn am 9. November 1918 wurden in Berlin zwei Republiken ausgerufen: die »Freie deutsche Republik« durch den Mehrheitssozialdemokraten Philipp Scheidemann und die »Freie sozialistische Republik« durch den USP-Vertreter Karl Liebknecht. Schon einen Tag zuvor hatte der Pazifist und Jude Kurt Eisner (USPD) den »Freistaat Bayern« verkündet und sich zum ersten Ministerpräsidenten der »Sozialistischen Republik Bayern« wählen lassen. »Freiheit und Sozialismus« lautete seine Parole. Gegen die von der Konterrevolution zu »Novemberverbrechern« diffamierten Anhänger der schnell erstickten Novemberrevolution begann ein beispielloser Kampf von rechts mit der Ermordung prominenter Sozialisten und Liberaler wie z. B. Kurt Eisner, Matthias Erzberger, Hugo Haase, Gustav Landauer, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Walter Rathenau. Die im Auftrag des Reichsjustizministers vorgelegte Denkschrift von Emil Julius Gumbel über »Vier Jahre politischer Mord« (1924) ist nach wie vor ein eindrucksvolles und erschütterndes Dokument über die Skrupellosigkeit der Verschwörer aus den Kreisen der deutschen nationalistischen Geheimbünde, Freikorps und ihrer Helfershelfer in der Reichskanzlei.

Dennoch überrascht, wie schwer sich die deutsche Geschichtsschreibung nach wie vor tut mit der Politik und Haltung der SPD seit 1914. Denn vor dem Hintergrund der Mitverantwortung von Ebert und Noske für die Massenmorde zwischen 1918 und 1920 konnte nur ein kompliziertes, gebrochenes Verhältnis zur Revolution von 1918/19 entstehen. »Die einen haben uns entrüstet vorgeworfen, daß wir Sozialdemokraten eine Revolution, die anderen ebenso entrüstet, daß wir keine Revolution gemacht hätten«, schrieb der Syndikus des Deutschen Metallarbeiterverbandes vor 1933, Ernst Fraenkel, am 9. November 1943 in der deutschsprachigen New Yorker Neuen Volkszeitung, und er fügte hinzu: »In diesem Vorwurf spiegelt sich die Logik eines Umsturzes wider, der eine politische Umwälzung herbeiführte, aber eine soziale Revolution vermied. Und weil der 9. November somit eine halbe Revolution war, ist uns 14 Jahre später eine ganze Niederlage bereitet worden.«

Der von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Paul Levi, Max Adler u.a. angestrebte Sozialismus wartet immer noch darauf, verwirklicht zu werden. Damit besteht zugleich die Chance, »wenigstens aus eigenen Fehlern zu lernen« (Rosa Luxemburg) und die gescheiterten sozialistischen Republiken in Bremen, München und Berlin als Lernfeld für mehr Demokratie zu erinnern. Denn Republik ist schon viel. Sozialismus bleibt das Ziel.

Editoriale Anmerkung:

Der Text  ist eine Spiegelung von http://www.jungewelt.de/2002/01-12/011.php