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Rosa Meyer-Leviné 
Deutschland 1932

aus: Im inneren Kreis
Erinnerungen einer Kommunistin in Deutschland von 1920-1933
Herausgegeben und eingeleitet von Hermann Weber
Aus dem Englischen von Barbara Bortfeldt, Ffm 1982, S.226-235

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Mit dieser Überzeugung kehrte ich als Rußland-Berichterstatterin nach Deutschland zurück. Meine Hauptausbeute aus dieser Zeit ist in einem 24seitigen Artikel über »Die Bedeutung des Fünfjahrplanes« niedergelegt. Unsere Propagandaabteilung hatte ihn bestellt, er sollte kommunistischen Wahlkämpfern bei einer der bevorstehenden Wahlen als Leitfaden dienen. In diesem Artikel berichtete ich über die großen Errungenschaften des Planes, wobei ich mich auf die offiziellen Statistiken als Beweismaterial stützte - vierundzwanzig Seiten lang Lügen. Rückblickend lesen sie sich wie das Gefasel eines Irren. Ich schrieb es in gutem Glauben, besonders dort, wo ich die Wohltaten schilderte, die das Land im kommenden Jahr 1932 zu erwarten hätte. Ich fügte auch - allerdings auf Drängen des Parteiapparates - Passagen ein, die sich mit dem schweren Schaden befaßten, den die Kulaken und die alten Technikerstäbe mit ihrer Sabotage angerichtet hätten. Es war verblüffend, was mit einem winzigen Knick des Denkens zu erreichen war: Ich sagte mir, die Kulaken hätten schließlich bei den Ernährungsschwierigkeiten wirklich eine negative Rolle gespielt und bei einem Teil der abgesetzten führenden Technologen sei doch wohl unbestreitbar die Tendenz vorhanden gewesen, das neue Regime zu boykottieren.

Ich zähle diese Passagen zu meinen finstersten Fehlern und glaube, daß Halbwahrheiten die schlimmsten Lügen überhaupt sind. Bei Versammlungen weigerte ich mich entschieden, die Märchen der Partei von Rußlands Wohlleben nachzubeten, und dafür handelte ich mir ärgerliche Zurechtweisungen der jeweiligen Vorsitzenden ein. Aber die Zuhörer hatten sich von der Partei nicht wirklich irreführen lassen, ich merkte das an dem Dank, den mir sogar meine Halbwahrheiten eintrugen -sie wußten es zu schätzen, daß ich nicht ganz und gar darauf aus war, sie hinters Licht zu führen.

Ich glaube, meine Haltung war typisch für viele »ehrliche Kommunisten«, die von Rußlands Leistungen und Erwartungen fasziniert waren, die aufrichtig glaubten, daß die vorhandenen Mängel nur Wolken am sonst strahlend blauen Himmel seien. Auch die fehlende Kenntnis dessen, was wirklich in der Sowjetunion vor sich ging, war hierfür ein Grund. Man kann nicht erwarten, über Dinge, die man nicht aus eigener Anschauung nachprüfen kann, urteilen zu können. Dies mag als Entschuldigung gelten für die vielen anständigen, intelligenten, gebildeten Menschen, die Stalins Verbrechen so verhältnismäßig mühelos hinnahmen. Informationsmangel trübte ihr Urteilsvermögen und ermöglichte es ihnen auch, ihr Gewissen zum Schweigen zu bringen.

Viele Parteimitglieder haben sich fortgesetzt selbst betrogen, indem sie ihre Kapitulation rechtfertigten; sie machten damit jeder Hoffnung auf Widerstand den Garaus und führten den endgültigen Zusammenbruch der deutschen Partei herbei. Zum ersten Male in der jüngeren Geschichte sah sich eine Opposition der Verfolgung durch einen revolutionären Staat ausgesetzt; sie kämpfte nicht nur gegen den nationalen Staatsapparat, sondern auch gegen die Komintern, verstärkt durch die Macht des sowjetischen Staatsapparates.

Es hatte unter bestimmten Voraussetzungen durchaus seinen Sinn, wenn sich die Opposition öffentlicher Kritik enthielt und sich dem Willen der Mehrheit fügte, der sie es damit ermöglichte, ihre Politik in der Praxis zu erproben. Sie konnte die Macht der Umstände anerkennen und sich doch bereithalten, um im richtigen Augenblick in die Bresche zu springen. Eine Opposition ist nicht tot, wenn sie einmal eine Zeitlang schweigt. Stalin, der sich dieser Tatsache sehr wohl bewußt war, führte neue Spielregeln ein; er forderte Widerrufung und die ausdrückliche Erklärung, daß die Partei recht und man selber unrecht habe. Diese Art der »Entwaffnung« (ein Schlüsselwort in Stalins politischem Wortschatz) vernichtete die Blüte der revolutionären Elite Rußlands, noch bevor sie physisch liquidiert wurde. Sie zerstörte auch eine ganze Generation begabter, treuer deutscher Kommunisten und trug damit zum Aufstieg Hitlers bei.

Im Sommer 1932 wurde die Partei von einem Brief Stalins aufgeschreckt, der in der Proletarskaja Rewoluzija erschien (siehe: J.W.Stalin Werke, Bd.13, S.76ff). Darin befaßte sich Stalin zwar nur mit »Grundsatz«-Fragen, nämlich mit der Gefahr des »Luxemburgismus« - aber jedermann argwöhnte, daß es damit doch sehr viel mehr auf sich haben müßte, als mit dem bloßen Auge erkennbar war. In der Tat - wieso wohl mochte Stalin sich zu diesem Zeitpunkt so viel Mühe geben, Rosa Luxemburg zu beschimpfen? Das konnte nur ein Vorspiel zu größeren Dingen sein... Ausgelöst worden war der Brief durch den Artikel eines gewissen Sluzki. Ich entsinne mich seines Inhaltes nicht mehr genau; es lief wohl etwa darauf hinaus, daß entweder den frühen deutschen Kommunisten ein paar Leistungen zugebilligt wurden oder daß die Bolschewiken einer ganz bescheidenen kleinen Kritik unterzogen wurden, vielleicht auch beides - auf jeden Fall war weder die eine noch die andere dieser Sünden zu dulden. Eine ganze Weile lang füllten Warnungen vor der Gefahr des Luxemburgismus die kommunistische Presse. Dieses Feldgeschrei übertönte bei weitem den »ideologischen« Kampf gegen den Faschismus. Sluzki selbst wurde mit der wilden Wut angegriffen, die später den »faschistischen Bestien« vorbehalten war. Wie es hieß, ist er in den Selbstmord getrieben worden, und Genossen wie Romma, die für ihre Menschlichkeit bekannt waren, wurden damit ohne Schwierigkeiten fertig.

Und doch war der Stalin-Brief, der so viel Wirbel verursachte und der in der gesamten internationalen Bewegung zu endlosen Spekulationen Anlaß gab, eigentlich nur ein Zufallsergebnis. Von Radek erfuhr ich darüber folgendes:

Stalin befand sich gerade zur Erholung im Kaukasus. Weil er mehr Zeit hatte als sonst, geriet ihm der fatale Artikel in die Hände. Er erkundigte sich: »Wer ist Sluzki?«

»Und sie standen alle da und wußten sich keinen Rat, was sie antworten sollten«, erzählte Radek, »sollten sie Sluzki nun preisen oder sollten sie ihn verdammen?« Er sagte es ohne weiteren Kommentar.

Für ihn war es schon vollkommen selbstverständlich, daß niemand es wagte, eine Meinung zu haben, die der Meinung Stalins nicht entsprach...

Und von diesen degenerierten Leuten erhofften wir uns immer noch die Erlösung.

 

Es ereignete sich in diesem Sommer noch mehr Denkwürdiges. Eines schönen Tages brach Berlin in helle Aufregung aus. Thüringen war das erste Land, das zur faschistischen Hochburg zu werden schien, und die örtlichen Funktionäre hielten es für angezeigt, sich über ihr künftiges politisches Vorgehen gründlich Gedanken zu machen. »Köpfe werden rollen...« war das Leitmotiv und der immer wiederholte Refrain ihres Programms.

Nicht nur das »rote Berlin«, die gesamte Berliner Bevölkerung prallte in Angst und Entsetzen zurück. Auch ein großer Teil der Nazis war schockiert. Es ist nicht jedermanns Sache, sich über Nacht in einen Helfershelfer von Verbrechern und Mördern zu verwandeln, die ihre Absichten in so marktschreierischer Form kundgetan haben.

Alle Zeitungen widmeten Seiten um Seiten dem »Programm« und den Kommentaren dazu. Tagelang blieb es die Hauptnachricht, die gierig gelesen und diskutiert wurde.

Alle Zeitungen - ausgenommen die Rote Fahne. Sie räumte dem Thema ein paar Zeilen ein - keine Schlagzeilen -, eine Viertel- oder Fünftelseite insgesamt, und dabei beließ sie es. So ungeheuerlich das schien, es war die logische Konsequenz aus der neuen Politik. Jahrelang hatte die Partei behauptet, daß wir bereits in einer faschistischen Diktatur lebten: »Niemand wird heute mehr daran zweifeln«, sagte Thälmann imFebruar 1932, »daß wir recht hatten, als wir im Dezember 1930 von einer ausreifenden, noch nicht ausgereiften faschistischen Diktatur sprachen.« Inzwischen erklärte man das »Heranreifen« für »beinahe abgeschlossen« und wies jedes Infragestellen dieser Feststellung wütend zurück:

»[...] Nichts wäre verhängnisvoller als eine opportunistische Überschätzung des Hitlerfaschismus. Wollten wir uns darauf einlassen, gegenüber dem riesigen Anschwellen der Hitlerbewegung unseren richtigen klassenmäßigen Maßstab zu verlieren und uns in eine ähnliche Panikstimmung drängen zu lassen, wie sie die Sozialdemokratie künstlich in den Massen zu erzeugen versucht, so müßte das zwangsläufig zu einer falschen Fragestellung in unserer praktischen Politik sowohl gegenüber den Nazis, wie vor allem gegenüber der SPD führen.«

Konnte die Partei sich derselben »künstlichen Panikstimmung« schuldig machen oder wegen einer drohenden Gefahr Alarm schlagen, nachdem sie diese zur lebendigen Realität erklärt hatte?

Ich beschloß, mit dem Sonderkorrespondenten der Iswestija zu reden. Wird er den Mut haben, diese Haltung zu verteidigen? Was wird er sagen?

Es wurde, was mich betraf, mehr eine grimmige Strafpredigt als eine Unterhaltung. Ich sagte ihm, daß er als Journalist wissen müßte, daß es die oberste Pflicht einer Zeitung sei, Nachrichten zu verbreiten. Von den Abonnenten der Roten Fahne könne man nicht erwarten, daß sie von derselben philosophischen Unbeschwertheit seien wie die schlauen Führer, und sie könnten es sich auch nicht leisten, weniger gut informiert zu sein als ihre Kollegen im Betrieb. Sie könnten sich, wenn über das Ereignis diskutiert und wenn ihnen Fragen gestellt würden, nicht einfach verkrümeln. »Damit zwingt ihr sie nur, die Zeitungen des Klassenfeindes zu kaufen.«

»Sehen Sie«, sagte er, »die Partei kann da nichts machen. Wäre sie allzu sehr auf den Schrecken des Faschismus herumgeritten, dann hätte sie sich mit ihrer gesamten Politik der letzten drei oder vier Jahre ins Unrecht gesetzt.«

Hatte ich es nicht gewußt? Ich wollte nur, daß er es mir in klaren Worten bestätigte. »Ihr glaubt also, ihr könntet den >unaufgeklärten Massen< einreden, daß zwischen sollenden Köpfen< und den gegenwärtigen Zuständen kein Unterschied besteht. Das Land ist in Aufruhr. Statt diesen Aufruhr für eine

antifaschistische Aktion zu nutzen, seid ihr entschlossen, eure >Klassenkriterien< zu bewahren. Ihr steckt den Kopf in den Sand und tut so, als wäre nichts geschehen.«

Er zuckte die Schultern. »Es ist zu spät, um unsere Politik noch zu ändern...«

Gegen Ende des Sommers erschütterte ein neues Ereignis Berlin. Die Partei lud führende Sozialdemokraten zur Diskussion in einer öffentlichen Versammlung ein - ein erster Versuch in Richtung Einheitsfront. Berlin reagierte so lebhaft, wie man es nur aus der ersten Phase der Revolution kannte. Die ganze Stadt war auf den Beinen. Polizei stellte sich massenhaft ein, um die Aufgänge der U-Bahnstationen und die Straßen, die direkt zum Versammlungssaal führten, abzusperren. Aber die Menschen quollen über die Absperrungen und füllten nicht weniger als sechs Versammlungssäle. Die Massen zeigten nicht eine Spur von Gewalttätigkeit. Sie waren begierig, die Argumente ihrer Führer zu hören, zu bedenken, zu fragen und zu entscheiden, wem sie in der Zeit der Prüfung folgen sollten. Sie trotzten der Polizei und stimmten sie hier und da auch nachsichtig mit ihrem trockenen, typisch berlinerischem Humor. Ich hörte, wie so ein kraftstrotzender Bursche zu einem Polizisten, der »Weitergehen! Weitergehen!« brüllte, sagte:

»Schon gut, ich geh ja schon, aber du mußt doch zugeben, keiner hat so schnelle Beine, daß er mit allem Schritt halten kann, was Zörgiebels Republik so verlangt.«

Ein alter sozialdemokratischer Arbeiter sagte grimmig: »Zu was wäre ein sozialdemokratischer Polizeichef schon nütze, wenn er nicht irgend etwas gegen die Arbeiter aushecken könnte.«

Jeder versprach sich ein mehr als lebendiges Zusammenprallen der beiden Parteien. Jedoch - die sozialdemokratischen Führer erschienen nicht. Sie waren nicht gerade stolz auf ihre eigenen antifaschistischen Verdienste und wagten es nicht, sich in aller Öffentlichkeit den Kommunisten zu stellen. Ebensowenig aber konnten sie es sich leisten, das Angebot der Kommunisten einfach zu ignorieren; sie nahmen deshalb zu einem diplomatischen Kniff Zuflucht.

Sie luden die Kommunisten ein, zum selben Zweck auf ihrer Versammlung zu erscheinen. Da sie dann formal die Gastgeber waren, hatten sie den Vorteil, die Teilnehmer auswählen und »Unerwünschte« abweisen zu können. Um ihre Bereitschaft zu dokumentieren, sich den Massen zu stellen, hatten sie als Versammlungsort demonstrativ den Sportpalast gewählt.

Sie machten von ihrem formalen Hausrecht ausgiebig Gebrauch und wiesen »Verdächtige« zu Tausenden ab. Die Eingänge zum Sportpalast wurden rasch zu wahren Schlachtfeldern, und der Kampf tobte nicht etwa zwischen den streitenden Parteien, sondern vor allem unter den Sozialdemokraten selber. Ihre eigenen Mitglieder durften nicht hinein, wenn sie nicht respektabel genug aussahen. Ich selbst, als »Dame« mißdeutet, wurde beflissen in die vordersten Reihen komplimentiert, und als man entdeckte, daß ich schließlich doch nicht »dazugehörte«, wurde ich mit ebenso großer Beflissenheit beschimpft. Von meinem freundlichen Platznachbarn wurde ich belehrt, daß ich auf den Alexanderplatz gehörte...

In meiner Nähe saß auch ein alter Sozialdemokrat. Die Unterhaltung, die ich mit ihm hatte, war schuld daran, daß ich in Ungnade fiel. Er schüttete mir sein Herz aus über »so viel Verrat«. Armer Kerl, er glaubte, er dürfe seine Meinung sagen.

Ein anderer Mann schimpfte so heftig auf die Sozialdemokraten, daß er gefragt wurde: »Warum tragen Sie dann noch das SPD-Abzeichen am Revers?« »Um es dir ins Gesicht zu schmeißen und mit dir abzurechnen wegen deines Verrats.«

Nach der allgemeinen Stimmung zu urteilen hätte dies ebensogut auch eine kommunistische Versammlung sein können. »O ja, sie haben versucht, uns rauszuhalten. Sie wollten nicht, daß wir die Schande der sozialdemokratischen Redner mitansehen.«

»Gebt uns die Macht! Schließt euch der SPD an!« »Wozu wollt ihr denn die Macht? Um sie wieder an die Kapitalisten zu übergeben? Geht in die Arbeitsämter, da ist eure Macht, ihr braucht sie bloß aufzuheben.«

Immerhin hatte die SPD für genügend »Getreue« gesorgt, um die »Internationale« mit Pfeifen und Trommeln zu übertönen und die Ansprache Neumanns unverständlich zu machen. Er bemühte sich sehr, zuvorkommend hörte er sich ausgedehnte, von niemandem gestörte Zwischenrufe an, standhaft ließ er das Füßestampfen über sich ergehen; am Ende aber mußte er doch aufgeben. Die Schwäche der SPD hätte kaum überzeugender enthüllt werden können.

In ihrer Suche nach einer Lösung waren die Arbeiter wie nie zuvor bereit, auf die Kommunisten zu hören. Solche Begegnungen der beiden Parteien konnten ihnen die ersehnte Gelegenheit bieten, sich zu entschließen. Die SPD konnte solche

Diskussionen nur zum eigenen Schaden sabotieren. Die Kommunisten konnten nur gewinnen, wenn sie Angebote dieser Art wieder und wieder machten. Der mutige Schritt zur Einheitsfront »von oben«, das war es nämlich, konnte allein zum Erfolg führen. Aber die Partei beharrte auf ihrer starren Politik. Der Versuch zur Einheit blieb eine Einzeltat.

Ich nehme an, daß keiner der Oppositionellen, die kapitulierten, auch nur vor sich selbst eingestand, daß er zu schwach war, den Schwierigkeiten ins Gesicht zu sehen, und zu selbstsüchtig, die Interessen der Revolution über seine eigenen zu stellen. Ich habe sie alle gehört, die Entschuldigungen, ich konnte sie fast auswendig. Sie begannen damit, daß sie irgend etwas Verdienstvolles, was sich an jeder neuen Parteilinie finden ließ, herauspickten, und argumentierten dann, wie notwendig es doch sei, dieser guten Sache eine faire Chance zu geben; und schon war er da, der so löbliche Wunsch, »der Revolution unter allen Umständen zu dienen«, »um jeden Preis zur Revolution zu stehen«. Eine andere häufig benutzte Entschuldigung lautete, die Unterwerfung sei nur vorübergehend, sie bedeute keineswegs, daß man nicht zu einem günstigeren Zeitpunkt wieder anderer Meinung sein könne.

Und da war noch etwas anderes, viel Entscheidenderes: Ein Revolutionär, der von zaristischer Polizei verhaftet und eingekerkert wurde, konnte auf die Hilfe und die Sympathie seiner Freunde und Verbündeten rechnen. Ein Oppositioneller jedoch, der sich in Stalins Netz verfangen hatte, erlitt die totale Isolierung und eine vernichtende Verleumdungs- und Verunglimpfungskampagne. Genau dies zwang mich, Anfang 1933 mit einem Verzweiflungssprung aus der Sowjetunion in die Unausweichlichkeit eines Nazideutschlands zu entfliehen. Sie schössen noch nicht auf uns in Sowjetrußland, aber ich spürte, daß ich nicht imstande sein würde, mich so vollständig unauffällig zu machen, daß ich der Verhaftung oder Verbannung entgehen könnte. Es war leichter und ehrenhafter, die Verfolgung durch Hitler inmitten verständnisvoller Freunde auf sich zu nehmen, als die Stalinsche Verfolgung zu ertragen. Vier Tage, bevor Hitler Reichskanzler wurde, kehrte ich nach Deutschland zurück - trotz des Risikos, schon an der Grenze festgenommen zu werden.

Obwohl der deutsche Kommunismus vernichtet war und die Ausbreitung des Nazismus drohte, setzte sich die grauenhafte Unterwerfung unter Stalin fort - wie ich feststellte, als ich nach Frankreich ins Exil ging. Eine wahrhaft erschütternde Angst, die Brücken zur Partei - und zur Revolution - abzubrechen, war unter den deutschen Emigranten in Paris zu beobachten. Verlassen zu sein, aus eigener Schuld verhungern zu müssen, weil man der paar lumpigen Francs Unterstützungsgeld von der Partei verlustig gegangen wäre, das waren harte Aussichten. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht öffentlich meine Stimme erhob, und sondierte die Meinungen, um zu sehen, mit welcher Unterstützung ich rechnen konnte, hier, unter scheinbar doch so viel günstigeren Bedingungen. Viele gaben im persönlichen Gespräch zu, daß die Parteilinie falsch, ja absurd sei.

»Warum sagst du das nicht offen? Laß uns Widerstand leisten. Eine starke Opposition könnte die Waagschalen in Bewegung setzen und zumindest Frankreich vor dem deutschen Schicksal bewahren. Wovor hast du Angst? Die Partei kann Dir jederzeit befehlen, nach Deutschland zu gehen und dort illegale Arbeit zu machen, die du selber für sinnlos hältst. Ist es leichter, dem Konzentrationslager ins Auge zu blicken?«

»Daran läßt sich nichts ändern - das ist die Pflicht des Kommunisten.«

Auf diese Art trug die Partei in den Jahren, die zum Zweiten

Weltkrieg führten, dazu bei, sich selbst zu vernichten. Die Revolution, die das zaristische Rußland zur Sowjetunion verwandelt hatte, war nun bankrott, und der Idee der Weltrevolution haftete etwas Beängstigendes an, weil die Sowjetunion versagte. Dennoch - der Bolschewismus hat, ungeachtet seiner späteren Entartung, in den ersten Jahren seiner Macht funktioniert, und zwar gegen eine unglaubliche Übermacht. In Deutschland sind wir gescheitert, als wir uns nicht mehr von seinem ursprünglichen Vorbild führen ließen.

Ich glaube nach wie vor an die kommunistische Revolution. Im Westen, wo das Problem darin besteht, den Wohlstand besser zu verteilen, wäre sie zu erreichen, ohne daß ein einziger Tropfen Blut vergossen werden müßte. Das aber kann nur eine echte kommunistische Partei vollbringen - nicht die derzeit bestehende, die nur dem Namen nach »kommunistisch« ist.

Die Autorin
Rosa Meyer-Levine, 1890 als zwölftes Kind eines Rabbiners in der russischen Provinz geboren, versuchte nach dem frühen Tod ihres Vaters ein eigenes Leben aufzubauen. Ohne Geldmittel, ohne Sprachkenntnisse ging sie 1910 als Erzieherin nach Heidelberg, wo sie Eugen Levine heiratete. Nach seiner Hinrichtung 1919 wurde sie aus Bayern ausgewiesen. Sie arbeitete dann in Heidelberg und Berlin für die hier einströmenden russischen Delegierten als Dolmetscherin. Über die Parteiarbeit traf sie mit Ernst Meyer zusammen, den sie 1922 heiratete. 1933 flüchtete sie zunächst nach Paris, dann nach London, wo sie 1979 starb.
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