Wer war Viktor Agartz ?
Zur Geschichte des Linkssozialismus

von der HBV-Homepage

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Nach dem Abitur hatte der am 15. November 1897 in Remscheid geborene Agartz unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges in Marburg das Studium der Nationalökonomie begonnen, das er von 192o bis 1925 an der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln fortsetzte.

Seit dem 18. Lebensjahr gehörte er - der Tradition des sozialdemokratischen Elternhauses folgend - der SPD an und arbeitete an beiden Universitäten im sozialistischen Studentenverband mit.

Die Beschäftigung mit dem Marxismus war ein Hauptgegenstand seines Studiums. 1925 promovierte er mit dem Thema »Das praktische Verhalten der Arbeiterschaft gegenüber der Durchführung des Betriebsschutzes« zum Dr. rer. pol. In demselben Jahr heiratete er eine Kölner Ärztin und trat in den Vorstand der gewerkschaftseigenen Rheinischen Konsumgenossenschaft ein, die damals eines der größten Lebensmittelunternehmen war. Zugleich wurde er Dozent an der Arbeiterhochschule in Köln. Nach Hitlers Machtübernahme mußte er die Lehrtätigkeit einstellen, weil er sich weigerte, der NSDAP und der Deutschen Arbeitsfront beizutreten. Bald danach wurde er auch als Vorstandsmitglied der Konsurngenossenschaft aus politischen Gründen entlassen. Ab 1936 fand er eine Beschäftigung bei der Rheinisch-Westfälischen Treuhand AG. Nach abgelegtem Examen als Wirtschaftsprüfer wurde er 1942 in den Vorstand der Treuhand AG berufen.

Seine berufliche Position erlaubte ihm die Rettung des Vermögens verschiedener konfessioneller Organisationen, z. B. der Kolping-Gesellschaft, des Verbandes katholischer Priester Pax und der Steyler Missionare. Außerdem organisierte er die finanzielle Unterstützung von Familien politischer Gefangener. Über die ganze Zeit des Dritten Reiches hielt er vorsichtig den Kontakt zu Gewerkschaften und Sozialdemokraten im Widerstand, so zu Hans Böckler, dem späteren ersten DGB-Vorsitzenden, und Wilhelm Leuschner, dem 1944 hingerichteten früheren sozialdemokratischen Innenminister Hessens. In den letzten Kriegsmonaten hielt er sich versteckt, weil er erfahren hatte, daß er durch Schutzhaftbefehl gesucht wurde. Nach Kriegsende beteiligte sich Agartz sofort aktiv beim Wiederaufbau der Gewerkschaften und der SPD. Beim ersten Nachkriegsparteitag der SPD in Hannover am 9. Mai 1946 wurde er auf Drängen des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher Generalsekretär des Wirtschaftsrates der britischen Zone und übernahm Ende April die Leitung des Zentralamtes für Wirtschaft der britischen Zone in Minden, das ab 1947 das Zentralamt für Wirtschaft der anglo-amerikanischen Bizone wurde.

Im Dezember 1946 reiste Agartz mit Schumacher zu Gesprächen mit der Labour Party nach London. Hauptthema war die möglichst rasche Beendigung der Demontage-Politik. Immerhin konnte Agartz während seiner Zeit in Minden von 2ooo auf der Demontageliste stehenden Industriewerken fast 16oo in zähen Verhandlungen retten. Die KPD warf Agartz damals vor, er berücksichtige bei seinen Mitarbeitern zu wenige Kommunisten. Darüber sprach er mit dem KPD-Vorsitzenden Max Reimann und dem nordrhein-westfälischen Wiederaufbauminister Hugo Paul, der in der KPD für Gewerkschaftsfragen zuständig war. Beiden versicherte er, er habe keine Berührungsängste vor Kommunisten, doch hätten sie ihm keine geeigneten Leute für die entsprechenden Aufgaben benennen können.

Im Frühjahr 1947 mußte Agartz die Leitung des Zentralamtes für Wirtschaft aus gesundheitlichen Gründen niederlegen: Hungerödeme und Skorbut hatten ihn arbeitsunfähig gemacht. Er wollte der britischen Besatzungsmacht demonstrieren, daß niemand von den offiziellen Lebensmittelrationen leben konnte. Zur allgemeinen Überraschung lehnte er die ihm angebotene Sonderverpflegung ab. Nicht zuletzt seine Demonstration veranlaßte die Besatzungsmächte, die Rationen für die deutsche Bevölkerung beträchtlich zu erhöhen. Agartz fiel für mehrere Monate aus. Das von ihm geleitete Zentralamt wurde am 25. Juni 1947 organisatorisch in den Frankfurter Wirtschaftsrat übergeführt, der bis zur Errichtung der Bundesrepublik Deutschland 1949 für die drei westlichen Besatzungszonen (Trizone) zuständig blieb.

Agartz' Nachfolger wurde Ludwig Erhard, der spätere langjährige Bundeswirtschaftsminister und für drei Jahre Nachfolger Adenauers als Bundeskanzler. Nach seiner Genesung auf Vorschlag Schumachers zum Mitglied des Wirtschaftsrates ernannt, trat er 1948 aus Protest gegen die Währungsreform zurück, in der er einen entscheidenden Schritt zur Spaltung Deutschlands sah, durch den die sowjetisch besetzte Zone »Devisen-Ausland« wurde.

Am 29. Mai 1949 beauftragte Hans Böckler Agartz mit der Leitung des vom DGB gegründeten Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts (WWI).

Agartz verlor durch den Tod Hans Böcklers am 16.Februar 1951 und den frühen Tod Kurt Schumachers am 2o. August 1952 seine wichtigsten Förderer. Zunächst blieb sein Einfluß groß, nicht zuletzt durch seine in Fachkreisen geschätzte Sachkunde, die ihm auch in der Vertretung der Gewerkschaften in zahlreichen Aufsichts- und Beiräten zugute kam (u. a. Verwaltungsrat der Kreditanstalt für Wiederaufbau und Aufsichtsrat der Thyssen AG). Dem Gedanken der Mitbestimmung und der These von der Sozialpartnerschaft stand Agartz trotzdem kritisch gegenüber.

Der Höhepunkt seines Einflusses in den Gewerkschaften schien gekommen zu sein, als Viktor Agartz beim 3. DGB-Kongreß im Oktober 1954 in Frankfurt das Hauptreferat hielt. Der stellvertretende DGB-Vorsitzende und Präsident des Frankfurter Kongresses, Matthias Föcher, der ein führendes Mitglied der CDU-Sozialausschüsse war, charakterisierte die Rede mit folgenden Worten: »Ich möchte nicht unterlassen, noch einmal dem Kollegen Agartz für diese kristallklare Analyse der gegenwärtigen Situation unseren herzlichen Dank auszusprechen. Ich weiß, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, daß er damit die Sprache der Gewerkschaft gesprochen hat. «

Nur wenigen Kongreßteilnehmern fiel auf, daß keine Diskussion des Hauptreferates vorgesehen war. Die meisten Delegierten hielten das bei der Fülle des zu erledigenden Debattenstoffes auch für überflüssig. In Wirklichkeit war die von Föcher gelobte »kristallklare Analyse der gegenwärtigen Situation«, der eine marxistische Sicht zugrunde lag und in der sich Agartz gegen die Illusion der Sozialpartnerschaft« gewandt hatte, ein gewaltiger Stein des Anstoßes für einige einflußreiche Gewerkschaftsfunktionäre. Das ging bis zur Ankündigung einer Gewerkschaftsspaltung durch die Gründung christlicher Gewerkschaften, für die ausreichendes Kapital zur Verfügung stand. Ein marxistisch analysierender Cheftheoretiker, so wurde gesagt, sei für die Einheitsgewerkschaft DGB nicht tragbar. Auf raffinierte Weise wurde Agartz völlig unberechtigt in eine Dokumenten-Affäre verwickelt; das ihn eindeutig entlastende Dokument wurde dem DGB-Bundesvorstand vorenthalten. Außerdem wurde Agartz für Schwierigkeiten verantwortlich gemacht, die das Wirtschaftswissenschaftliche Institut mit zwei Mitarbeitern hatte. Außer diesen verließ auch Agartz das WWI zum Jahresende 1955.

Es gehört zur Tragik seines Lebens, daß im gleichen Jahr auch die Frau von Viktor Agartz gestorben war und ihm bei dieser entscheidenden Weichenstellung seines Lebens ihr Rat und Beistand fehlte. Aber Agartz wollte sich nach dem Verlust seiner Lebensgefährtin nicht in ein sorgenfreies Pensionärsdasein zurückziehen. Finanzielle Erwägungen spielten dabei keine Rolle. Auf Nebeneinkünfte war er nicht angewiesen, weil er von seinem Vermögen leben konnte. Seine verstorbene Frau stammte zudem aus wohlhabendem Haus; zu ihrem vererbten Vermögen gehörte auch eine Stahlwarenfabrik. Schon im Februar 1956 gründete Agartz die Gesellschaft für wirtschaftswissenschaftliche Forschung. Gesellschafter der GmbH, deren Stammkapital 20ooo DM betrug, war neben Agartz Ruth Ludwig, die seit den Mindener Tagen seine Sekretärin war. Paragraph 6 des Gesellschaftsvertrages lautete: »Die Gesellschaft soll keine Gewinne erzielen. Etwaige Überschüsse sind ausschließlich für wissenschaftliche Aufgaben zu verwenden.« Agartz selbst erhielt keine Bezüge. Außer ihm und Frau Ludwig waren bei der Gesellschaft fünf Personen tätig: zwei wissenschaftliche Mitarbeiter, zwei Schreibkräfte und ein Fahrer.

Die Gesellschaft gab eine Halbmonatszeitschrift unter dem Namen »Wiso, Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften« heraus. Die erste Nummer erschien am 15. März 1956. Die Auflage betrug 4ooo Exemplare. Die Abonnentenzahl belief sich auf knapp 6oo. Die monatlichen Ausgaben der Gesellschaft für Druckkosten, Miete, Gehälter, Honorare und Nebenkosten lagen zwischen 9.ooo und 10.000 DM.

Im Herbst 1956 folgte Agartz einer Einladung der russischen Akademie der Wissenschaften und hielt an der Moskauer Universität mehrere Vorträge über Fragen der westlichen Konjunktursituation, des Gemeinsamen Marktes und der Staatsfinanzierung mit anschließenden Diskussionen. Bei der bundesdeutschen Botschaft in der sowjetischen Hauptstadt machte er einen Antritts- und Abschiedsbesuch. Dur Gesandte Dr. Norte sprach ihm bei der Abreise den Dank der Botschaft dafür aus, daß er mit seiner Zuhörerschaft in einer marxistischen Denk- und Redeweise diskutiert habe. Er verband damit den Wunsch, er möge wiederkehren.

Am 2o. März 1957 rief ein unbekannt gebliebener Mann bei einer Dienststelle der Berliner Kriminalpolizei an und teilte mit, daß in Ost-Berlin ein PKW Mercedes mit dem polizeilichen Kennzeichen HA - H 297 stehe. Der Fahrer hole einen größeren Betrag Westgeld ab, der illegal in die Bundesrepublik gebracht und einem KPD-Funktionär in Hagen übergeben werden solle. Das Geld bekomme aber »tatsächlich ein anderer, ein viel größerer«. Noch am selben Tag konnte die aus Berlin verständigte Polizei den beschriebenen Kraftwagen an der Zonengrenze in Helmstedt anhalten und den Fahrer festnehmen. Nach einigen Ausflüchten bestritt der festgenommene Fahrer Gustav Wieland, daß die bei ihm sichergestellten 21 92o DM West für die illegale KPD bestimmt seien. Vielmehr solle der Geldbetrag an das Institut für gesellschaftswissenschaftliche Forschung in Köln abgeführt werden, bei dem er seit dem 1. Oktober 1956 als Werber tätig sei. Der Leiter des Instituts sei Dr. Viktor Agartz. Der Rest war polizeiliche Routine. Wieland war bis zum Verbot der KPD Mitglied dieser Partei und der Fahrer des Leiters der Abteilung »Arbeit und Soziales« im KPD-Parteivorstand, Hugo Paul, der auch Herausgeber der kommunistischen Gewerkschaftszeitung »Tribüne der Arbeit« gewesen war. Wieland erklärte auch, daß das Institut aus der DDR finanziell unterstützt werde. Agartz und seine Sekretärin wurden am 25. März festgenommen; am folgenden Tag erging gegen sie ein Haftbefehl.

Editoriale Anmerkung:

Agartz wurde freigesprochen, die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, waren zu konfus. Aber er saß einige Monate im Knast. Während der Zeit schrieb er unter Pseudonym das Buch "Verraten und verkauft". Das Buch wurde am Tag des Erscheinens verboten und alle greifbaren Exemplare beschlagnahmt. Einige Exemplare wurden gerettet und konnten später verbreitet werden. Agartz verlor außerdem seinen Posten als Chef des WWI (heute WSI) und wurde aus der SPD und der Gewerkschaft ausgeschlossen.

Der Text ist eine Spiegelung von der Website der HBV - dort:
www.hbv-online.de/agartz_index.htm
Bei der HBV gibt es zahlreiche Texte von und über Viktor Agartz.