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Polen und Westeuropa: Fortschritt in der Heuchelei

von Julian Bartosz

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Das Thema mit moralischem Werkzeug anzugehen, wäre sinnlos wir werden es also vermeiden. Ausser Empörung, Entrüstung würde uns dies nichts einbringen. Parolen für Proteste gibt es ja weltweit genug. Dass sich die ganz Grossen dieser Welt sowie ihre politischen Kammerdiener stets der moralischen Phrasendrescherei bedienen, möge uns nicht noch dümmer machen. Pferde gehören vor den Wagen, wenn man sie hinten anspannt, kann man die Karre bestenfalls aus dem Dreck ziehen. Womit gesagt sein soll: Zur Theorie des ökonomischen Determinismus möge man stehen, wie man will, an der Tatsache, dass grosse und kleine Migrationsbewegungen - sieht man von akuten politischen Problemen (wie heute auf dem Balkan) ab - stets wirtschaftlich bedingt waren und auch so bleiben, kommt niemand vorbei. Emigration und Immigration hatten und haben ihren Ursprung in den Differenzen und Diskrepanzen der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung von Ländern und Regionen. Und wenn man schon unbedingt die Moral heranziehen will, dann nimmt man wohl am besten die Geschichte von Kain und Abel. Ja, es gibt eine Fülle von Gesetzen, Rechten, Konventionen zum Thema E-und Immigration, die das alles vernünftig, human und überhaupt regeln sollen. Staatliche, zwischenstaatliche, internationale Bestimmungen, auch von der EG, UNO, KSZE, ILO usw. Mit Recht bestehen Menschen darauf, dass sie auch respektiert werden. Vergessen wir dabei aber nicht, dass dieses auf Statute nach Ministerialplänen vorgeblich errichtete Völkerrecht, welches in der Tat nur ein Wort ohne Sache ist und auf Verträgen beruht, die in demselben Akt ihrer Beschliessung zugleich den geheimen Vorbehalt ihrer Übertretung enthalten, anpassungsfähig ist. Seitdem der Gelehrte aus Königsberg dies vor fast 200 Jahren in seinem Entwurf "Zum ewigen Frieden" niedergeschrieben hat, ist die Welt, obwohl die "republikanische Ordnung" fast überall obsiegte, nicht viel anders geworden. Die "Statute" enthalten immer Klauseln, die zu gegebener Zeit herbeizitiert werden können, um beliebige "Übertretungen", Änderungen und Revisionen möglich zu machen und dies noch als rechtlich erscheinen zu lassen. So ist es auch gerade heute wieder - in bezug auf unser Thema. Soweit die Bemerkung zur Methode, zur Begründung unserer Nüchternheit, unserer lllusionslosigkeit.

Polen - ein historisches Arbeitskräftereservoir für Westeuropa und Nordamerika

Warum Polen vor 200 Jahren (so muss man wohl kurz zurückschauen) im Verhältnis zu den Ländern im Westen Europas wirtschaftlich rückständig geblieben ist - diese Frage ausführlich beantworten zu wollen, würde den Rahmen des Aufsatzes sprengen. Hinweise dazu möge man bei Johann Gottfried Herder in seinem Werk "Slawische Völker" nachlesen. Die Rückständigkeit im ökonomischen Bereich des damaligen Polen analysierte 1791 der Publizist der "Berliner Monatsschrift", Johann Erich Biester. Er verwies auf die "nachteiligste Handelsbilanz": Einfuhr für über 48 Mio., Ausfuhr für nur 22 Mio. polnische Gulden! Was er nicht betonte, waren die unter den Bedingungen der ersten Dreiteilung von 1772 erzwungene Niederhaltung der polnischen Industrie (!), eine - besonders von Preussen konsequent geführte - vernichtende Geldpolitik sowie die damaligen "Terms of Trade". Es sind dies Faktoren, die heute vorn Internationalen Währungsfonds (IWF) und von der Weltbank als Kriterien der Kreditwürdigkeit gezählt werden. Es gibt aus dieser Sicht nichts Neues unter der Sonne. Um es kurz zu formulieren: Der Zug der zeitgemässen Industrialisierung, der primären kapitalistischen Akkumulation begann uns bereits damals abzudampfen und bestimmte unter den Bedingungen der nationalen, politischen Unfreiheit Polens Platz in der internationalen Arbeitsteilung. Wenn man von der berüchtigten "polnischen Wirtschaft" redet, ist dies mitzuberücksichtigen. Und auch bei den Urteilen über die "Sauwirtschaft" im sogenannten realen Sozialismus der Jahre 1944-89 ist dies erwähnenswert. Im letzten Vorkriegsjahr der polnischen Unfreiheit, 1913, betrug das Pro-Kopf-Nationaleinkommen im preussischen Teil - 113 Dollar; im russischen - 63 Dollar; im österreichischen - 38 Dollar. 1929 war dieses Einkommen - für das gesamte Staatsgebiet der II. Polnischen Republik hochgerechnet - noch nicht erreicht worden und lag weit unter dem Weltdurchschnitt. Im Vergleich zu Deutschland, Frankreich und England war es etwa dreimal, zu Australien fünfmal und zu den USA und Kanada sechsmal geringer. Nehmen wir das Pro-Kopf-BSP von 1989, so beträgt nach 60 Jahren das Verhältnis Polen (1.860 Dollar durchschnittliches Jahreseinkommen) zu Australien - 6,6; zu England - 6,8; zu Frankreich - 8,6; zu Kanada - 9,1; zu der BRD - 9,9; und zu den USA - 10,6. Das durchschnittliche Jahreseinkommen in den USA ist also heute mehr als zehnmal höher als in Polen. In diese Länder gingen seit je die polnischen Emigrationsströme' und das war bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ziemlich einfach. Es stand ja alles unter dem Zeichen der wirtschaftsliberalen Bedürfnisse. Eine Binsenwahrheit zwar, keine Tugend, doch soll man sich dessen bewusst bleiben. Arbeitskräfte wurden einfach gebraucht - für das Waldroden in Ontario' für die Kohle in Pas de Calais und im Ruhrpott' für die Schlachtbänke in Chicago, die Ernte in Pommern und Sachsen, um nur einige Beispiele zu nennen. Es wurde ja staatlicherseits um die polnischen Arbeitskräfte geworben, Tickets wurden bezahlt (später wieder abgezogen), Vermittler eingesetzt, Institutionen gegründet - so wie man es brauchte. Die Zahlen: Aus dem Kongress-Polen genannten russischen Teil emigrierten seit 1880 bis zum Ersten Weltkrieg etwa 750.000 Menschen nach Übersee, etwa 400.000 nach Deutschland. Aus den polnischen ostdeutschen Provinzen gingen in jener Zeit 650.000 nach Deutschland und fast 600.000 nach Übersee; und aus Galizien, wo die Emigrationswelle um 1890 einsetzte, umfasste sie 550.000 nach Übersee und mehrere Hunderttausend nach Österreich und Deutschland. Über 3 Millionen Polen haben damals ihr Land verlassen. Bis zu 95 Prozent dieser Menschen waren "Leute vom Land", ohne Landbesitz. Auch nach der Wiedererstehung Polens ging die Fahrt in die Ferne, "za chlebem" (fürs Brot), weiter. In den Jahren 1920 bis 1925 waren es 240.000, bis 1936 weitere 840.000 Arbeitskräfte, grossteils für ländliche Saisonarbeit. Als Reservoir für billige und rechtlose Arbeitskräfte ist Polen immer schon gut gewesen. Die Tatsache, dass die emigrierenden Arbeiter/innen in ihren Zielländern diskriminiert wurden, ist in den Beständen deutscher Archive tausendfach belegt und sowohl in polnischen wie auch deutschen wissenschaftlichen Veröffentlichungen publik gemacht worden. Für die Industriearbeiter galt obligatorisch der Status "ungelernte Hilfskraft", für die Landwirtschaft das Herr- und Knechtverhältnis. Dies ergab sich nicht nur aus subjektiven Haltungen der Arbeitgeber, so war es gesetzlich vorgeschrieben, so hatte es zu sein. In derartiger Bewertung sind sich polnische Autoren (Karol Fiedor, J¤zef Kokot, Boleslaw Drewniak) völlig einig mit deutschen Forschem (Hermann Ulrich, Christoph Klessmann). Dies gilt auch für die bewiesene Abhängigkeit staatlicher Politik vom Willen der Wirtschaftsverbände, wobei allerdings eine interessante Variante zu beobachten war. Begünstigungen oder Benachteiligungen - durch administrative Lenkung (auch polizeiliche Massnahmen) - wechselten je nach Konjunktur und parlamentarischen Mehrheiten bzw. den jeweiligen Regierungen. Zwischen der ostdeutschen Landwirtschaft und der westdeutschen Industrie schwelte ein nie ausgeglichener Konflikt - auch bezüglich der ausländischen Arbeitskräfte. Ein in Breslau 1930 verfasstes Dokument - "Die Not der preussischen Ostprovinzen" -, welches die Landeshauptleute von Ostpreussen, Grenzmark Posen-Westpreussen, Pommern, Brandenburg, Niederschlesien und Oberschlesien ihrem Patron, dem Reichspräsidenten Hindenburg, zusandten, gibt darüber reichlich Aufschluss. Selbstverständlich versuchte beispielsweise die polnische Regierung, ihre Leute in der Ferne rechtlich abzusichern. Nach langwierigen Verhandlungen wurden sogar Verträge unterzeichnet, Konventionen vereinbart, doch Dokumente - unter anderem aus den Beständen des polnischen Konsulats in Breslau - belegen, dass dies im Grunde genommen Papiere im ursprünglichen Sinne des Wortes waren. Die Willkür gegenüber den aus Polen zugewanderten Arbeitskräften war - bei allen Verträgen und ausgehandelten Verpflichtungen - wie ein Naturelement. Selbstverständlich entwickelten, insbesondere in solchen Ballungszentren wie dem Ruhrgebiet, die Polen eine Selbstverteidigung, die auch beispielsweise von Krystyna Murzynowska für die Zeit von 1880 bis 1914 dokumentiert wurde, doch ihre praktische Bedeutung muss als gering eingeschätzt werden. Waren doch die Betroffenen, die Erwerbsauswanderer, auch als Ausgebeutete, als sozial erniedrigte, tarifmässig benachteiligte "Hilfskräfte" materiell besser situiert als ihre Familien daheim. Dies war, ist und bleibt ein objektiver Zustand, unabhängig davon, wie - angesichts der Entwicklungsdiskrepanzen - die "Moral" dazu steht. Bei dem Gefälle zwischen hoch- und unterentwickelten Ländern und Regionen können wir notieren: Tendenz steigend!

Acht Millionen (Zwangs-)Arbeiter für das Tausendjährige Reich

Dem Sog der Arbeitsmärkte unter wirtschaftsliberalen Bedingungen - so charakterisiert man bei allen Einschränkungen und politischen Interventionen die Zeit bis zur Krise 1929/32 - folgten die Erwerbsauswanderer freiwillig. Obwohl jede Unfreiheit, auch die ökonomische, Gewalt ist, war sie doch zu jener Zeit keine unmittelbare, physische. Totalitäre Systeme des 20. Jahrhunderts - sowohl die nationalsozialistische wie die stalinistische Variante - haben die Art der Allokation von Arbeitskräften aus der Sklavenzeit übernommen. Die Zwangsdeportationen von Arbeitskräften in die Weiten Sibiriens, Kasachstans sowie des Fernen Ostens und Nordens bilden bereits zu "Friedenszeiten" ein Kapitel für sich, und wir werden es bei dieser Erwähnung belassen. Das Dritte Reich, zuerst darum bemüht, seine eigenen Arbeitslosen zu versorgen und deswegen kaum an ausländischen Hilfsarbeitern interessiert, begann nach Kriegsausbruch eine der Sklavenjagd vorheriger Jahrhunderte ähnliche "Arbeitseinsatz-Politik". Fritz Sauckel als "Generalbevollmächtigter" leitete eine mit allen Stellen des NS-Systems kooperierende Behörde, welche die ausländischen Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft planmässig über ein allumfassendes Netz an den Arbeitsstellen in der Rüstung und Landwirtschaft einsetzte. Er hatte dafür zu sorgen, dass für die Männer im "Wehrdienst" (der Höchststand betrug 8,5 Millionen) Ersatz zur Verfügung stand. Unter den 8-10 Millionen ausländischen Arbeitskräften im Gebiet des Grossdeutschen Reiches waren zuerst über 40 Prozent -zu Kriegsende 24 Prozent - Leute mit dem "P"-Abzeichen' das - wie der Judenstern - auf dem Anzug oder Kleid fest angenäht getragen werden musste, Kinder nicht ausgenommen. Mit welchen Mitteln und Methoden die erzwungene Arbeit im Dritten Reich abverlangt bzw. "exekutiert" wurde, ist ein Thema für sich - ich habe es vor 25 Jahren am Beispiel der etwa 30.000 nach Breslau verschleppten Polen untersucht und ein Buch darüber herausgegeben. Die Formel von der Kontinuität "Saisonarbeiter - Zwangsarbeiter - Gastarbeiter" ist jedoch von Ulrich Herbert 1986 in seiner "Geschichte der Ausländerbeschäftigung 1880-1980" herausgegeben worden. Was mir bei dieser Kontinuitätsformel wichtig erscheint, will ich so niederschreiben: Da, wo Arbeitskräfte gebraucht werden, da kommen sie auch hin, egal wie - angelockt und geworben oder auch unter Zwang, sogar mit Todesdrohung. Wenn sie nicht mehr gebraucht werden oder verbraucht sind, ja wenn sie gar stören, werden sie wieder rausgeschmissen. Von dem erwähnten deutschen Autor merken wir uns folgenden Schlusssatz des Kapitels IV: "Es gab und gibt in Deutschland, was den Arbeitseinsatz der Fremdarbeiter im Zweiten Weltkrieg angeht, kein Schuldbewusstsein, kein verbreitetes Gefühl, dass es sich dabei um ein Unrecht und Verbrechen gehandelt habe - das war eine Hypothek, die auch auf der zehn Jahre später wieder aufgenommenen Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte in der Bundesrepublik lastete." (Ulrich Herbert ist Jahrgang 1951.)

Der D-Mark und dem Dollar in den Westen folgen

Kürzlich las ich irgendwo den Satz: "Schlimmer noch, als von den westlichen Kapitalisten ausgebeutet zu werden, ist, wenn man nicht ausgebeutet wird." Ich bin sicher, wie das Ergebnis einer demoskopischen Erhebung in Polen zu diesem Satz ausfallen würde: ob er bejaht oder verneint würde. Nach der heutigen Gemütslage riskiere ich die Behauptung, dass eine Mehrheit doch für eine Ausbeutung wäre, vielleicht etwas weniger für den unmittelbaren Ausverkauf von Grund und Boden sowie der früher staatlichen Betriebe (denn das gäbe statt der aktuell 2,5 Millionen eine doppelt so hohe Zahl von Arbeitslosen) - aber für die Ausbeutung im Westen (für eine bestimmte Zeit wenigstens) fände sich schon beachtliche Zustimmung. Und gerade mit der Freiheit, ohne Probleme reisen und auswandern zu können, mit dem Fall aller politischen Barrieren diesseits des ehemaligen "Eisernen Vorhangs", ist der "freie Westen" für uns zwar nicht dicht, aber für den freiwilligen Arbeitseinsatz, wie ihn Abertausende meiner Landsleute wohl haben möchten, relativ unzugänglich. Der am 1. März 1992 angelaufene Assoziierungsvertrag mit der Europäischen Gemeinschaft (er wird wohl bald trotz mancher Ein- und Widersprüche im polnischen Sejm ratifiziert) hat für Polen keinen freien Zugang auf den Arbeitsmarkt geschaffen, ob dies nach 1998 gelingen wird, steht noch dahin. Ein Krzysztof Penderecki oder ein Stanislaw Lem würden wohl keine "Niederlassungsprobleme" haben, sei es in Wien, sei es in Heidelberg, Paris oder sonstwo auf der Welt. Auch andere hochqualifizierte Leute kommen rasch auf den westlichen Arbeitsmärkten unter. Wie kürzlich der ehemalige Chef der polnischen Abwehr, General Wladyslaw Pozoga, in einem Buch festhielt, sind allein in der ersten Hälfte der 8Oer Jahre aus Polen über 22.000 Ingenieure, etwa 3.000 ürzte, fast 2.000 Architekten und etwa 1.500 Wissenschaftler von den Universitäten und Forschungsinstituten emigriert. Sie haben alle eine entsprechende Stelle gefunden und sind quasi-gleichberechtigt, auch wenn sie beispielsweise in der BRD den Artikel 16, Punkt 2 (Politisch Verfolgte geniessen in der Bundesrepublik Asylrecht), nicht strapazieren wollten. Dies, obwohl die politische Lage in Polen ihnen unter Umständen das Recht dazu hätte geben können. Eine politische Begründung war dann in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts weniger glaubhaft und entfällt gänzlich seit 1989. Die Tendenz der Auswanderung von qualifizierten Fachleuten aller Spezialgebiete hielt jedoch an und ist seit 1990 sogar steigend. Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis stellen für diese Menschen kein grösseres Problem dar. Sie können, sie dürfen, sie werden gebraucht - eben als bereits ausgebildete Fachleute. Die Kehrseite dieses Trends interessiert im Westen nur wenige Menschen. Etwa die - von Andrzej Mazur von der Uni in L¤dz - an Hand von Statistiken der UNESCO nachgewiesene rapide Erhöhung des Durchschnittsalters der polnischen Kader mit Hochschulbildung, von dem absoluten Rückgang der Zahl der an Hochschulen und Instituten beschäftigten Wissenschaftler auf den Stand von etwa 1970-75 gar nicht zu reden. Sowohl in den Jahren 1980-83 als auch 1989-91 gingen Polen pro Jahr durchschnittlich über 2.000 Wissenschaftler verloren. Dafür gibt es eine Reihe von hausgemachten Ursachen, die "Schuld" liegt wohl vorwiegend in unserer Wirtschaftsmisere und in den katastrophalen Arbeits- und Gehaltsbedingungen' eine gezielte Abwerbung wäre - bei besserer Lage in Polen - wohl weniger wirksam. Aus welchen Gründen immer, auch diese Tatsache ist objektiv ein Resultat des sich vertiefenden Gefälles zwischen hoch- und unterentwickelten Ländern.

Schlesiens "Deutsche" werden (nicht mehr) heimgeholt

Es gibt ein "deutsches Politikum" bezüglich der Emigration aus Polen. Nimmt man die Jahre 1952-1991 insgesamt (für die Jahre davor gibt es nur Schätzungen), sind aus Polen über 1,1 Millionen Menschen ausgewandert. Davon waren - grob gerechnet - mehr als die Hälfte Menschen, die als Deutsche oder "Deutschstämmige" von der Bundesrepublik im Rahmen der Familienzusammenführung heimgeholt oder, präziser, von der Entwicklung des Wirtschaftswunderlandes angeworben wurden. Auf die Bewertung dieser Prozesse möchte ich mich hier nicht näher einlassen. Zu jener Zeit, als aus der Türkei, aus Jugoslawien, Italien usw. Millionen Gastarbeiter nach Deutschland angeworben wurden, waren auch hunderttausende "Deutsche" aus Polen begehrte Menschen. Das ethnische Thema ist so verschwommen und unauflösbar, dass ich mir diese Anführungszeichen nicht nehmen lasse. Nun, hier interessiert uns diese Frage ja nur insoweit, als in der jetzigen Lage der Herr Waffenschmied' der Bundesbevollmächtigte für die Auslandsdeutschen' die "Deutschen" in Polen, insbesondere im oberschlesischen Gebiet, dazu bringen will, nicht mehr zu emigrieren, sondern auf der Scholle zu bleiben. Mag dies auch politische Hintergründe haben, die wirtschaftlichen sind allerdings nicht zu übersehen. Nach dem Anschluss der DDR wären die "Deutschen" aus Polen eine zusätzliche Belastung für den deutschen Arbeitsmarkt. Im übrigen haben wir es mit einer staatsrechtlichen Schizophrenie zu tun: Bleibt der polnische Deutsche oder deutsche Pole in beispielsweise Oppeln oder Breslau, gilt der alte Grundsatz: Minderheit ist, wer will. Dieses subjektive Prinzip wird allerdings streng ersetzt durch den Zwang, das Deutschtum zu beweisen - falls er als Deutscher in Deutschland anerkannt werden will. Doch dies nur so nebenbei...

Billige polnische "Schwarzarbeit"

Wie viele polnische Bürger heute im Ausland leben und arbeiten, weiss wohl niemand. Nachdem jeder Pole seinen Reisepass zu Hause hat und seit dem 1. Januar 1992 fast ganz Europa visumfrei bereisen kann, ist - aus polnischer Sicht - die Zahl der "Schwarzarbeiter" eine Dunkelziffer. Es ist nicht unser Problem, wie die Absprachen nach dem Schengener Abkommen eingehalten werden: Falls polnische "Schwarzarbeiter" nach Ablauf der Dreimonatsfrist oder früher bei Schwarzarbeit ertappt und abgeschoben werden, zu Hause aufgenommen werden sie immer. Den Stempel der deutschen oder österreichischen Behörde kann man ja mitsamt Pass verlieren und ein neues Dokument beantragen. Gegen bürokratische Schranken wissen sich nicht nur die Polen zur Wehr zu setzen. Gesetze zu unterlaufen, auch die aus Brüssel oder Strassburg, ist für unsere erfinderischen Landsleute eine Kleinigkeit. Womit gesagt werden soll, dass künstliche bürokratische Barrieren eigentlich sinnlos sind, zumal ja die "Schwarzarbeiter" eben gebraucht werden - weil sie in jeder Hinsicht billiger sind: keine Tarife, keine Versicherung, keine sozialen Abgaben usw. Somit ist dies ein Problem jener Länder, in denen Arbeitgeber an den Schwarzarbeitern zusätzlich verdienen. Ausser dem Fiskus sind beide illegalen "Tarifpartner" zufrieden. Schon gibt es in Polen mehrere Affären mit Leuten, die im Auftrag von unseriösen westlichen Arbeitgebern Arbeitssuchende angeworben, diese aber vorher gebeutelt haben: wie bereits zu Kaisers Zeiten oder in den "goldenen Zwanzigern". Nun brüsten sich die hohen und humanen Staatsdiener damit, dass sie zum Wohl der Menschen diesen Zustand aufheben, alles in Ordnung bringen möchten. Und so ist das auch mit den heutigen polnischen Erwerbsauswanderern. Im polnischen Arbeits- und Sozialministerium informierte mich Herr Adam Wojtaszewski, der Berater des Ministers, dass 1991 etwa 350.000 polnische Bürger legal im Ausland gearbeitet haben und dass diese Zahl wohl für 1992 höher ausfallen wird. Die Grundlage dazu bieten einige mit Deutschland, Frankreich und Belgien erzielte Vereinbarungen. Gespräche über die legale Beschäftigung von polnischen Arbeitskräften - individuell oder über polnische Firmen, die einen Auftrag bekommen haben (etwa 50 solcher Fir men gibt es bereits) - werden zur Zeit mit Österreich, Spanien, Finnland, Schweden, Dänemark, Holland und Luxemburg geführt. Es handelt sich dabei um symbolische Kontingente, um die Legalisierung der Arbeit von Studenten im Sommer, um die soziale Absicherung von jungen Leuten' die sowieso seit Jahren nach Österreich oder Frankreich zur Weinlese fahren. Die bereits erreichten Vereinbarungen betreffen vor allem Lehrlinge in bestimmten Branchen (wegen künftiger Investitionen in Polen?) und Bauaufträge für international bewährte und preiswerte polnische Dienstleistungen. Und soweit ich das zu bewerten vermag, riecht es dabei unschön nach alter Bürokratie, die ja alles - und zwar von beiden Seiten - unter Kontrolle halten will. Von einem freien Zugang zum westlichen Arbeitsmarkt kann keine Rede sein. Es sieht danach aus, dass der Westen beweisen will, wie grosszügig er den "neuen Demokratien" im östlichen Mitteleuropa gegenüber eingestellt ist.

Lohndrücker in Polen: Russen, Ukrainer, Rumänen

"Wenn Ali Kuh klaut - gut, wenn Ali die Kuh geklaut wird - schlecht", so liess Henryk Sienkiewicz einen seiner Buchhelden über die Moral dozieren. Diese kürzeste Relativismus-Definition findet auch für die heutige polnische Haltung zu dem behandelten Problem Anwendung. Bei aller Misere unserer Wirtschaftslage ist die Situation in unserem Lande im Vergleich zu den Ländern der ehemaligen Sowjetunion oder zu Rumänien glänzend. Abertausende aus dem Osten und Südosten wollen unseren bescheidenen Wohlstand geniessen. Für viele Russen, Ukrainer, Belorussen, für Leute aus Rumänien und - auch für manche Menschen aus fernen exotischen Ländern ist Polen bereits der Westen oder zumindest das Tor dorthin. Jeden Tag melden polnische Zeitungen, wieviele "Zigeuner" bei der illegalen Überquerung der Lausitzer Neisse (nach Deutschland) festgehalten oder von deutschen Grenzpolizisten retour geschickt wurden. Es wird auch berichtet, wie man dann die Rumänen weiter abschiebt - dahin, wo der Pfeffer wächst. Und über den Andrang der Leute von jenseits des Bug gibt es auch jeden Tag Gruselgeschichten. Die Mafia' Aids' Dreck! Jesus Maria, und wenn die Grenze erst einmal richtig geöffnet wird, dann droht das grosse Unglück! Sogar der polnische Präsident hat sich dazu im "Spiegel" geäussert. Nach Walesa werden dann Millionen Polen Spalier stehen, um die Ankömmlinge weiter nach Deutschland zu leiten! Es ist überall das gleiche, leider. Polnische Firmen an unserer "Ostwand"' also in der Nähe der Grenze zu den östlichen Nachbarn, beschäftigen sehr gern Männer und Frauen aus Litauen, Weissrussland und der Ukraine, und die meckern nicht wegen der niedrigen Löhne; in Dollar umgerechnet betragen sie das Fünf- bis Zehnfache ihrer heimischen Löhne. Die Relation - haargenau wie bei dem Verhältnis polnischer Löhne zu den Verdienstmöglichkeiten im Westen. Schwarzarbeiter aus dem Osten gibt es bei polnischen Gärtnern' Bauern, kleinen privaten Baufirmen und in so manch anderer Branche. Ja, und genauso, wie die Bundesregierungen in Bonn oder Wien sich Polen gegenüber aufspielen, machen das unsere Behörden: Absprachen, Kontingente, Kontrolle! Ordnung muss sein. Wir leben ja schliesslich in Europa! Konventionen über Menschenrechte, Arbeitsrechte und allerlei andere Rechte müssen eingehalten werden. Wo kämen wir denn hin, wenn das anders wäre? Worin besteht also der Unterschied zwischen reichen und armen Ländern zwischen 1892 und 1992? Was ist die Differenz zwischen jenen, die vor hundert Jahren im Ausland Arbeit und Brot suchten, und jenen, die das heute tun müssen? Ist das Gefälle zwischen entwickelten und rückständigen Ländern und Regionen heute anders als vor einem Jahrhundert? Oder ist dies lediglich eine Angelegenheit des "zivilisatorischen Niveaus"? Fragen dieser Art will ich nicht mehren. Ich will sie auch nicht beantworten. Möge der Leser sich selbst um die Antworten bemühen. Wie man insbesondere nach dem Zerfall des "realen Sozialismus", nach dem historischen Sieg der liberalen Wirtschaftsordnung und der parlamentarischen Demokratie hört, ist heute die Welt humaner, besser geworden.

Ja, das ist es: Vor 100 Jahren war man nicht so heuchlerisch...