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Ein Seminarpapier
Das Paradebeispiel (?)
Summerhill - Mythos und Realität


von Angelika Thaller, Maria Hallitzky, Stefanie Frische
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0. Schulschwänzer - eine indiskrete Liste (vgl. Hammelmann, I. in Ludwig, S. 232)

 


1. Alexander Sutherland Neill - Skizzen zur Biographie

1.1.Neills Verhältnis zu Politik, Religion und Sexualität - Anknüpfungspunkte der 68er-Bewegung

Ist Neill politisch interessiert ? Neill wird häufig als völlig unpolitisch beschrieben. Bisweilen gipfelt diese Aussage in dem dem Vorwurf, eine teure Privatschule für wohlhabende Kreise zu leiten und es abzulehnen, Kinder zu politischem Bewusstsein geschweige denn zum Klassenkampf zu erziehen.

Ursache solcher Etikettierungen sind aus dem Zusammenhang gerissene oder ungenau, zum Teil gänzlich falsch interpretierte Aussagen Neills selbst:

Zwar behauptet er, Politik sei nicht seine Sache, interessiere ihn nicht: "Ich bin nie in einer Partei politisch oder auf andere Weise aktiv geworden." (Neill, A. S.: Neill, Neill, Birnenstiel! Erinnerungen des großen Erziehers A. S. Neill, Reinbek 1982, S. 246)

Tatsächlich schwankte er zwischen der unabhängigen Sozialdemokratie und den Kommunisten. 1913 trat er der Labour Party bei und es bleibt offen, ob er aus dieser wieder ausgetreten ist, da er der Unabhängigkeit der Schule wegen sich nicht politisch festlegen wollte und parteipolitisches Engagement auch bei seinen Mitarbeitern nicht gerne sah. Andererseits bezeichnete er sich 1917 als den einzigen Kommunisten des Dorfes und forderte auch später noch zum Sturz des Kapitalismus auf: "Nieder mit dem Kapitalismus! Laßt die Arbeiter die Kontrolle übernehmen! In Rußland taten sie es. Utopia war Wirklichkeit geworden. Eine Welt ohne Profit und Klassen. Das war 1917. Heute, 1972, sind die Arbeiter Schafe, die von gar nicht so freundlichen Schäfern geführt werden." (Neill 1982, S. 262)

Bis 1945 war Neill politisch sogar sehr aktiv. Er organisierte während des spanischen bürgerkriegs Spendenaktionen und half bei der Rettung von Verfolgten des Nazi-Regimes.

Nach der Niederschlagung des Faschismus erhoffte er sich wohl die Herausbildung eines freiheitlich sozialistischen Gemeinwesens und war entsetzt über die restaurativen Tendenzen im eigenen Land und die Konfrontation der kapitalistischen und der kommunistischen Staaten. Angesichts des Stalinismus musste Neill auch seine Hoffnungen in eine sozialistische Revolution aufgeben. Er lehnte den Kommunismus Moskauer Prägung strikt ab und bezeichnete sich - obwohl zutiefst areligiös und atheistisch - als communist im Sinne Jesu, klein und mit c geschrieben. "Es kann sein, dass die Welt weder Glück noch Zufriedenheit finden wird, ehe die letzte Religion tot ist, und zu den Religionen zähle ich auch die niederträchtigen Schwestern K - Kapitalismus und Kommunismus." (Neill 1982, S. 251) Neill hatte nicht seine politischen Grundeinstellungen geändert, sondern infolge der Nachkriegserfahrungen den Parteien reine Macht- und Interessenpolitik und die Unterdrückung der Freiheit des Individuums vorgeworfen. "Ist die Zukunft der Menschen eine Welt von Sklaven, die von einer Elite mächtiger Herrscher gelenkt werden?" (Neill 1982, S. 262) Seine Vorstellungen eines freiheitlichen Sozialismus waren so weit von jeder Realität, dass er sich resigniert aus dem aktiven politischen Geschehen zurückzog. "Ich habe schon lange den Glauben daran aufgegeben, daß sich Reformen auf dem Umweg über die Politik erreichen ließen. Politisch wurde die russische Revolution gemacht, und am Anfang bedeutete sie Freiheit in den Schulen, Freiheit auch des Sexus. Aber jeder, der heute in einem kommunistischen Land diese persönliche Freiheit noch entdecken kann, muß einen Sehfehler haben. (Neill, A. S.: Antiautorität. In: Die Zeit. 30.Okt.1970, S. 25) Ebenso rechnet er mit den westlichen Demokratien ab, insbesondere mit dem eigenen Land: "Ich weiß, daß Demokratie ein Schwindel ist; bei unseren letzten Wahlen in England erhielten die Tories eine Mehrheit, aber die Labour Party und die Liberalen hatten zusammen mehr Stimmen bekommen als die Tries. Doch da die Alternative zur Demokratie die Diktatur ist, können wir die Demokratie nicht aufgeben. Es ist alles so düster. Wenn ich im Fernsehen die Vorwahlen in den USA mit ihren albernen Paraden und Musikkapellen und Fahnen verfolge, bin ich deprimiert und hoffnungslos." (Neill 1982, S. 258)

Zwar klingen Neills Äußerungen resignativ und lassen einen Rückzug aus parteipolitischen oder ideologischen Aktivitäten vermuten. Die Gefahren, die er in den atomaren Rüstungskonzepten der Supermächte verspürte, bewegten ihn aber selbst 78-jährig noch, an einer Sitzblockade vor dem Polaris-Atomraketen- Lager an der Holy-Loch-Base in Schottland teilzunehmen und dafür zwei Tage Haft und eine Geldstrafe bzw. 60 Tage Gefängnis in Kauf zu nehmen. (Kamp, J.- M.: Kinderrepubliken, S. 435) Er blieb bis zu seinem Tod politisch interessiert. Als ein Beleg dafür mag gelten, dass er Abonnent von 4 Tages- und 3 Sonntagszeitungen war.

Ist Neills Erziehung unpolitisch? Auch der Vorwurf, seine Erziehung in Summerhill sei unpolitisch ist im Grunde durch Neills eigene Aussagen bekräftigt worden: "Ich sehe meine Aufgabe nicht in erster Linie in der Veränderung der Gesellschaft, sondern darin, wenigstens einige Kinder glücklich zu machen." ( Neill, A. S.: Theorie und Praxis... 1969, S. 40)

Dem steht die spätere Aussage entgegen: "Politik ist ein Wort, das alles mögliche bedeuten kann. Heute bedeutet Politik Parteipolitik. Es bedeutet: eine ganze Nation durch eine ausgewählte Gruppe regieren zu lassen, ob sie in einer Wahl gewählt wird oder nicht. Diese Leute sind sehr mächtig und sie kontrollieren die Erziehung. Ich möchte eine Menge Kinder erziehen, die nicht in der Gewalt dieser Leute sein wollen - die von diesen Politikern nicht geführt werden wollen, von diesen Leuten, die an Kriege glauben, an arm und reich. Ich möchte, daß diese Kinder so frei sind, daß sie keiner führen kann. Sie können kein Summerhill-Kind führen. Es würde keinem folgen. Das ist alles, was ich zu tun versuche. Ich denke nicht an Politik, ich denke nur an die Kinder selbst - sie sollen frei aufwachsen und keine Opfer der Macht oder des Reichtums werden." (Neill. A.S.: Der Mythos Summerhill. 1971, S. 43)

In diesem Sinn versucht Neill durch seine bewusst freie Erziehung die Kinder auch in ihrer politischen Bewusstseinsbildung von jeder indoktrinären Parteinahme freizuhalten. Die Bildungspolitik nimmt er allerdings in die Pflicht der Parteinahme für das Kind und kritisiert:

"Da Politik sich nicht mit den schreienden Ungerechtigkeiten befaßt, kann ich keine Begeisterung für sie entwickeln. In den Schulen werden Kinder geschlagen, und die Politiker machen die Augen zu, auch wenn sie es mißbilligen." ( Neill, A.S.: Neill, Neill, Birnenstiel! 1982, S. 260)

Politik trage nicht dazu bei, "jene repressive Institution zu ändern, die wir Erziehung nennen. Sie tut eher das Gegenteil. Sie programmiert Kinder so, daß sie den jeweils herrschenden Mächten der politischen und wirtschaftlichen Bosse folgen." ( Neill, A. S.: Antiautorität. In: Die Zeit. 30.Okt.1970, S. 25)

Diese nach Neills Auffassung in ihrer restaurativen Ausrichtung verhängnisvolle Bildungspolitik findet ihr Pendant in der gesellschaftlichen bzw. politischen Funktionalisierung des Schulwesens: "Die Hauptfunktion unserer Schulen besteht darin, die Lebenskraft der Kinder abzutöten. Denn wäre das nicht so, würde das Establishment seine Macht verlieren. Würden Millionen freier Menschen zulassen, dass sie für Dinge geopfert werden, die sie nicht interessieren und die sie nicht verstehen?..." (Neill, A. S.: Neill, Neill, Birnenstiel! 1982, S. 262)

Vor dem Hintergrund dieser Aussagen wird offenbar, dass Neills Erziehung in ihren Intentionen natürlich auf politische Veränderungen ausgerichtet war. Allerdings war Neill konsequent freiheitlich in seinen Erziehungsprinzipien: Er erzog die Kinder nicht indoktrinär zu Rebellen und Revolutionären, sondern ging davon aus, dass freie Erziehung ganz automatisch auch revolutionierende Folgen haben müsse.

Dieser Einschätzung widersprechen jedoch letztendlich Erfahrungsberichte und Lebensläufe ehemaliger Summerhillschüler. Diese beurteilen die in Summerhill genossene Erziehung tendenziell sehr positiv, bezeichnen sich als in vergleichsweise hohem Maße tolerant und führen diese Charaktereigenschaft auf die in Summerhill genossene freie Erziehung zurück. Jedoch gibt es bezüglich der Einordnung in die gesellschaftlichen Strukturen keine wesentlichen Unterschiede zu Abgängern anderer, traditionell geführter Schulen. Summerhillschüler - soweit ihre Lebensläufe verfolgt wurden - sind kaum zu Rebellen geworden, sondern haben in der Regel im Rahmen der gesellschaftlichen Strukturen bestimmte Nischen besetzt, innerhalb derer sie ihr Leben gestalten. Eher bestätigt sich hier Neills Wunsch, "wenigstens einige Kinder glücklich zu machen" als der, die Gesellschaft ändern zu wollen. Auch Untersuchungen verschiedener anderer Alternativschulen ergeben für ihre Abgänger keine signifikanten Unterschiede zu Vergleichsschulen - weder hinsichtlich ihrer sozialen Integration noch bezüglich ihrer beruflichen Ausrichtung und Qualifikation. Ähnliche Ergebnisse finden sich in Berichten zur liberalen Familienerziehung: Die Kinder von Paul und Jean Ritter (Free Family and Feedback, 1975, Freie Kindererziehung in der Familie, 1983), die in Anlehnung an die Lehren Neills erzogen wurden, bezeichnen sich selbst als äußerst konform mit den gängigen sozialen Werte- und Normmustern. L. Siebenschön (Wenn du die Freiheit hast, 1986) kommt in ihrer nicht- repräsentativen Befragung Jugendlicher und Erwachsener, welche antiautoritär erzogen wurden, zu dem Ergebnis, dass sie weder aufrührerische Revolutionäre noch gesellschaftliche Außenseiter, sondern ganz "normale Erwachsene" seien.

Die angedeuteten widersprüchlichen Interpretationen zu Neills Politikinteresse und -verständnis lassen sich zum einen durch mangelnde Kenntnis, zum anderen durch gewisse vorschnelle Interpretationen des aus ökonomischen Interessen lückenhaft erstellten Werkes "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" erklären. Widersprüchliche Aussagen zur politischen Aktivität Neills sind im Kontext seiner biographischen Entwicklung zu verstehen. Parallel zu den restaurativen Vorgängen der Nachkriegszeit und der zunehmenden Konfrontation der militärischen Blöcke im sog. "Kalten Krieg" weicht Neills enthusiastische Parteinahme für eine sozialistische Gesellschaftsreform einer eher resignierten Rückbesinnung auf die Liberalisierung der Erziehung als der einzig möglichen Einwirkung auf die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens. Politik setzt Neill aus seinen enttäuschenden Erfahrungen heraus begrifflich gleich mit Parteipolitik, der er korruptives, auf Eigeninteresse und Machterhalt ausgerichtetes Streben vorwirft.

Neill und die Religion Neills Verhältnis zur Religion bzw. zu den Religionsgemeinschaften lässt sich mit seiner Haltung den politischen Parteien gegenüber vergleichen. Er war überzeugter Atheist und lehnte die Religionsgemeinschaften, insbesondere den Katholizismus wegen ihrer Intoleranz und Lebensfeindlichkeit strikt ab. Trotzdem interessierte er sich für die Lehre Jesu, betonte Nietzsches Aussage, wonach der erste und letzte Christ am Kreuz gestorben sei und bezeichnete sich als ‘communist’ im Sinne Jesu. Im Umgang mit seinen Schülern pflegte er auch im religiösen Bereich dieselbe offene Haltung wie im Bereich der politischen Bewusstseinsbildung. Er versuchte die Schüler weder religiös noch areligiös zu beeinflussen und bezeichnete seine religionslose Schule als die einzig wirklich christliche Schule Englands, gerade weil sie keine Beeinflussung betreibe, sondern den Kindern unabhängig von ihrer religiösen oder politischen Haltung Liebe und Anerkennung gebe.

Neill und die Sexualität

Neill gilt als Vorkämpfer der freien Sexualität. Schon in "A Dominies Log" (1915) träumte Neill von einer Schule mit Sexualaufklärung. Durch eine Therapie bei Stekel beeinflusst, forderte er in "The Problem Child" offene Gespräche und Information der Kinder über Masturbation als natürliche und unschädliche Sache ohne Schuld. Erst das Verbot erzeuge Probleme, indem es durch Schuldgefühle das Interesse auf verbotene Handlungen fixiere. Neill befürwortete die Sexualität unter jugendlichen Paaren, tolerierte sie auch in seiner Schule, unterstützte sie aber nicht. D.h. die Mädchen und Jungen hatten getrennte Zimmer, konnten sich aber beliebig besuchen und zusammen schlafen. Neill bemühte sich, diese sexuelle Freiheit nicht allzu bekannt werden zu lassen, weil er fürchtete, die Schule könnte sonst geschlossen werden. Er lernte W. Reich erst Mitte der 30er-Jahre kennen und stellte mit ihm eine gedankliche Übereinstimmung in den Anschauungen zur Sexualität fest. Die massive Triebunterdrückung von Geburt an würde zur Unfähigkeit, Lust zu empfinden und zur Entstehung rigider Charakterstrukturen führen. Nur bei freier Erziehung und befriedigendem Sexualleben bleibe die Fähigkeit, Lust zu empfinden und der friedfertige, lebensbejahende Charakter erhalten.

Neill hatte Reichs "Massenpsychologie des Faschismus" gelesen. Ähnlich wie die Vertreter der Frankfurter Schule und die Adler-Marxisten Alice und Otto Rühle, führte Reich den Faschismus auf eine autoritäre Charakterstruktur der Individuen zurück, der durch eine freiheitliche, sexualitätsbejahende Kindererziehung, Sexualaufklärung und sexuelle Befreiung vorgebeugt werden könne. (Kamp, J.-M.: Kinderrepubliken, S. 409)

Reich ging in seiner Forderung sexueller Freiheit weiter als Neill und forderte diesen auf, die Sexualität unter Jugendlichen nicht nur zu dulden, sondern zu fördern, um sie noch stärker aus dem Assoziationszusammenhang von Schuld herauszunehmen. Doch Neill war in dieser Frage zu sehr Pragmatiker. Er fürchtete die Gefahr der Schulschließung (ebenso wie die Schließung von Lanes "Little Commonwealth"). Um nicht zum Märtyrer zu werden und die anderen Freiheiten, die Summerhill bot, nicht leichtfertig zu zerstören, schloss er einen Kompromiss mit den gesellschaftlichen Beschränkungen. "In Summerhill ist die Sexfrage immer eine nervenaufreibende Sache gewesen. Ich befürwortete schon seit vielen Jahren ein Sexualleben für Heranwachsende, für alle Paare, die weit genug dafür sind, aber ich musste in der Schule ein Verbot erlassen, weil selbst Summerhill sich vom Establishment mit seiner viktorianischen Moralanschauung nicht ganz befreien kann." (Neill, A. S.: Neill, Neill, Birnenstiel! 1982, S. 262)

Möglicherweise ist es aber gerade dieser "viktorianischen Moralanschauung" zu verdanken, dass Neill trotz seiner liberalen Haltung nicht mit Problemen wie z. B. ungewollten Schwangerschaften an seiner Schule konfrontiert wurden. Die Vermutung, die repressive Moralerziehung im Elternhaus sei auch innerhalb der Freiräume der Internatsschule noch so dominant, dass keines der Kinder bzw. Jugendlichen bestimmte Grenzen zu überschreiten wagte und stets bemüht war, Neills Vertrauen nicht zu enttäuschen, lässt sich m.E. nicht ganz von der Hand weisen.

Ideelle Anknüpfungspunkte der 68er-Bewegung Es ist offensichtlich, dass zwischen diesen Einstellungen Neills einerseits und den Ideen den Theorien der Frankfurter Schule und den psychoanalytischen Theorien andererseits, die von den Studenten in den 60er-Jahren intensiv rezipiert wurden und die wesentlich zur Ideologiebildung der 68er-Generation beigetragen haben, starke Affinitäten bestehen: Neills Ansichten der Erziehung in und zur Unabhängigkeit und Freiheit, seine Ablehnung personaler Autorität lehnen sich an Adlers Aussagen zur Autorität (þMinderwertigkeitskomplexe) an und rufen Assoziationen mit Adornos Studien zum "autoritären Charakter" wach. Parallelen finden sich in der Interpretation einer repressiven Sexualmoral als Auslöser autoritärer Machtstrukturen. Die im Anschluss an Freuds Triebtheorie (wobei Neill - was ausschlaggebend ist - den Todestrieb, Thanatos ablehnt) und W. Reichs Modell der "repressiven Sexualmoral" von Marcuse entwickelte Gesellschaftstheorie steht m.E. im Einklang mit Neills positiver Interpretation der menschlichen Natur und der Ablehnung des Aggressionstriebes. Marcuse prägt die Idee eines neuen Realitätsprinzips und den Begriff der "neuen Sensibilität", die den "Sieg der Lebenstriebe über Aggressivität und Schuld ausdrückt" und das "vitale Bedürfnis nach Abschaffung von Ungerechtigkeit und Not" fördert, als Basis für den Aufbau einer freien Gesellschaft.

Eine weitere Parallele zwischen Neillund den Studenten der 68er-Bewegung sehe ich in der Form politischen Handelns. So wie Neill sich verstärkt auf die antiautoritäre Pädagogik zurückzieht, weil er die restaurativen Tendenzen nach dem Zweiten Weltkrieg als Verrat an der Demokratie versteht und die Differenzen zwischen seinen freiheitlich-sozialistischen Ansichten und der gesellschaftlichen Realität kaum Chancen erkennen lassen, politisch auf die Veränderung der Gesellschaft einwirken zu können, so lehnen die Studenten die parlamentarische Opposition, die in der Großen Koalition de facto ohnehin nicht mehr existiert ab und ziehen sich in die außerparlamentarische Opposition zurück, um gegen die sublime Untergrabung der Demokratie durch ökonomische und politische Konzepte wie das der "formierten Gesellschaft", durch Autoritätsansprüche der Ministerialbürokratie, durch Tabuisierungen und Einseitigkeiten v.a. in der Springerpresse, durch die Notstandsgesetze und verschiedene Relikte faschistischer Herrschaft anzukämpfen. Wie Neill versuchen auch die "68er" Autoritätsstrukturen durch eine liberale Kindererziehung aufzulösen und realisieren ihre theoretischen Konzeptionen in den Einrichtungen der Kinderladen-, Schüler- und Jugendzentrumsbewegung.

Diese geistigen Verwandtschaften erklären die Popularität Neills in den Kreisen der 68er-Bewegung, die im Modell Summerhill die praktische Realisation ihrer Ideen und Ideale fanden.


1.2.Neills Schulgründungen

 


1.3.Alltag in Summerhill

 


2. Freie Schulen - eine weltweite Bewegung: Beispiel "Moo Bahn Dek" in Thailand

3. Summerhill: Mythos und Realität - beispielhaft aufgezeigt an Rezeption und Wirkung seit den 60er-Jahren

Der Untertitel unseres Referates heißt "Mythos und Realität. Was unter einem Mythos verstanden wird bedarf eigentlich keiner Erklärung. Schlägt man trotzdem ich in einem Lexikon nach, findet man in etwa folgende, knapp zusammengefasste Definition: Ein Mythos ist eine phantastisch-naive Darstellung von überzeitlichen Begebenheiten aus der Götter-, Menschen- und Naturwelt, Ausdruck echter Begegnung mit quasi Heiligem, Irrationalem, Kultischem.

Dass Summerhill in gewisser Weise zum Mythos wurde, möchte ich mit zwei Zitaten belegen, um anschließend anhand der Rezeptionsgeschichte seit den 60er-Jahren dem Mythos die Realität die pädagogischen Aussagen und deren Wirkungsgeschichte betreffend gegenüberzustellen:

"Summerhill kann einen wütend machen. Es hat mich wütend gemacht, als ich es zum erstenmal las, und es macht mich heute noch wütend. Das rührt vor allem daher, daß Neill so schrecklich doktrinär ist. Für ihn ist alles entweder schwarz oder weiß. (...)Ich glaube, es stört nicht wenige Erwachsene, daß Neill sich so hundertprozentig gegen unsere Welt stemmt, in der es nun einmal ohne Anpassung, ohne gesetzliche Regelungen und ohne bestimmte Einschränkungen nicht geht. Er ist wie ein böser Junge, der, wenn er einmal die Macht dazu hat, sich über alle geltenden Normen hinwegsetzt. Mit seinem Buch macht er unserer Gesellschaft eine lange Nase. (...) Durch sein ganzes Buch hindurch schreit er förmlich seinen Haß gegen jegliche Autorität hinaus." (Luise Bates Ames, Entwicklungspsychologin, in Summerhill: pro und contra, S. 57)

"Summerhill ist nicht nur eine Schule, sondern eine Religion. Es nimmt uns gefangen, ja wir bewundern es, ohne gleich Summerhillianer zu werden. Wer für die eigenen Kinder einen echten Gewinn davon haben möchte, muß den aufrichtigen Glauben an die Wirkungskraft seines Mythos haben. Aber wie bei jeder Religion, so kann auch hier der Glaube zu einer Gefahr werden, wenn er in religiöse Schwärmerei oder in Fanatismus umschlägt." (Fred M. Hechinger in Summerhill: pro und contra, S. 33)

Die beiden Zitate belegen, dass Neills Pädagogik sowohl im positiven wie im negativen Sinn zum Teil zum Mythos erstarrt ist, verteufelt oder heiliggesprochen, in vielen Fällen naiv-vereinfachend dargestellt und nicht selten polemisierend bekämpft oder unreflektiert und einseitig oder gar falsch nachgeahmt, ja ‘nachgebetet’ wurde. Wobei man dem Zitat von Hechinger zugestehen muss, dass es die Gefahr der naiven und unkritischen Rezeption noch entgegenzuwirken versucht.

Dass Neill zum Mythos hochstilisiert wurde, liegt wahrscheinlich in erster Linie daran, dass die Veröffentlichung seines Buches "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" (Summerhill: A Radical Approach to Child Rearing) von Seiten der Verleger bewusst den pädagogisch-politischen Zeitgeist der 60er Jahre zu treffen wusste. Damit präsentierte sich den Vertretern der antiautoritären Bewegungen die praktische Realisation ihrer Ideen. Andererseits bot die willkürliche und lückenhafte Zusammenstellung mehrerer bereits früher veröffentlichter Werke Neills den Gegnern genügend Angriffsfläche, da die Inhalte bereits veraltet waren und Neill selbst damit zum Teil nicht mehr zufrieden war. (Reich wurde nicht erwähnt, weil das dem Verkauf geschadet hätte. So wurde Neill immer wieder als "Freudianer" bezeichnet, obwohl er sich von Freuds pessimistischer Anthropologie betont distanzierte.) Sowohl eine Vielzahl von Befürwortern wie Gegnern kannte das Werk und vielmehr die Schule kaum und miß-oder überinterpretierten sie radikal.

Bruno Bettelheim äußert sich, dass er Neill mehrfach hätte lesen müssen, um sich mit seinen tatsächlichen Gedanken vertraut zu machen: "Neills Werk war mir seit den zwanziger Jahren vertraut. Aber erst seit der Veröffentlichung von Summerhill hatte ich oft Anlass, mich über die Folgerungen zu ärgern, die von Lesern in Amerika aus dem, was er geschrieben hat, gezogen wurden. (...)ich kann mich nun damit trösten, daß Mißverständnisse und Verzerrungen (...) weniger diesen (den Schriften, M.H.) selbst zuzuschreiben sind als vielmehr den Lesern, die in ihnen eine Bestätigung ihrer vorgefaßten Meinungen zu finden glauben, ohne sich groß darum zu kümmern, was der Verfasser wirklich gesagt und gemeint hat." (Bruno Bettelheim In: Summerhill: pro und contra, S. 87f.)

Was nun mehr dem Mythos und was mehr der Realität zuzuschreiben ist, soll anhand einiger ausgewählter Beispiele pädagogischer Prinzipien bzw. ihrer Rezeptions- und Wirkungsgeschichte seit den 60er-Jahren gezeigt werden. Die einzelnen Aspekte werden jeweils in ihrer Aufarbeitung sowohl durch die Befürworter als auch durch die Gegner dargestellt:

Der Begriff der antiautoritären Erziehung

Im Zuge der politischen und gesellschaftskritischen Bewegungen in den 60er- Jahren wurde der Begriff der "antiautoritären Erziehung" zum Schlagwort, ohne inhaltlich genau festgelegt zu sein. Die "Wieder-Veröffentlichung" von Neills "Summerhill" trug dazu bei, diesen zum Vater der antiautoritären Erziehung zu machen, obwohl seine Ideen bereits im Zuge der Reformpädagogischen Bewegung um die Jahrhundertwende entstanden und natürlich auch ihre geistigen Ahnen hatten. Unwissenheit, flüchtiges Lesen und politische Voreingenommenheit trugen dazu bei, dass Neills Pädagogik mit einem Laissez-faire-Stil gleichgesetzt wurde, dem Neill immer wieder entgegenzutreten versuchte. Nicht zuletzt die Medien verzerrten das Bild der antiautoritären Erziehung durch Unterdrücken wichtiger Informationen. Werden theoretische Positionen verkürzt rezipiert, kommt es zu falschen Schlußfolgerungen, welche der ursprünglichen Intention des Konzeptes nicht entsprechen. Kaum auszumerzen ist der Mythos der grenzenlosen Freiheit in Summerhill. Hammelmann und Steele schreiben: Die Geschichte von Summerhill ist die Geschichte eines millionenfachen Mißverständnisses" Die Aussage, die Freiheit des Kindes nicht unnötig einschränken zu wollen wird immer und immer wieder mit schrankenloser Freiheit gleichgesetzt. Dass in Summerhill die Schulversammlung eine meist mehrseitige Hausordnung demokratisch festlegt und die Einhaltung der Regeln des Zusammenlebens auch überwacht, Regelverstöße bestraft, wird von den Kritikern entweder verschwiegen oder gar nicht erst wahrgenommen. Neill selbst versuchte diesen Irrtum in seinem Werk "Freedom - not license" (Freiheit - nicht Zügellosigkeit" auszuräumen.

Interpretationsmodi der Kritiker:

Kritiker des antiautoritären Erziehungsstils stoßen sich insbesondere an der vermeintlichen Schrankenlosigkeit, der die Kinder und Jugendlichen in Summerhill ausgesetzt seien. Neill wird häufig vorgeworfen, sein Erziehungskonzept würde die Kinder und Jugendlichen zu sehr von der Lebenswirklichkeit abschirmen, sie gleichsam auf einer pädagogischen Insel ohne Pflichten (z.B. ohne die Pflicht den Unterricht zu besuchen) verwöhnen. Die SchülerInnen kämen daher im späteren Erwachsenenleben mit den an sie gerichteten Anforderungen und Pflichten nicht zurecht. Sie würden psychische Schäden erleiden, Anpassungsschwierigkeiten haben, durch asoziales Verhalten auffallen. Sowohl Aussagen der Schulinspektoren, daß "kein Schüler von Summerhill im Leben zwangsläufig ohne Erfolg bleiben" müsse, sowie Urteile und Lebensläufe ehemaliger Schüler ergeben eher eine positive Bilanz. Dass Effekte nie monokausal auf Erziehungseinflüsse zurückzuführen sind, dass immer auch individuelle oder milieubedingte Hintergründe mitzubedenken sind, ist selbstverständlich. Auch sind eher liberale oder eher regelorienterte Erziehungsstile bei verschiedenen Alters- und Charaktereigenschaften unterschiedlich zu bewerten. Zurückhaltende Schüler profitieren unter Umständen mehr von stärker vorgegebenen Strukturen. Doch gilt die negative kausale Ausschlußregel (nach Ludwig 1991): Die die Hypothese einer bestimmten Wirkung (in diesem Fall das Auftreten von Anpassungsschwierigkeiten durch antiautoritär-inselhafte Erziehung) gilt als widerlegt, wenn das befürchtete Resultat ( die Anpassungsschwierigkeiten) nicht festgestellt werden kann. (Renkl 1993) D.h. wenngleich die Folgen liberaler Erziehung nicht genau bestimmt werden können, kann man doch ausschließen, dass liberale Erziehung zu größeren Anpassungsschwierigkeiten führen würde als konventionelle Erziehung. Mittlerweile gibt es sogar Belege dafür, dass eine strikte Gehorsamserziehung Kinder geradezu dafür zu prädestinieren scheint, Opfer sexuellen Mißbrauchs zu werden (Enders 1993).

Ein Summerhill-Absolvent kehrt den Vorwurf, antiautoritäre Erziehung würde späteres Scheitern im Leben bewirken, interessanterweise um und behauptet, Schüler an konventionellen Schulen würden aufgrund mangelnder Entscheidungsfreiheit und mangelnder Notwendigkeit, sich selbst zu bestimmen, hinter einer wirklichkeitsfremden Abschirmung aufwachsen, derzufolge sie sich später in einer pluralistischen Welt mit ihren vielfältigen Verhaltensangeboten verloren fühlen würden. Gerade in diesem Punkt meine ich aber, muss man grundsätzlich alle liberalen Erziehungskonzepte auf ihre Tauglichkeit hin prüfen und überlegen, inwieweit angesichts der Verführungskraft der Medien die Selbstbestimmung gehen kann und inwiefern Erwachsene sinnvollerweise normativ einschreiten. In diesem Bereich muss Neills Pädagogik zwangsläufig aus der gegenwärtigen Situation heraus hinterfragt werden. Auch zu dieser Thematik hat Neill sich geäußert und seine ablehnende Haltung gegenüber der totalen Freiheit unterstrichen: "Ich glaube nicht, daß es zweckmäßig ist, kleine Kinder mit all der krankhaften Perversität zu konfrontieren, die wir Unterhaltung nennen... Es gibt gewisse Dinge, die man ablehnen und vor denen man sich und andere schützen muß" (pers. Mitteilung, zit. Nach Ludwig, P.: Summerhill: Antiautoritäre Pädagogik heute, S. 167)

Interpretationsmodi der Befürworter: Die extremisierenden Umsetzungsversuche der Befürworter gründen in der Annahme, dass zwischen Erwachsenen und Kindern kein grundsätzliches Überlegenheitsgefälle bestehe. Ludwig sieht in dieser Missdeutung anthropologischer Grundannahmen die Gefahr subtilen Machtmissbrauchs und fordert von den Erwachsenen aufgrund ihrer physischen, psychischen und auch materiellen Überlegenheit Toleranz und souveräne Zurückhaltung den in ihrer Entwicklung noch weniger fortgeschrittenen Jugendlichen und Kindern gegenüber. Diejenigen Erzieher, die ihre eigene Überlegenheit nicht anerkennen wollen, laufen nach Ludwig Gefahr, die "notwendige altersangemessene Rücksicht und damit Fairneß nicht aufzubringen und dadurch Kinder zu überfordern." (Ludwig, P.: Summerhill: Antiautoritäre Pädagogik heute, S. 176)

Ein weiteres Missverständnis auf Seiten der Befürworter ist das des vollständigen Verzichts auf jeglichen Einsatz von Macht. Aufgrund des Abhängigkeitsverhältnisses der Kinder von den psychisch und physisch überlegenen Erwachsenen ist ein kommunikatives Gleichgewicht ausgeschlossen, innerhalb dessen auf jegliche Machtausübung verzichtet werden könnte. Selbst Neill behält sich vor, bestimmte, grundlegende Regelungen des Zusammenlebens nicht der Vollversammlung zur Abstimmung zu überlassen. Auch im Umgang mit Medien nimmt er eine relativ restriktive Haltung ein. Für besonders schwere Verstöße gegen das gemeinschaftliche Zusammenleben sieht er in seinen Schulregelungen auch den (allerdings seltenen) Extremfall des Schulverweises vor.

Die anekdotenhafte Schilderung von Neills Unbeholfenheit im Umgang mit seiner kleinen Tochter, der er - weil sie sich im kalten Meer zu erkälten drohte, aber nicht aus dem Wasser kommen wollte - zugerufen haben soll: "Du musst endlich lernen zu gehorchen!" umreißt in etwa die Grenze, die den im Sinne des Kindes zu verantwortenden Umgang mit der erzieherischen Macht umschreibt.

Resultierend aus einem falschen Begriff von Macht, Manipulation und Autorität bzw. einer enormen Verunsicherung durch die Diskussion um antiautoritäre Erziehungsmethoden vermeiden Eltern und Erzieher jedes Durchsetzen der eigenen Vorstellungen. Auf diese Weise wird der "Autorität der Kinder" keine Autorität der Erwachsenen gegenübergestellt. Damit kippt das verantwortete Überlegenheitsgefälle zugunsten einer unsicheren Nachsichtigkeit, in der Kinder weder Grenzen noch Regeln kennenlernen. Dass antiautoritäre Erziehung im Sinne Neills aber nur aufgrund eines gemeinsam erarbeiteten Regelkanons, dessen Übertretung auch mit Sanktionen geahndet wird, realisiert werden kann, bleibt den Vertretern dieser Interpretationslinie verborgen. Folgen derart inkonsequenten Erzieherverhaltens sind tatsächlich eine gewisse Haltlosigkeit und Orientierungslosigkeit bei den Minderjährigen, die die Erwachsenen schließlich an der Konzeption antiautoritären Verhaltens grundsätzlich zweifeln lässt: "Doch mit barbarischer Rücksichtslosigkeit erspüren Kinder genau diese Schwäche und nutzen sie rigoros...Resignierend gaben manche auf; nachsichtig, nachgiebig ließen sie sich schikanieren" (Siebenschön, L.: Wenn du die Freiheit hast, 1986, S. 89, zit. Nach Ludwig, P.: Summerhill: Antiautoritäre Pädagogik heute, S. 181)

Rekurrierend auf die Interpretation des Erziehungsbegriffes als intentionales Handeln schließt sich der Verzicht auf jegliche Lenkung und Beeinflussung per definitionem aus: Im Bewusstsein, dass jede menschliche Existenz bereits von Geburt an der Beeinflussung durch ihre Umgebung ausgeliefert ist, lässt sich eine bewusste, auf die Vermeidung von schädlichen Einflüssen ausgerichtete Erziehung nicht grundsätzlich ablehnen. In diesem Sinne kommt keine Erziehung ganz ohne Einschränkungen im Bereich der Selbstbestimmung aus. Selbst non-direktive Psychotherapeuten agieren mit der Entscheidung für ihr konzeptuelles Vorgehen in einem gewissen Grad bestimmend für ihre Klienten.

Umgekehrt halte ich Ludwigs Schlussfolgerung in Anlehnung an Watzlawicks Kommunikationsaxiom "Man kann nicht nicht erziehen" (Ludwig, S. 188) mit einem intentionalen Erziehungsbegriff für unvereinbar. Jede bewusste Entscheidung für oder gegen direkte Einflussnahmen grenzt Erziehung vom Begriff der Sozialisation ebenso ab wie vom Prinzip des "Laissez faire".

Damit legitimieren sich Ziele und Orientierungshilfen als selbstverständliche Elemente erzieherischen Handelns. Zwar gilt als pädagogischer Allgemeinplatz, dass abhängig von den agierenden Personen und des Sachverhalts in einer gegebenen Situation und Umgebung zwischen Liberalität und regelorientierter Konsequenz fließende Übergänge bestehen. Doch die mittlerweile empirisch belegte Tatsache, dass ein machtausübender Erziehungsstil zwar ein momentanes Fügen, jedoch keine Internalisation von Normen bewirkt, lässt die Schlussfolgerung zu, dass Neills herrschaftsfreie, tolerante, selbstbestimmte Erziehung eine Möglichkeit darstellt, Kindern einen Weg in das gemeinschaftliche Zusammenleben zu weisen bzw. entdecken zu lassen. Andere Aspekte der Persönlichkeitsbildung, z.B. fachliche oder ökologische Ansprüche bleiben in Neills Konzept jedoch unberührt. Insofern ist ihm doch eine gewisse Lebensweltdistanz zuzuschreiben.

Rezeption und Weiterentwicklung seit den 60er-Jahren

Auch bei dem scheinbaren Verschwinden der antiautoritären Bewegung aus der Öffentlichkeit handelt es sich nicht um die ganze Wahrheit. Mißt man die Bedeutung einer Bewegung daran, inwieweit sie sich gesellschaftlich etablieren konnte, reicht es nicht aus, zu überprüfen, ob sich die Ideen in ihrer fundamentalistischen Ausprägung im allgemeinen Erziehungs- und Bildungswesen durchgesetzt haben.

Beispielsweise hat sich die Freiwilligkeit des Schulbesuchs im staatlichen Schulwesen in keiner Form durchsetzen können. Auch die öffentliche Auseinandersetzung um antiautoritäre Erziehungskonzepte ist abgeflaut und vor allem in eher konservativen Kreisen der Meinung gewichen, die liberalen Erziehungsmethoden seien gescheitert. Doch ist die antiautoritäre Diskussion nicht ohne Folgen geblieben. Vielmehr kann man davon ausgehen, dass sich die allgemeine Erziehungssituation so weit liberalisiert hat, dass man von einer Annäherung liberaler und regelorientierter Ziele sprechen kann. Selbst neokonservative Theoretiker würden ihre Ansätze nicht als autoritär bezeichnen wollen. So konnte man schon in den 70er- und 80er-Jahren feststellen, daß die Forderung nach emanzipatorischer Erziehung als allgemein akzeptiert gelten kann und die antiautoritäre Bewegung für die Mehrheit der Erzieher und Eltern zumindest grob richtungweisend sei.

Der pädagogische Zeitgeist der Gegenwart ist weniger von Wertedezisionismus als von einer (immer noch) vorsichtigen Emanzipation aus hierarchischen Erziehungs- und Unterrichtsstrukturen geprägt: Dreikurs und Cassel sprechen von einem Trend zur Partnerschaftlichkeit in der Erziehung und auch in der Schule nimmt die Bereitschaft zu weniger Lenkung und mehr Offenheit in Unterricht und Elternarbeit zu.

Dass diese Liberalisierungstendenzen nicht nur auf die antiautoritäre Bewegung der 60er-Jahre und den Einfluss Neills zurückzuführen sind, ist selbstverständlich. Sie sind auch Ausdruck eines der Aufklärung und den reformpädagogischen Bestrebungen erwachsenden Zeitgeistes unserer pluralen Gesellschaft. Für einen nicht unerheblichen Einfluss der Neillschen Pädagogik sprechen dennoch die hohen Auflagen seiner Bücher.

A. S. Neill und seine Schule als "Prototyp" antiautoritären Erzieherverhaltens

Neills Popularität in den 60er- und 70er-Jahren ist unbestreitbar. Als Person geachtet und geschätzt wurde er mit zahlreichen Ehrungen ausgezeichnet. Im Grunde wurde Neill aber für pädagogische Ideen ausgezeichnet, die er mehr als 30 Jahre zuvor im Kontext der zeitgeschichtlichen Strömungen entwickelt hatte: Die erste Schulgründung initiierte er im April 1921 in Hellerau bei Dresden. Schule und Heim stehen in der Tradition der Kinder- und Jugendrepubliken, die sich im allgemeinen progressiven oder reformpädagogischen Aufbruch um die Jahrhundertwende formierten.

Erziehung statt bloßen Unterrichtens, die Orientierung an der Lebenswelt des Kindes, Einflüsse aus der Psychoanalyse und das Postulat, Erziehung müsse auf Einstellungen abzielen durch Motivieren und Begreifen lassen, statt durch Strafen und Zwang kurzfristiges Verhalten zu erwirken, waren einige der zentralen Aussagen.

Damit einher gingen Strafreformen im Zuge der Jugendgefängnis- und Jugendgerichtsbewegung. Die Schuld- und Sühne-Auffassung wurde allmählich abgelöst durch eine stärker pragmatisch auf effiziente Erziehung und Besserung zielende Sichtweise, Verstöße gegen gesetzliche und moralische Vorschriften nicht mehr als Ausdruck schlechten Charakters, sondern als Ergebnis fehlender oder fehlerhafter Lernprozesse interpretiert. Strafe solle nicht mehr schädigen oder Depressionen erzeugen, sondern Rückfälle verhindern und könne durch Therapie- oder Erziehungsmaßnahmen ersetzt werden. Die Erzwingung richtigen Verhaltens wurde zunehmend problematisiert. Zwang sei keine Erziehung, sondern erzeuge maximal Gewöhnung, könne aber auch ins Gegenteil umschlagen und Abneigung hervorrufen. Die traditionelle Anstalt wurde kritisiert, sie gewöhne an Unselbständigkeit, kritiklose Unterordnung, die in der nicht-kontrollierten freien Gesellschaft zur unbedingten Unterordnung unter fremde Willkürherrschaft führen könne. (·Adorno)

Folglich wurde die Entinstitutionalisierung der Anstalt gefordert. Das Ziel musste sein: der gute Bürger, nicht der gute Insasse.

Das in diesem Sinne pädagogisch geführte Heim müsse Gelegenheiten bieten, Fehler zu machen, aus Fehlern zu lernen. Damit ging man den indirekten Weg, die indirekte Methode, den Wert von Tugenden durch eigene Erfahrung aus den Handlungsfolgen untugendhaften Betragens zu lernen.

(Beispiele: - Der zuständige "Beamte" hat den Versammlungsraum nicht geheizt, alle müssen frieren. - Jemand hat das Tor offen stehen lassen, die Kühe verwüsten den mühsam bestellten Garten. - Ein entlaufener Jugendlicher musste mit der Eisenbahn heimgeholt werden, alle bezahlen Sondersteuern. ... Beispiele aus Ford Republic und Little Commonwealth)

Familie und Republik galten als Organisationsvorbilder entinstitutionalisierter Heime, wobei manche Modelle in ihrer Konzeption stärker an der Familie, andere sich stärker am Staat orientierten.

Vorteile einer republikanisch organisierten Gemeinschaft:

* Der Staat fordert strikten Gehorsam, nicht einer Einzelperson gegenüber, sondern den Gesetzen gegenüber. Andererseits sind die Bürger am Gesetzgebungsprozeß beteiligt, sodass eine Auslieferung an fremde Willkür ausgeschlossen ist. * Die Gesellschaft fordert Wohlverhalten zur Erhaltung des Wohlergehens und Wohlwollens aller Mitbürger. * Zentral ist die überragende Bedeutung der öffentlichen Meinung als Erziehungsinstanz. * Aber auch persönliche Autoritäten und die Vorbildwirkung geachteter Personen, Erzieher oder älterer, geheilter oder erzogener "Bürger"spielen eine Rolle im Erziehungsprozess. * In einigen Heimrepubliken fungiert auch der wirtschaftliche Faktor als Erziehungsmacht.

Allen Selbstregierungsmodellen gemeinsam ist die pädagogische Nutzung der öffentlichen Meinung zur Einflussnahme auf die ganze Gruppe.

Allen gemeinsame Prinzipien sind Arbeit, Selbstverantwortung, Freiheit und Demokratie. Je nach Organisationsstruktur und pädagogischer Atmosphäre sind die Kinderrepubliken sehr unterschiedlich verfasst: Extrembeispiele sind die George Junior Republic, die die amerikanische Republik zu kopieren versuchte, mit geschriebener Verfassung, Strafgesetzbuch, Zweikammer-Parlament, einem komplizierten Strafrecht und anfangs sogar mit einem Infanteriebatallion und Summerhill, das auf fast alle republikanischen Formalien verzichtet, sämtliche Probleme in der Vollversammlung behandelt und vor allem zwei Beamte bestellt, nämlich den Versammlungsleiter und den Protokollschreiber. Beide melden sich ad hoc, damit sind Wahlen überflüssig.

Dazwischen angesiedelt ist Lanes Little Commonwealth, das republikanische mit familiären Strukturen kombiniert.

George Lane Neill
straffe, "staatliche" Struktur Familiale Strukturen innerhalb des Kinderstaates kollektives Zusammenleben
Ökonomische Strukturen zielen auf individuelle Interessen. Kosten-Nutzen-Kalküle werden zum Erziehungs- faktor. Ökonomische Strukturen werden ergänzt durch soziale Komponente: Solidarität und Gemeinschaftsgefühl. Schule statt Wirtschaftsgemeinschaft
Massive Zwangseinflüsse (Arbeit, Hunger, Strafgesetz, Polizei, Gericht, Gefängnis) Belohnungen und Bestrafungen sichern die Disziplin.
Arbeitszwang machte die Delinquenten von besitzlosen Rebellen zu Eigentümern und damit zu konservativen Verteidigern der Ordnung (Herrschafts- und Besitzordnung)
Die Demontierung der Zwangseinflüsse führt zu einer milderen, solidarischeren, familiären Atmosphäre trotz formaler Ähnlichkeiten mit dem organisatorischen Aufbau der George-Republic. Die rigide Gesetzes- maschinerie erübrigt sich durch den Erziehungs- einfluss der Familie (Wohngemeinschaft, Kommune). Einzige schwere, umstrittene Strafe: Hausarrest bei völligem Ausschluss aus der Gemeinschaft 14-jährig: Bürgerrecht, keine vollständige Selbstregierung Wahlen: Vorsitzender der Vollversammlung, des Richters, ... Erwachsene am Selbstregierungssystem gleichberechtigt beteiligt, nahmen gezielt Einfluss, ohne ihren Willen aufzudrängen. Basisdemokratische Regelung aller Angelegenheiten des Zusammenlebens, der Gesetze, Anordnungen und Strafen; Vollversammlung aller Kinder und aller Erwachsenen, die die Angelegenheiten des Gemeinschaftslebens beschließt, für die Gesetzgebung zuständig ist, die Wahl von bestimmten Bereichskomitees inne hat und als Berufungsinstanz und Judikative fungiert; Stimm- und Rederechte, Gesetze und Strafan- drohungen gelten für Erwachsene wie für Kinder und Jugendliche gleicher-maßen.

Sowie Neills Konzeption in die Tradition reformpädagogischer und jugendgerichtsreformerischer Ansätze eingebunden ist, bildete sie auch in den 60er- und 70er-Jahren nicht die einzige Realisierungsform liberaler Erziehungsmethoden. Das Prinzip einer freien Erziehung verfolgen zahlreiche Reformprojekte wie z.B. die Glocksee-Schule in Hannover, die Freie Schule Frankfurt, die Werkschule in Berlin oder die Tvind-Schulen in Dänemark. Ähnliche Popularität wie Neills Summerhill erreichte jedoch keine dieser Schulen.

 


Resümee:
Die Interpretation und Rezeption von Neills Werk durchziehen zahlreiche Mythologisierungen. Neill selbst hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, wie mit einigen seiner Äußerungen zu zeigen war. Die angeführten Beispiele sind aber auch Beleg dafür, dass die Intentionen Neills und die Wirkungen seiner pädagogischen Veröffentlichungen in der öffentlichen Diskussion ebenso wie in wissenschaftlichen Publikationen zum Teil unrichtig oder nur halbrichtig dargestellt sind. Die Hochstilisierung zum Mythos hat Übertreibungen, Einseitigkeiten und Mißverständnisse sowohl auf Seiten der Kritiker, als auch auf Seiten der Befürworter zur Folge. Die kritisch-reflektierte Auseinandersetzung und Weiterentwicklung wurde dadurch zwar nicht verhindert, doch erheblich erschwert. In Bezug auf seine Person schien Neill sich der Mythosbildung bewusst zu sein. Mit gewisser Eitelkeit oder auch Selbstironie stellte er in der Diskussion um seine Nachfolge als Leiter von ‘Summerhill’ fest, daß "niemand hier groß genug ist, dem Kerl mit dem Heiligenschein zu folgen".

 


4. Satirischer Epilog (vgl. Ludwig, S. 234)

 


5. Literaturverzeichnis:

Borchert, M./Derichs-Kunstmann, K. (Hg.): Schulen, die ganz anders sind. 3. Aufl., Frankfurt 1981

Jürgensmeier, H. G. (Hg.): Alternative Bildung? Rückfragen an die alternative Pädagogik, Hannover 1986

Kamp, J.-M.: Kinderrepubliken. Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheimen, Opladen 1995

Ludwig, P. (Hg.): Summerhill: Antiautoritäre Pädagogik heute. Ist die freie Erziehung tatsächlich gescheitert? Weinheim und Basel 1997

Masthoff, R.: Antiautoritäre Erziehung. Darmstaddt 1981

Neill, A. S.: Das Prinzip Summerhill: Fragen und Antworten. Reinbek bei Hamburg 1985

Neill, A. S.: Neill, Neill, Birnenstiel! Erinnerungen des großen Erziehers A. S. Neill, Reinbek bei Hamburg 1982

Neill, A. S.: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill. Reinbek bei Hamburg 1985

Weidle, G. E. (Hg.): Summerhill: pro und contra. 15 Ansichten zu A. S. Neills Theorie und Praxis, 4. Aufl., deutsche Erstausgabe, Reinbek bei Hamburg 1979


Quelle:
Universität Passau 20. Juli 1998
Sommersemester 1998
Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik Prof. Dr. G. Pollak
Referentinnen: Angelika Thaller, Maria Hallitzky, Stefanie Frische
Hauptseminar: "1968 revisited": Studentenbewegung - APO - Kinderladenbewegung

http://www.phil.uni-passau.de/allg_paed/veran/pollak/summ.htm

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