Blätter für deutsche und internationale Politik

Realitätsschock BSE

von
Jürgen Neyer

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Von der europäischen bis zur kommunalen Politik und von den Verbrauchern bis zu den Anbietern wird derzeit nach Ursachen für die BSE-Seuche gesucht. Wie konnte so etwas passieren? Wer ist schuld an der Verbreitung von BSE? Und welche Lehren sollten daraus gezogen werden? Die Beantwortung dieser Fragen erscheint auf den ersten Blick ziemlich kompliziert. Die naturwissenschaftliche Ursachenermittlung steckt noch immer in den Kinderschuhen. Trotz mehr als zehnjähriger Forschungen wissen wir kaum Genaues über Anstekkungswege, Übertragbarkeiten und Ursprünge der Seuche. Gelernt haben (sollten) wir in den letzten Jahren allerdings eine ganze Menge darüber, inwieweit wir uns in der Analyse und der Bearbeitung von Großrisiken auf unsere politischen Institutionen und die Wissenschaft verlassen können. Schon ein kurzer Überblick über die Geschichte der Seuche zeigt, daß sowohl die Politik wie auch die Wissenschaft in einem nur als katastrophal zu bezeichnenden Maße als Instanzen der Problembearbeitung versagt haben. Die BSE-Affäre liefert allerdings nicht nur eine Geschichte des Versagens. Sie kann auch als Chance verstanden werden, wenn sie dazu führt, daß Bürger in der Risikogesellschaft sich wieder verstärkt der Notwendigkeit eigenständiger und ethisch reflektierter Entscheidungskompetenz bewußt werden. 

Das Versagen der Politik

Die politische Geschichte der BSE-Affäre ist eine Geschichte der Verdrängung und Erpressung, der Unterordnung von Konsumenten- unter Marktinteressen und der Instrumentalisierung politischer Institutionen durch Sonderinteressengruppen. Insbesondere die Europäische Kommission spielte in den ersten Jahren eine unrühmliche Rolle. Ihre Reaktion auf erste Meldungen über erkrankte Rinder mündete nicht in den Versuch, Konsumenten vor möglichen Gefahren zu warnen, – im Gegenteil. "Man muß die BSE-Affäre so klein wie möglich halten, indem man Desinformation betreibt", lautete die inzwischen berühmt berüchtigte Aktennotiz des zuständigen Veterinärausschusses der EU aus dem Jahr 1990. Obwohl BSE als Problem längst erkannt war, schwieg auch der Agrarrat von 1990 bis 1994 vollständig zu dem Thema. Zwar verhängte die Kommission unter dem Druck der Öffentlichkeit 1990 ein erstes Ausfuhrverbot für lebende Rinder aus Großbritannien, erlaubte aber bis 1996 noch den Export von Rindfleischprodukten mit dem Ergebnis, daß dieser kontinuierlich weiter anstieg. Als eine Inspektion der Kommission in Großbritannien feststellte, daß die Kontrollauflagen für den Export von Rindfleisch nicht eingehalten wurden, führte dies nicht zu einer Verschärfung der Auflagen oder gar einem Exportverbot, sondern schlicht dazu, daß der zuständige irische Kommissar weitere Inspektionen in Großbritannien untersagte.

Auch die britischen Behörden hatte wesentlichen Anteil an der Ausbreitung der Seuche. Sie hielten nicht nur jahrelang existierende wissenschaftliche Evidenzen über einen Zusammenhang von BSE und der Creutzfeld-Jakob-Krankheit zurück, sondern betrieben eine aktive Politik der Konsumententäuschung. Noch im Jahr 1994 betonte der britische Chefveterinär Keith Meldrum: "Wer andeutet oder die Vorstellung erweckt, daß BSE in die menschliche Nahrungskette gelangen könnte, handelt höchst unverantwortlich." Und selbst noch im Oktober 1995 behauptete John Major: "Ich möchte betonen, daß Menschen nicht an Rinderwahnsinn erkranken können."

Daß solche Stellungnahmen die ohnehin nicht sonderlich nachhaltige Motivation der britischen Kontrolleure zur Beachtung europäischer Kontrollauflagen eher untergruben, liegt auf der Hand. Auch auf die im Frühjahr 1996 auftauchenden neuen Evidenzen über einen Zusammenhang zwischen BSE und der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit und die folgende Verhängung eines umfassenden Embargos durch die EU reagierte die britische Regierung nicht mit Einsicht, sondern mit der Drohung, so lange jegliche europäische Kooperation einzustellen, bis ihren Forderungen nach einer Erleichterung des Embargos nachgekommen würde. Die im Sommer 1996 ausgehandelte Übereinkunft zwischen der Union und Großbritannien stellte entsprechend auch wenig mehr als einen billigen Kompromiß dar. Die eventuelle Aufhebung des Embargos wurde nicht an die Ausrottung der Seuche gekoppelt, sondern lediglich an die Umsetzung einer Reihe von Maßnahmen, die gewährleisten sollten, zwischen infiziertem und nicht-infiziertem Fleisch unterscheiden zu können.

In anderen Mitgliedstaaten zeigte sich die Politik ebenfalls unfähig. Weder kam es in den folgenden Jahren zu einem umfassenden Verbot der Verfütterung von Kadavermehl noch zu einer obligatorischen Einführung von Schnelltests oder gar einer Problematisierung der industriellen Massentierhaltung. Insbesondere Deutschland tat sich hier als Bremser schärferer europäischer Regelungen hervor. Die Ausbreitung von BSE in der Schweiz, in Frankreich und in Portugal stellt im grenzenlosen Binnenmarkt nur die Spitze eines Eisberges dar, dessen wahre Größe sich – bei entsprechenden Kontrollen – auch in anderen Mitgliedstaaten beobachten lassen dürfte. Ökonomische Interessen und die wohlorganisierten Agrarlobbies mit ihren ministerialen Cheflobbyisten setzten sich auf mitgliedstaatlicher Ebene nach 1996 ebenso durch wie zuvor auf europäischer Ebene und ließen Konsumenteninteressen zu einer vernachlässigbaren Restgröße degenerieren.

Auch die Wissenschaft versagte in der BSE-Affäre kläglich. In unseren hochtechnisierten Risikogesellschaften sind wir zunehmend darin geübt, komplizierte technisch-wissenschaftliche Fragen Expertengremien zu überantworten und uns auf deren fachliche Kompetenz bei der Beantwortung von Fragen wie der Sicherheit der Atomenergie oder – in unserem konkreten Fall – der Unbedenklichkeit von Lebensmitteln zu verlassen. Eine oftmals angemessene, manchmal aber auch gefährliche Strategie. 

Das Versagen der Wissenschaft

Unser Vertrauen in die Kompetenz von Expertengremien basiert zu einem hohen Maß auf den Annahmen der Unabhängigkeit und der Objektivität von Experten. Beide Annahmen haben sich in der BSE-Angelegenheit als hochgradig unangemessen erwiesen. Der für BSE zuständige EU-Ausschuß tagte bis 1996 fast immer unter Vorsitz eines britischen Wissenschaftlers und setzte sich vornehmlich aus Wissenschaftlern zusammen, die von der britischen Regierung vorgeschlagen worden waren. Die offensichtliche Parteilichkeit des Ausschußvorsitzenden führte mehrfach dazu, daß ihm andere Mitglieder vorwarfen, bewußt Informationen zurückzuhalten. Wie der Bericht des Untersuchungsausschusses des Europäischen Parlaments ans Licht brachte, versuchte auch die Kommission dahingehend auf das deutsche Gesundheitsministerium einzuwirken, daß vom britischen "Konsens" abweichende Stellungnahmen kritischer Wissenschaftler nicht veröffentlicht und diese angehalten wurden, ihre Meinung für sich zu behalten.

Der Unabhängigkeit von Wissenschaften ebenfalls abträglich war (und ist noch heute), daß wissenschaftliche Ausschüsse in der EU kein Selbstbefassungsrecht haben, sondern nur dann aktiv werden, wenn die Kommission sie befragt. Wissenschaftliche Expertise greift lediglich dort in die Entscheidungsfindung ein, wo die Kommission es für angebracht hält, und antwortet nur auf die Fragen, die ihr gestellt werden. Auch hier wiederum kann nicht ausgeschlossen werden, daß bei der Frage der Befassung eines wissenschaftlichen Ausschusses mehrere Kalküle zusammenspielen, wobei Fragen der Risikovorsorge nicht immer dominant sein müssen. Gerade im BSE-Fall drängt sich die Befürchtung auf, daß der zuständige wissenschaftliche Ausschuß von der Kommission zur zusätzlichen Legitimierung politisch opportuner Argumente benutzt und nur dort gefragt wurde, wo entsprechende Antworten erwartet werden konnten.

Nicht nur die Naturwissenschaft, sondern auch die Politikwissenschaft muß sich hier Kritik gefallen lassen. Die oftmals ins Affirmative umschlagende analytische Begeisterung für das "nicht-hierarchische Mehrebenensystem" der EU droht unsensibel gegenüber der Realität von Machtdifferentialen und Politikblockaden zu sein. Hier gilt es, künftig die klassischen Kategorien von Macht und Interesse wieder dahin zu stellen, wo sie hingehören: ins Zentrum der Analyse. Die Politikwissenschaft hat sicherlich nicht zur Entstehung von BSE beigetragen. Ihr Anteil an der Verhinderung einer Wiederholung steht allerdings noch aus. 

Begrenzte Rationalität

In den vergangenen Jahren sind seitens der europäischen Institutionen eine ganze Reihe von Reformen eingeleitet worden, die eine Wiederholung derartiger Mißstände verhindern sollen. Die Unabhängigkeit der Wissenschaft wurde gestärkt, die Behandlung der BSE-Affäre den Agrarlobbyisten der Kommission entzogen und den Gesundheitsexperten überantwortet und eine ganze Reihe von Rechtsakten zur Ausrottung der BSE-Affäre verabschiedet. Zumindest in Deutschland ist die Verfütterung von Kadavermehl verboten und verbindliche Schnelltests werden wohl demnächst eingeführt. Das ist auch nicht zu kritisieren. Es bleibt allerdings noch sehr viel mehr zu tun. Noch immer finden legislative Beratungen des Ministerrates zu BSE (ebenso wie zu den meisten anderen Fragen) hinter verschlossenen Türen statt, rangiert das Vorsorgeprinzip in der EU hinter dem Unbedenklichkeitsprinzip, ist der Kannibalisierung von Pflanzenfressern in anderen Mitgliedstaaten der EU kein effektiver Riegel vorgeschoben und gelten außerordentlich hohe Anforderungen, um Importe aus gefährdeten Gebieten der Gemeinschaft (Portugal, Frankreich) zu untersagen.

Der eigentliche Skandal – und die eigentliche Ursache von BSE – liegen allerdings nicht nur in den institutionellen Defiziten von Politik und politisierter Wissenschaft, sondern vielmehr in der unsäglichen Praxis einer industriell pervertierten Massentierhaltung. Keine noch so nachhaltige Reform der politischen Institutionen wird verhindern können, daß Massentierhaltung auch zukünftig Massenrisiken produziert. Es wird immer wieder dazu kommen, daß die Institutionen, an die wir die Aufgabe der Gestaltung öffentlicher Ordnung delegiert haben, von einseitigen Sondergruppen oder politischen Partikularinteressen in Geiselhaft genommen werden.

Die einzig schlüssige Lehre aus der BSE-Geschichte umfaßt daher drei Aspekte: die Politik vom Einfluß (agrarischer) Sonderinteressengruppen befreien, die Wissenschaft vor ihrer Instrumentalisierung durch die Politik bewahren und – wohl am wichtigsten – entweder die Massentierhaltung schlicht verbieten oder unsere Ernährungsgewohnheiten grundlegend umstellen. Die Vermeidung weiterer BSE-Dramen gelingt nur dann, wenn wir zu einer Logik der Selbstbegrenzung übergehen, die nur so viel Fleischproduktion zuläßt, wie sich unter Nutzung natürlichen Düngers und artgerechter Ernährung realisieren läßt.

Daß die Politik die hierfür nötige Umorientierung wird durchsetzen können (oder wollen), dürfte allerdings eher unwahrscheinlich sein. Agrarinteressen sind nach wie vor außerordentlich gut organisiert und verfügen – im Gegensatz zu allen anderen Wirtschaftsbranchen – sogar über einen eigenen Minister. Ein Ausweg aus dieser Situation ist nur dann geboten, wenn wir uns selbst wieder als kompetente Entscheider in Fragen öffentlicher Risiken akzeptieren und die in der Risikogesellschaft angelegte Abgabe ethischer Mündigkeit an die Großinstitutionen von Politik und Wissenschaft zu revidieren bereit sind. Dann aber liegt in der BSE-Krise auch die Chance, qua Einsicht in die begrenzte Rationalität von Politik und Wissenschaft, die Notwendigkeit individueller Verantwortlichkeit zu erkennen. Hieraus darf allerdings keine Entlastung der Politik abgeleitet werden. Die Politik bleibt in der Pflicht, dem Bürger über verbindliche Transparenzgebote an die Produzenten von Risiken diese Wahrnehmung von Verantwortlichkeit überhaupt erst zu ermöglichen.