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Entwurf einer sozialen Aufhebungsbewegung

Dieses Skript entstand in Auseinandersetzung mit der "radikalen Wertkritik" der Gruppe "Krisis" und ihrem "Manifest gegen die Arbeit".

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Ich will versuchen, an ihren Stärken anzuknüpfen, ohne die Schwächen ihrer Herangehensweise gesondert darzustellen. Da ich nicht voraussetzen kann, dass sich alle Leser/innen dieses Textes mit der "Krisis" auseinandergesetzt haben, werde ich etwas grundsätzlicher und dialogisch an das Thema "soziale Aufhebungsbewegung", von dem auch im Manifest und dem Buch "Feierabend" viel gesprochen wird, heran gehen. Der Text gibt hiermit Diskussionsprozesse, die sich anhand des im März gehaltenen Referates im "Zielona Gora" innerhalb der Gruppe "Feierabend"/Berlin ergeben haben, wieder.

Warum eine soziale Aufhebungsbewegung? Was bedeutet das "Soziale" und was ist "Aufhebung"?

 Die bürgerliche Gesellschaft ist ebenso eine endliche Gesellschaft, wie es die Antike und der Feudalismus waren. Der heutige Kapitalismus ist zu einem Desaster für den Großteil der Menschheit geworden. Trotz Wissenschaft, gigantischer Produktivität und Reichtums verhungern immer mehr Menschen und der Erdball wird mit immer bestialischeren Kriegen überzogen.

Diese Gesellschaft, der Kapitalismus, beruht auf der Selbstverwertung des Wertes auf Basis einer immer höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals, was auch "Kapitalakkumulation" genannt wird (siehe dazu z. B. heute die gigantischen Fusionen). Aufgrund der 3. industriellen Revolution wird aber das Wertgesetz zunehmend ausgehöhlt und untergräbt damit das Gefüge der politischen Ökonomie. Die bürgerliche Gesellschaft gerät damit aber nicht nur politisch sondern auch als soziale Struktur zunehmend in Krise. Damit ist tatsächlich eine Zeit der Revolution herangereift. Die Öffentlichkeit spricht seit geraumer Zeit von der "wissenschaftlich-technischen" und "medialen" Revolution. Diese muss mit einer sozialen einhergehen und verlangt von uns Vorstellungen einer Alternative sowie einer Strategie der Aufhebung.

Bewegung bedeutet für mich, dass sich viele Menschen mit ähnlichen Interessen und Motiven zusammenfinden und ihre Kräfte bündeln. Innerhalb einer konkreten Praxis ihrer sozialen Aktivität lernen sie voneinander ihre Fähigkeiten und Kenntnisse zu entwickeln, als auch ihre Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten kennen, die von anderen nach Möglichkeit korrigiert und ausgeglichen werden. Sie erfahren Solidarität und neues soziales Vermögen und konkretisieren Wünsche, Hoffnungen und Vorstellungen in klarer definierte Ziele. Gleichzeitig kommen immer mehr Menschen hinzu, die sich durch dieses Ziel angezogen fühlen und eine Verbesserung ihrer sozialen Situation erhoffen.

Die soziale Bewegung negiert die lediglich politische Herangehensweise, da letztere Administration, Verhandeln, Taktieren mit der politischen Macht impliziert. Die soziale Bewegung ist auch im Kern antidemokratisch, da sie von der Notwendigkeiten der nächsten Schritte und den Fähigkeiten der engagierten Kräfte ausgeht - und sich nicht an Mehr- oder Minderheiten orientiert. Im übrigen wird durch den quantitativen Mehrheitsfetisch die Qualität unterdrückt und negiert.

Ferner wird nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gehandelt. Um diese nun mit demokratistischen Abstimmungsriten zu konfrontieren: Welche Bedeutung hätte es, wenn darüber abgestimmt werden würde, ob das Schwerkraftgesetz auf der Erde gültig ist? Damit will ich hier nur andeuten, dass je stärker wir uns von wissenschaftlichen Erkenntnissen leiten lassen, umso weniger brauchen wir die demokratische Form. Und jetzt noch ganz einfach: Die soziale Bewegung stellt sich konkreten sozialen Aufgaben und ist kein Debattierclub.

Was aber heißt "Aufhebung"?

Aufhebung bedeutet dreierlei:

1. Überwindung dessen, was nicht mehr gebraucht wird, was also anachronistisch und schädlich für die neue Gesellschaft ist (was also fallengelassen wird)

2. Die Aneignung dessen, was unter den gegebenen Verhältnisse und für die Zukunft brauchbar und notwendig ist

3. Die Transformation des Brauchbaren/Nützlichen auf eine höhere gesellschaftliche Ebene (hegelianisch gesprochen: wo dann das Rationale, der Verstand, zur Vernunft wird)

Aber braucht man dann nicht doch schon klare Vorstellungen der zukünftigen Gesellschaft? Oder nach welchen Kriterien willst Du "nützlich" und "schädlich" definieren?

Ja und nein. Denn zum einen haben viele Forschungen bereits herausgefunden, was für den Menschen förderlich ist und welche Faktoren für den menschlichen Selbstwerdungsprozess hinderlich sind, was natürlich auch für die Umwelt (also "Ökologie") gilt, zum anderen kann dies im Grunde jeder Mensch für sich definieren. Wir sollten deshalb Umfragen zum Begriff der Lebensqualität machen. Dies muss natürlich im kritischen und reflektierten Dialog geschehen, um von der bloßen Gewohnheit einer banalen "Gemütlichkeit" oder abstrusen Wunschvorstellungen wegzukommen, die das Elend gebiert.

Aber jede soziale Bewegung fängt zumeist damit an, dass viele einfach nicht mehr so weitermachen wollen, wie bisher und von der Unzufriedenheit getrieben werden. Mir geht es beim Entwurf einer zukünftigen Gesellschaft um ein neues Wesen des Zusammenlebens. Und das heißt für mich, dass die Menschen sich und das Leben als Geschenk wahrnehmen und füreinander qualitätsvolle Geschenke produzieren. Dann können wir als Lebewesen auch das Leben wieder genießen. Wenn ich produktiv tätig bin, dann arbeite ich nicht, sondern ich genieße mich bereits im Schaffungsprozess dessen, was ich herstelle. Ich produziere damit gleichermaßen für mich und meinen Genuss wie für den anderer Menschen. Das ist so, wie wenn du liebst und dich darauf freust, dass dein Geliebter/deine Geliebte mit dir Essen will. Du besorgst voller Freude all die Zutaten, dir macht das Kochen Spaß, und wenn das Essen fertig ist und er/sie kommt und ihr dann bei schöner Musik oder einem schönen Gespräch zusammen speist, ist das die Abrundung des Genusses.

Oder z. B. wenn du Kinder sehr magst und mit ihnen etwas bastelst, womit ihr dann später zusammen spielt. Daraus entsteht eine produktive Kraft, die sich die lästigen Notwendigkeiten unterzuordnen weiß und auch sie lässig bewältigt.

Ich will damit nur sagen: Der wesentliche Unterschied der Gesellschaft, die ich anstrebe, zu der, die wir jetzt haben, ist der, dass in meiner Gesellschaft die Menschen mit- und füreinander leben. In der heutigen konkurrieren sie gegeneinander und vermiesen sich dadurch das Leben.

Aber bist Du da nicht zu idealistisch? Wollen nicht die Menschen von klein auf miteinander im Wettbewerb stehen?

Menschen vergleichen sich mit anderen, um ihre Einzigartigkeit herauszufinden. Dabei suchen sie natürlich nach Unterschieden, unterschiedlichen Fähigkeiten. Aber Kinder ahmen zumeist nur das Konkurrenzgehabe ihrer Eltern nach, wenn sie gegeneinander in Wettbewerb treten bzw. wollen als "die Besseren" von anderen beklatscht werden. Bei sportlichen Aktivitäten wollen sie aber auch ihren Körper "herausfordern" und ihr "Wettlaufen" ist mehr Spiel, denn Konkurrenz gegeneinander. Aber das ist je nach Sozialisation und Alter natürlich unterschiedlich.

So wie ich dich verstanden habe, kritisierst du auch die Arbeit und stimmst mit der "Krisis-Gruppe" darin im Wesentlichen überein, oder?

Ich selbst "arbeite" ja auch schon lange am "Arbeitsbegriff" und seiner Transformation. Ich werde jetzt einfach mal sagen, was ich dazu denke:

Fangen wir also nun mit der Begriffsdefinition von "Arbeit" an:

Arbeit ist - nach Marx - zunächst einmal der Stoffwechselprozess des Menschen mit der Natur, d. h. dass der Mensch sich die Natur und die in ihr schlummernden Kräfte aneignet und für seine Zwecke anwendet, wodurch er seine eigene Natur verändert. Mittels der Arbeit, d. h. dem Vermögen, Werkzeuge herzustellen, schuf sich der Mensch gleichzeitig das soziale Verhältnis, diese Werkzeuge und Maschinen in komplexen Gefügen (also gesellschaftlich) anzuwenden und weiter zu entwickeln sowie eine Vielzahl von Gütern/Produkten damit herzustellen, die seinen persönlichen Bedarf überstiegen, woraus sich dann der Austausch, aber auch zunehmende Professionalisierung entwickelte.

Arbeit aber ist damit also auch ein gesellschaftlicher Akt, d. h. das Individuum setzt sein Vermögen mittels eines Produktes in die Welt, um sich darin zu erkennen und von anderen Gesellschaftsmitgliedern anerkannt zu werden. Arbeit ist dem gemäß auch Vergegenständlichung der Empfindungen des Individuums in Kultur und Ästhetik, d. h. er setzt seine Wahrnehmung über sich und seine Vorlieben sowie (gesellschaftliche) Probleme in Musik, Malerei, Bildhauerei, Theater etc. um. Dieser Anteil von Arbeit am menschlichen Sein ist nur dadurch fremdbestimmt, indem er zur Ware gemacht wird.

Freilich ist Arbeit zuerst einmal natürlich Notdurft, d. h. um nicht zu verhungern und zu darben, musste der Mensch sich die Natur aneignen. In der ursprünglichen Gemeinschaft war dies noch ein kollektiver Akt. Die Zuschreibung eines Teils der Menschheit auf Arbeit, während ein anderer Teil sich den Regierungsgeschäften, der Religion, der Philosophie und den Künsten widmen konnte, begann mit der Entstehung des Privateigentum und des Patriarchates, das Frauen und Sklaven das Menschsein absprach und sie zu "animal laborans" machte.

Die Arbeit, die von unserer Seite besonders kritisierenswert ist, ist diejenige, welche Klassenverhältnisse schafft und zementiert, da eine spezifische Klasse den gesamten Reichtum schafft, während ihr lediglich die Notdurft, das nackte Überleben gestattet wird, ohne an den von ihr produzierten Reichtümern zu partizipieren.

Wie wir wissen, wurde aus dem Sklaven des Altertums der Leibeigene des Feudalismus und dieser zum heutigen modernen Lohnarbeiter, der seine Arbeitskraft als Ware verkaufen muss. Im heutigen Lohnarbeiter, dem Proletarier ist also sowohl der Sklave wie auch der Leibeigene "aufgehoben". Wenn wir also die heutige Arbeit kritisieren, dann negieren wir die Lohnarbeit und mit ihr alle anderen fremdbestimmten und sklavenähnlichen Tätigkeiten. Dies umfasst dementsprechend auch die Arbeit in der Reproduktionssphäre des Kapitals, in der insbesondere Frauen arbeiten.

Wenn wir die Lohnarbeit kritisieren, dann negieren wir ebenso die Kapitalakkumulation, die das Resultat der Lohnarbeit ist. Wir kritisieren ebenso den Staat des Kapitals wie auch alle gesellschaftlichen Rollen und Institutionen, die ihm huldigen, inklusive seinem gesellschaftlichen Verhältnis: der Ware-Geld-Beziehung.

Die Aufhebung der Arbeit kann nur durch eine soziale Aneignungs- und Aufhebungsbewegung ins Werk gesetzt werden, die sowohl die Arbeit wie auch die Technologie transformiert, um die menschliche Tätigkeit und Güterproduktion den Wertkriterien zu entreißen. Dies betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche, da der Wert und die Ware-Geld-Beziehung eine Totalität ist. Diese Totalität des Produktionsverhältnisses ist im Kern geprägt durch Klassenherrschaft, die sich auf immer weniger Agenten beschränkt, die die gesellschaftliche Produktion dirigieren, sowie durch einen gesellschaftlicher Vermittlungsmodus, den Markt, auf dem sich die Arbeitsquanten über die Vermittlung des Geldes und in Bezug auf das Geld austauschen. Die Klassenherrschaft ist jedoch durch die ökonomische, soziale und politische Krise in sich bereits so brüchig geworden, dass sie durch Aktivitäten des Proletariats (wenn wir es schaffen, den schlafenden Riesen wach zu küssen) wie ein Kartenhaus zusammenbrechen wird. Wichtig erscheint deshalb eine Doppelstrategie, die kein "Bündnis gegen die Arbeit" ist, sondern den Kern einer sozialen Aneignungsbewegung ausmacht: Eine konsequente Verweigerungshaltung dem Wert und dem Eigentum gegenüber mit dem gleichzeitigen Aufbau neuer Produktionsorganisationen, die die gesellschaftlichen Produktivkräfte in Besitz nehmen und für neue, soziale Zwecke anwenden sowie einer Distribution, die den alten und neuen Bedürfnissen der gesellschaftlichen Produzenten und "User" "gerecht" wird. "Gerecht" nicht im Sinne abstrakter Juristik sondern gemäß dem, was die genossenschaftlich organisierten Verbraucherräte für Bedürfnisse artikulieren. Dies bedeutet, dass die Produktion sich nach den konkreten Lebensbedürfnissen der Individuen richten muss. In diesen Genossenschaften oder Konsumtionsräten sind die produktiven Konsumbedürfnisse aller Individuen zusammengefasst.

Diese Gleichzeitigkeit von Produktion und Konsumtion ist im Grunde durch die mikroelektronische Revolution gegeben. Der PC ist heute sowohl Produktions- wie auch Reproduktionsinstrument und gleichzeitig Vermittlungswerkzeug via Internet.

Darin existiert der Wert und das "geistige Eigentum" in vielen Bereichen faktisch nicht mehr. Was da an Wertkriterien hineinprojiziert wird und z. T. mit dem Habitus von Seifenopern auch versucht wird zu materialisieren, ist mehr oder weniger psychologisch bedingt. Dies sieht man auch an solchen Termini wie "Aufmerksamkeitsökonomie".

Die vielen Foren im Internet kann man fast mit permanenten Vollversammlungen (zeitlich verschoben) vergleichen, in denen sich die Rezipient/innen permanent austauschen und voneinander lernen. Es ist quasi eine permanente "Geschenkökonomie", in der die einzelnen Teilnehmer/innen ihr Können und Wissen einbringen und wieder von dem anderer partizipieren. Tolle Freewareprogramme werden uns geschenkt und Linux ist ein kollektiver Arbeitsprozess, in dem sehr viel experimentiert wurde und wird. Ich sage hier "Geschenkökonomie" unter einem anderen Gesichtspunkt als z. B. das, was "Potlatsch" bedeutet. Das sich Beschenken ist aber noch nicht losgelöst von der Ökonomie, da diese immer noch die Voraussetzung ist und dementsprechend auch Menschen ausgrenzt. Denn nach wie vor müssen wir für die Nutzung der Netze zahlen (Telefonkosten) und die Hardware kaufen etc. Ferner verlangt die fundierte Nutzung der neuen Kommunikationsagenzien ein spezifisches Wissen, das mit viel Aneignungszeit verbunden ist. Und denen, die noch zu sehr in der Tretmühle des Überlebens gefangen sind, fehlt diese Zeit zur Besinnung und Besinnlichkeit, um sich selbst inmitten dieser wissenschaftlich-technischen Revolution als Produktivkraft und revolutionäres Subjekt zu entdecken.

Ich weiß das, weil ich aus einer Arbeiterfamilie komme. Ich brauchte sehr lange um festzustellen, wie genussvoll es sein kann, Theorien zu lesen und zu reflektieren bzw. sich philosophischen Fragen zu widmen. Früher habe ich auch abwertend "Hirnwichserei" dazu gesagt.

Damit aber ist gesagt, dass sich da eine Revolution im gesellschaftlichen Überbau abspielt, die noch nicht die gesellschaftliche Basis und Hardware erreicht hat. Darin deutet sich aber auch die Grenze und Beschränkung vieler der Projekte an. Die Betriebsprogramme - und damit auch Linux - werden immer noch von den Wertgiganten dominiert und leider zunehmend vereinnahmt und eigentlich ernst zu nehmende "Geschenkökonomen" für werbewirksame Seifenopern eingekauft. Es wird Zeit, dass wir dem Einhalt gebieten, was aber nicht nur innerhalb des Internet passieren muss, sondern wir müssen uns vor allem der Hardware, d. h. unseren Existenzvoraussetzungen widmen.

Du hast nun sehr lange Ausführungen gemacht, die fast den Charakter eines Referates annehmen. Komm doch bitte wieder konkret auf das Ausgangsthema "soziale Aufhebungsbewegung" zu sprechen.

O. k. Eben hatte ich ja bereits angedeutet, dass die neue soziale Bewegung sowohl zu Formen der Vollversammlungen wie auch Räten greifen wird, um das Leben aller Menschen bedürfnisgerecht, sinnvoll und kreativ zu gestalten. Es ist klar, dass dann nicht mehr das Geld im Mittelpunkt steht, sondern das konkrete Bedürfnis des Individuums und die direkte Kommunikation, zur Befriedigung dieses Bedürfnisses, die sich der modernen Kommunikationsmittel und Produktivkräfte zu bedienen weiß.

Zuerst einmal gilt es, nicht nur Bewusstsein für diese soziale Bewegung, sondern auch reelle Treffpunkte und Austauschorte im real live zu schaffen, um nicht nur die Ideen, sondern auch die subjektiven Kräfte zu bündeln. Und da wir zu den Habenichtsen gehören, bleibt uns erst einmal nur die Straße. Also "reclaim the streets!" Dabei darf es aber nicht stehen bleiben.

Wie in allen sozialen Revolutionen wird bei dem Notwendigen im Reproduktionsbereich angefangen: den konkreten Lebensmitteln, zu denen heute sowohl die Nahrungsmittel, Wasser, Elektrizität, wie auch die Häuser/Wohnräume gehören. Die soziale Aneignungsbewegung muss natürlich schnellstens auf die Medien und die modernen Telekommunikationsnetze und reelle Transportagenzien ausgedehnt werden, damit die gesellschaftliche Vermittlung der Bewegung und ihre Bedürfnisartikulation sich dynamisch weiterentwickeln kann. Und natürlich wird jeder/in darin gebraucht, auch alle, die als gesellschaftlich "nutzlos" gelten. Um dahin zu kommen, müssen wir Feste organisieren, auf denen wir untereinander bereits die community vorwegnehmen, d. h. uns untereinander beschenken.

Eine soziale Aufhebungsbewegung kämpft für den umfassenden Nulltarif, denn sie ist ja primär erst einmal eine soziale Aneignungsbewegung.

Wenn du vom "Nulltarif" sprichst, stellst du dich damit gegen die, die das "Existenzgeld" fordern?

Unter denen, die das fordern, gibt es sicherlich eine Reihe von Menschen, die einen emanzipatorischen Anspruch haben und die Lebensbedingungen der Erwerbslosen verbessern wollen. Aber sie arbeiten leider damit der Gegenseite mit ihren Bürgergeldvorstellungen zu. Emanzipatorisch kann es auch gar nicht sein, Forderungen an den Staat zu stellen, in rein quantitativen Geldfetischvorstellungen kleben zu bleiben und völlig an der Produktion vorbei rein zirkulationsideologisch zu agieren. Diese Gruppen haben keine wirkliche Ökonomiekritik, d. h. es fehlt ihnen völlig das werttheoretische Fundament, damit auch die Krisenanalyse. Mein wichtigste Kritik daran ist aber, dass jegliche Eigeninitiative und Selbstorganisierung der Habenichtse nur hinter die Politik, hinter den Staat gebracht wird und die Eigentumsfrage gar nicht gestellt wird.

Der Kampf um Nulltarif dagegen bedeutet ein reelles subversives Handlungsfeld und führt zu einer Selbstorganisierung, die aktionsbereit ist. Und um hier ganz konkret zu werden: Es ist doch ein Unterschied, ob ich vom Staat mehr Wohngeld fordere und einen Antrag nach dem nächsten stelle, inkl. Unterschriftslisten mache, oder Haus- und Stadtteilversammlungen durchführe, um die Miete kollektiv zu mindern bzw. gar nicht mehr zahle. Es ist ein Unterschied, ob ich vom Staat ein Arbeitslosenticket fordere und währenddessen Monat für Monat die hohen Fahrtkosten zahle, oder ob ich hier und jetzt in den Fahrkartenkaufstreik trete [und das Geld, was ich dadurch einspare, lieber in soziale Projekte investiere] und Aktivitäten gegen die permanenten Kontrollen organisiere.

Meines Erachtens nach hat auch die Existenzgeldforderung entscheidend dazu beigetragen, dass die Erwerbslosenproteste "den Bach runter gingen".

Diejenigen, die immer noch daran festhalten, sollten sich in aller Ruhe mal den Artikel von Ernst Lohoff im Buch "Feierabend" und das Wildcat-Zirkular Nr. 46/47 dazu durchlesen.

Kannst du jetzt etwas mehr zur Nulltarifkampagne sagen?

Diese entwickelte sich aus Gesprächen mit Kindern zum Valentinstag. Sie sagten, dass diejenigen, die sich lieben, sich doch jeden Tag etwas schenken sollten und nicht nur einmal im Jahr. Wir kamen dann auch auf "Alice im Wunderland" zu sprechen. In diesem Kinderbuch gibt es auch zwei Gestalten, die täglich "Nichtgeburtstag" feiern und nur einmal im Jahr nicht feiern: nämlich dann, wenn sie Geburtstag haben. Wir kamen dann darauf, wie schön es wäre, wenn sich die Menschen täglich untereinander beschenken würden. Kinder tun das eigentlich schon - und wenn es nur ihr Haarband ist oder ein Bild, was sie gemalt haben...

(Hier fällt mir gerade auf, dass ich mit "nur" bereits schon wieder die Geringschätzung des Erwachsenen gegen die kindliche Freude des Schenkens ausdrücke, denn ein Bild kann für ein Kind sehr viel bedeuten, und es tut dem Kind weh, wenn dieses Geschenk nicht genug beachtet wird)...

Deshalb leiden Kinder besonders unter den Kosten des Überlebens und der Ware-Geld-Beziehung. Das zerstört das Geschenk, die Gabe, das Spiel. Ich habe dann angefangen, mit Kindern in der U-Bahn zu spielen und habe auch Erwachsene in das Spiel mit involviert. Das hat vielen großen Spaß gemacht. Wir haben uns gemeinsam in der U-Bahn engagiert, also etwas von uns gegeben. Deshalb kann man unser Verhalten nicht mit "Beförderungserschleichung" ahnden. Denn indem wir miteinander produktiv kommunizieren, verhindern wir gleichzeitig, dass die Scheiben zerkratzt, Menschen geschlagen oder Sitze aufgeschlitzt werden.

Wurdet ihr kontrolliert?

Nein. Wurden wir nicht. Ich habe den Kindern gesagt, dass ich - falls wir kontrolliert werden - alles auf "meine Kappe" nehmen würde und dann sage, dass ich sie ja eingeladen hätte. Aber wir haben Glück gehabt. Aus diesen Erfahrungen sind noch mehr Ideen entstanden, die zuerst einmal die öffentlichen Verkehrsmittel betreffen. Ich finde es krass, dass die BVG 20 Millionen DM in Video-Überwachungstechnologie investieren will.

Ferner sollen einige U-Bahnen mit Glotzen und dümmlichen Programmen ausgestattet werden und die Zugangssperren sind auch nicht mehr fern. Das wird das repressive und destruktive Klima in den öffentlichen Verkehrsmitteln verstärken. Ich bin eher dafür, dass z. B. Hinter-Glas-Graffities mit z. B. abwaschbaren Folienstiften in den U- und S-Bahnen durchgeführt werden, die auch prämiert werden. Puppenspieler und Theatergruppen sowie Straßenmusiker könnten in den U-Bahnen auftreten. Es könnte darin eine lebendige Kommunikation einsetzen und das U-Bahnfahren würde dadurch zu einem schönen Erlebnis. Also ich denke, dass die Mittel - statt sie Siemens in den Rachen zu schieben - in soziokulturelle Projekte in der U- und S-Bahn investiert werden sollte.

Halten sie an ihren Plänen fest, so muss von unserer Seite der zivile Ungehorsam ausgeweitet werden.

Doch wieder zurück zur Kampagne "00-Tarif im 00-Jahr": Als die Überlegungen dazu entstanden kochte immer noch der Schwarzgeldskandal. Auf den Punkt gebracht: Wer Geld aus Waffendeals erhält, der unterstützt mafiöse Tendenzen. Denn in vielen Ländern wird der Waffenkauf mit Drogengeschäften finanziert. Ein Großteil der Schwarzgelder stammt bekanntlich aus Waffendeals. Und was wir heute sehen ist, dass Angela Merkel als heilige Unschuld dieser Mafiabande das Image der "unbefleckten Empfängnis" verleiht und alles läuft so weiter wie bisher. Mich macht das unheimlich wütend. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass die kleinen "Schwarzfahrer" mit Gefängnisstrafen überhäuft werden. Als ich wegen Beförderungserschleichung eine Vorladung zur Polizei erhielt, schrieb ich deshalb an sie: "Bitte melden Sie sich doch erst wieder bei mir, wenn mein Schwarzfahrerkonto die gleiche Höhe aufweist, wie das Schwarzgeldkonto der CDU. Im Gegensatz zur CDU stammt ja bekanntlich mein ‚Schwarzgeldkonto' nicht aus illegalen Waffengeschäften, wodurch es zweifelsfrei erwiesen ist, dass ich wesentlich weniger kriminelle Energie besitze, als die Parteien der Herren der Macht."

Mittlerweile habe ich einen Strafbefehl bekommen und soll entweder DM 501,- zahlen bzw. 15 Tage ins Gefängnis. Ich werde das nicht protest- und kampflos hinnehmen und auch deshalb habe ich die Aktivitäten bezüglich der BVG ausgedehnt und weiterentwickelt. Aber es geht ja nicht nur um mich, sondern um alle, die unter ihrem schmalen Einkommen leiden und das hohe Fahrgeld nicht (mehr) aufbringen können.

Also deshalb die Kampagne: "00-Tarif im 00-Jahr". Sie bedeutet: Einstellung der Verfahren wegen "Schwarzfahren" und Tarife, die gegen Null tendieren. Letztendlich wollen wir die doppelte Nulllösung des Tarif- und Preisunwesens anstreben.

Wir fangen damit lediglich bei den öffentlichen Verkehrsmitteln an. Die BVG-Arbeitenden und Kontrolleure, mit denen ich darüber sprach, sagten auf meine Kritik, dass auch sie den Großen Freifahrtscheine geben und die Kleinen hängen: "Aber wir müssen das machen, wir müssen auch unsere Miete zahlen." Deshalb ist auch der Kampf für freies Wohnen erforderlich, damit sie diesen blöden Job nicht mehr ausführen müssen.

Ich denke, wir sollten es den "Tacheles-Menschen" in Berlin nachmachen und ausrufen: "Im Zeitalter des Internet ist jeder Mensch ein Kommunikationskünstler!" - und dementsprechend, wie das Künstler-Projekt Tacheles - nur DM 1,-- pro qm an Miete zahlen. Dazu müssten wir natürlich eine Kampagne führen und insbesondere die Hausverwaltungen, Grund- und Hausbesitzer sowie die Gerichte von der Arbeit befreien, damit wir nicht der Exmittierung zum Opfer fallen. Aber je mehr wir sind, umso mehr Arbeit haben sie und die Gerichte und umso froher werden sie sein, wenn wir sie von dieser Arbeit befreien. Mit der symbolischen Miete von DM 1,-- pro qm werden sicherlich noch nicht einmal die "Betriebskosten" gedeckt sein, aber da wir tendenziell "den Betrieb" übernehmen, dürfte das kein langfristiges Problem darstellen.

Als eine gesellschaftliche "Anti-General-Strategie" gegen die Sparbarei schlage ich einen Kampf um Schuldenerlass vor. Es geht nicht an, dass heute jedes Baby mit einer Staatsschuld von zigtausend Mark auf die Welt kommt und sein Leben lediglich ein Kredit auf Ratenabzahlung ist! Ferner wird ja mit dem Argument, dass der Staat verschuldet ist, rigoros eine weitere Sparpolitik betrieben, die die Arbeitenden um die sekundären Löhne bringt. Auf der einen Seite werden Koffer voll von Schwarzgeldern angehäuft - auf der anderen Seite Gelder gestrichen. Ferner liest und hört "man" ja auch immer wieder, dass Staaten Schulden erlassen werden, damit sie nicht bankrott gehen (was natürlich nach dem Muster abläuft: Eine Kuh, die man noch melken will, darf nicht geschlachtet werden...), Warum also nicht für Schuldenerlass dieses Staates kämpfen, bevor er uns noch mehr auf die Schlachtbank führt? Ich bin mir sicher, dass dieser vernünftige Vorschlag von vielen Menschen angenommen wird.

Sicherlich hört sich das, was ich hier als Aufhebungsstrategie anskizziert habe, noch etwas surrealistisch an, aber wenn wir dies in die Praxis umsetzen, dann wird das eine sehr schöne Realität für uns werden und wir können dann gemeinsam ein schönes Manifest für die Aufhebung der alten Scheiße, den Kapitalismus, schreiben und dieses Manifest bereits mit empirischen Er(-sie-)fahrungen anreichern. Ich lade Euch alle ein, an diesem sozialen Experiment teilzunehmen und Euer Können und Wissen darin einzubringen.

Wir brauchen Spendensammler/innen, Flugblattverteiler/innen, Musiker/innen, Dichter/innen, Festorganisator/innen, Köch/innen, Maler/innen - einen VW-Bus, mit dem wir Musikanlagen und Geschenke transportieren können etc. Wir brauchen ferner Menschen mit Mut und Begeisterung! Ein solches Projekt sollte auch den Menschen als Gattungswesen in sich tragen. Dies bedeutet vor allem, dass wir Aktivitäten entfalten müssen, die die Kinder in unsere Mitte aufnehmen.

Die Mitte, der Nexus, der für uns wichtig ist, ist der Mensch als soziales Gattungswesen und nicht die nationale Identität, wie sie Schröder propagiert!

Ihr alle seid herzlich eingeladen, daran teilzunehmen. Und wenn wir die soziale Aufhebung praktizieren, wird es niemandem schlechter, sondern allen besser gehen! Indem wir als neue soziale Gemeinschaft agieren, werden wir feststellen, welche "Arbeitsprodukte" sozial sinnvoll und welche nutzlos und schädlich sind. Diese Gesellschaft ist reich an Wissenschaft und Kapazitäten, die wir jederzeit bei Fragen nach qualitätsvollen Gütern einbeziehen können. Das wichtigste aber wird für die Zukunft sein, dass wir Güter mit menschlicher Güte herstellen und wir in einen Lebensprozess hineinwachsen, der gleichzeitig ein Liebesprozess ist!!! Und dieser ist zweifellos kein abstraktes Bündnis, sondern eine soziale Bewegung!!!

@ngelika,
für die Gruppe "Feierabend"
Berlin im März-Mai 2000
initiative menschliche emanzipation
mobil: 0177-636 81 67

v.i.S.d.P.: K. Matuschewski, Grünbergerstr. 73, 10245 Berlin