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Quelle: http://www.frankfurter-rundschau.de/fr/232/t232002.htm  

Menschenjagd   
Der Tod eines Algeriers in Brandenburg 

Von Ute Frings

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In Deutschland ist Menschenjagd verboten. Nur Tiere dürfen gejagt werden. Manchmal allerdings machen Menschen Jagd auf Menschen; da glauben die Jäger wohl, die Gejagten seien nicht ihresgleichen, sondern Tiere. 

Elf junge Männer aus dem brandenburgischen Guben hetzten im Februar drei Asylbewerber durch die Stadt. Einer kam dabei ums Leben. Farid Guendoul, 28 Jahre alt, aufgewachsen in Tagarines, einem Armenviertel in Algier. Unter dem Namen Omar Ben Noui hatte er im Sommer 1997 um politisches Asyl gebeten. Am liebsten wäre Farid Guendoul damals in den Weltraum aufgebrochen. Doch aus den Hütten in Algier führt kein Weg in den Himmel. So wanderte Farid Guendoul nach Deutschland. Nicht ahnend, dass weder sein Traum von der Raumfahrttechnik noch der Bombenterror islamischer Fundamentalisten seinen Aufenthalt in diesem Land hinreichend begründen könnten.

Farid Guendoul ist tot. Gestorben in der Nacht zum 13. Februar. Als Todesursache vermerkt der Gerichtsmediziner "Verblutungsschock", hervorgerufen durch eine "1,5 bis 2 Zentimeter große Schnittwunde an der rechten Kniekehle". Durch einfaches Abbinden des Beines hätte der Mann überleben können. Erste Hilfe, die jeder im Pflichtkurs für den Führerschein lernt. Doch das ist eine andere Geschichte, die handelt von Menschen, die in dieser Nacht ihre Wohnungstüren fest verschlossen hielten. Sie hätten Angst gehabt, sagen sie später. Irgendwann telefonierte einer nach der Polizei. Als die Beamten gegen 4.50 Uhr eintrafen, kam jede Hilfe zu spät. Die Leiche im Treppenhaus der Hugo-Jentsch-Straße Nr. 14 war mit einer Decke bedeckt. Es war kalt. Draußen lag Schnee.

Cottbus im Oktober. Im großen Sitzungssaal des Landgerichts spricht Rene K. einen langen Satz: "Da ich bisher keine Gelegenheit hatte, mich bei Ihnen für das, was ich Ihnen, Herr B., angetan habe, zu entschuldigen, will ich das jetzt tun." Renes Mutter sitzt im Zuschauerraum, gespannt lauscht sie der kleinen Rede ihres Sohnes. Sie nickt zufrieden. Wenn jetzt noch das Opfer dem Täter um den Hals fiele, würde der graue Cottbuser Himmel aufreißen. Doch es bleibt finster. Und still. Nach einigen unendlich langen Sekunden hebt Zeuge B. an zu sprechen, wie ein Hiob fragt er: Warum? "Warum haben Sie mich geschlagen?" Rene K. ist verwirrt. Wie wird ein junger Mann zum Schläger? Schließlich antwortet er: "Das Ganze beruht auf einem Irrtum." Der Dolmetscher übersetzt. Khaled B. ergreift ein letztes Mal das Wort. "Mein Freund ist tot, die Entschuldigung, nach einem halben Jahr und hier vor Gericht, kommt zu spät. Nein." Er verlässt den Zeugenstand ohne Trost.

Der Prozess vor der 3. Strafkammer des Landgerichts Cottbus gegen den 18-jährigen Rene K. und zehn andere junge Männer hat am 8. Juni begonnen. Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten unter anderem fahrlässige Tötung vor. Die mutmaßlichen Straftäter sind zwischen 17 und 20 Jahre alt. Lässig, ein wenig gelangweilt, wie Theaterbesucher eines nicht sonderlich aufregenden Stückes, sitzen sie hinter ihren Verteidigern. Sehnsüchtig erwarten sie die Pausen. Im kahlen Vorraum des Verhandlungssaals drängeln sich dann Angeklagte, Mütter, Anwälte, Journalisten. Die mitgebrachten Brote werden ausgepackt, Thermoskannen dampfen, vor dem Kaffeeautomat im Parterre bildet sich eine Schlange.

Allmählich färbten sich die Blätter der Kastanien vor dem Landgericht bunt . . . Jetzt sind die Bäume nackt. Zum Schutz gegen die Kälte tragen einige der Angeklagten Bomberjacken über den Jeans und T-Shirts. Ungeachtet der Temperaturen rasieren sich die meisten ihre Schädel regelmäßig. Einzig Christian K. kostümiert sich ausdauernd als Konfirmand, mit Jackett und Schlips, die Haare streng in der Mitte gescheitelt. Im November trug der Angeklagte Steffen H. auf seiner Jacke den Schriftzug "Nationaler Widerstand" zur Schau. Ein Aufnäher gebe keinen Hinweis auf eine politische Orientierung, beeilte sich ein Verteidiger, das Gericht vor nahe liegenden Schlüssen zu warnen.

Einige der Angeklagten erlernen zur Zeit einen Beruf, die anderen sind arbeitslos. Zwei Beschuldigte sitzen seit Februar in Untersuchungshaft. Sie werden in Handschellen vorgeführt. Bleiche Kindergesichter. In der Anklageschrift heißt es, sie hätten weitere Straftaten verübt. Sie sollen einen 14-Jährigen misshandelt, zum Einstieg in einen Gully gezwungen und mit ätzender Flüssigkeit übergossen haben. Ein weiteres Opfer hätten sie mit Klebeband wie ein Paket verschnürt, anschließend geschlagen und die Haare mit einem Feuerzeug versengt. Auf die Frage des Vorsitzenden Richters Joachim Dönitz nach dem Motiv für die Taten, antwortet der 18-jährige Ronny H.: "Aus Quatsch."

Für gewöhnlich sind die elf sehr schweigsam. Aus verteidigungstaktischen Gründen. Die Beweislage sei dürftig und ein Freispruch aus Mangel an Beweisen eben auch ein Freispruch, sagt Rechtsanwalt Olaf Wernicke. Wer ein Geständnis ablegt, gilt als Verräter. Rene K. hat gestanden, den algerischen Staatsbürger Khaled B. in den frühen Morgenstunden des 13. Februars vom Bürgersteig der B 97, der Ausweg nach Cottbus in die weite Welt, über einen Parkplatz gejagt zu haben. Als der Mann hinfiel, hat Rene K., wie er angibt, "zwei-, dreimal mit dem Fuß gegen seinen Körper getreten". Khaled B. rappelte sich auf, lief weiter, schlug ein zweites Mal auf den Asphalt. "Da habe ich ihm noch einmal in den Rücken oder den Bauch getreten." Zeuge Khaled B.: "Ich hatte Todesangst und schrie wie ein Kind." Die Angeklagten grinsen. Einige tuscheln. Richter Dönitz ermahnt sie wegen ungebührlichen Verhaltens. Rechtsanwalt Christian Nordhausen will wissen, warum der Zeuge von "Nazis" spricht. "Sie hatten kahlrasierte Schädel und trugen Stiefel."

1998 registrierte der Verfassungsschutz rund tausend organisierte Rechtsextreme in Brandenburg. Etwa 50 gewalterfahrene Skinheads rechnen Experten zum harten Kern der Gubener rechten Szene. Auf einige hundert Gesinnungsgenossen könne der Stoßtrupp bei Aktionen zählen, heißt es. In manchen Dörfern ist die rechte Jugendkultur längst "mainstream". Jugendclubs werden zu "National befreiten Zonen" erklärt, Sonnenwendfeiern gehören zum Feiertagskalender der Jugend in Guben. Für die pädagogische Betreuung der Heimat-Truppe beschäftigt die Stadtverwaltung inzwischen 30 Streetworker. Die Angeklagten im Cottbuser Prozess sind den Sozialarbeitern wohl bekannt. Jeder von ihnen habe einen Hang zu kleinkriminellen Delikten, teilte Ingo Ley, Obmann der Gubener Streetworker, unmittelbar nach dem Tod von Farid Guendoul dem Spiegel mit. Doch seien lediglich zwei der Angeklagten Rädelsführer mit rechtsextremem Gedankengut. Die anderen beschrieb der Sozialarbeiter mit dem lustigen Wort "Fun-Faschos". In der Silvesternacht feierten dreißig junge Männer in Guben das Fest mit Reichskriegsflaggen und "Sieg-Heil"-Parolen. Die Polizei nahm elf Randalierer vorläufig fest. Drei von ihnen sitzen in Cottbus auf der Anklagebank.

Als Rene K. bemerkte, dass der Mann, den er misshandelte, kein Schwarzer war, ließ er von dem ohnmächtig am Boden Liegenden ab. Das war nicht der Mann, auf den sie Jagd machten. Die Kurzgeschorenen, die in ihren vorsorglich mit Backsteinen vollgeladenen Autos durch das nächtliche Guben rasten, suchten den Mann, dem sie vor der Diskothek "Dance Club" bei einer Auseinandersetzung "Neger, verpiss' dich" zugerufen und den sie zu Boden gestoßen hatten. Was der Mann nicht widerstandslos hingenommen hatte. Mit einem Stück Blech verletzte er einen der Angreifer leicht am Rücken.

"Aufgeschlitzt mit einer Machete", lautete die Horrormeldung, die per Handy verbreitet wurde. Deutsche, zum Kampf! Es war Nacht, und es war kalt, und das Blut kochte. Steine durchschlugen die Fenster eines vietnamesischen Imbisses. Einer Passantin schütteten die Rächer Bier ins Gesicht. Als die Gubener Jungs drei Fremde auf der Straße entdeckten, brüllten sie "Hass, Hass, Hass". Und: "Ausländer mischen wir auf."

Der "Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland" rät allen Ausländern von einer Einreise in die neuen Bundesländer ab. Neben der an der Bundesstraße gelegenen Aral-Tankstelle erteilt die Polizei Ausländern Platzverweis, mit dem Hinweis, sie könne für ihre Sicherheit nicht garantieren. Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus beeinträchtige das Investitionsklima im Land, warnt das brandenburgische Wirtschaftsministerium die Bürger. In den vergangenen zehn Jahren haben in der vormaligen sozialistischen Industriestadt an der polnischen Grenze Tausende ihre Arbeit verloren. 21 Prozent der Gubener im arbeitsfähigen Alter sind heute offiziell arbeitslos gemeldet, Fachleute gehen davon aus, dass die Hälfte der Einwohner staatlich alimentiert wird. Rund zehntausend Menschen haben die sterbende Stadt seit der Wende verlassen. Die Geburtenrate sinkt. Beim ehemaligen Chemiefaserkombinat ist neben anderen auch der indonesische Investor "Polysindo" eingestiegen. Die "Asiaten" sichern rund 850 Arbeitsplätze in Guben.

Bei einer Vernehmung im Februar fragten die Beamten Rene K. nach seiner politischen Einstellung. "Meine Ideen und Anschauungen würde ich eher dem rechten Spektrum zuordnen", gab der damals 17-Jährige zu Protokoll. Ein halbes Jahr später hält ihm die Anwältin, die den Bruder des Toten vertritt, diesen Satz vor. Doch der Angeklagte will sich dazu nicht äußern. In einer Verhandlungspause diktiert Rechtsanwalt Egon Janthur Journalisten in den Block, das Geständnis seines Mandanten K. habe ihn viel Überzeugungsarbeit gekostet. Und: Es sei ihm um die Wahrheit gegangen. Andererseits, das gibt er unumwunden zu, sei die Beichte seines Mandanten im Sinne der Verteidigung "taktisch nicht ungeschickt".

Rechtsanwalt Janthur ist ein älterer, weißhaariger Herr, der sich von seinen meist jungen, schneidigen Kollegen in diesem Prozess zu distanzieren sucht. Einer von ihnen heißt Wolfram Nahrat und war früher Bundesjugendführer der 1994 verbotenen Neonazigruppierung "Wiking Jugend". Die meisten betreiben ihre Kanzlei in Cottbus und der Umgebung. In der Regel führen vier der Anwälte das Wort, ihnen ist es darum zu tun, den Prozess nach Kräften zu verzögern.

Das Ritual ist immer dasselbe. Zu Beginn beinahe jedes Verhandlungstages stellt ein Verteidiger einen Antrag oder formuliert eine Beschwerde. Sie bezichtigen den Vorsitzenden Richter der Befangenheit, fordern den Ausschluss der Nebenkläger oder der Öffentlichkeit. Zweimal schon bezweifelten die Anwälte die Identität des Toten. Die Unterbrechung der Verhandlung gehört längst zur Routine. "Je länger das Verfahren dauert, um so besser", beschreibt Rechtsanwalt Nordhausen die Taktik. Ende Oktober protestieren die Herren in den schwarzen Roben wieder einmal - gegen die notwendige Verlängerung des Prozesses bis ins nächste Jahr. Im November, am 26. Verhandlungstag, beschwert sich ein Anwalt über mangelnden Platz. Die Arbeitsplatte seines Tisches sei zu schmal, außerdem könne er im dichten Gedränge von Anwälten und Angeklagten nicht ungehindert mit seinem Mandanten sprechen. Sein schriftlich formulierter Beschwerdeantrag zwingt das Gericht zu mehrstündiger Beratung.

In der ersten Reihe der für die Öffentlichkeit reservierten Stuhlreihen sitzt Frau K. Eine schmale Frau, mit bitterem Gesicht. Wie zwei, drei andere Mütter begleitet sie ihren Sohn Rene zu jeder Verhandlung. Die Frauen erinnern an Klageweiber aus einem antiken Drama. Die Journalisten, das Gericht, ja die ganze Welt hat ihnen und ihren Söhnen Unrecht angetan. "Sie schreiben ja doch, was Sie wollen", wehrt Frau K. ein Gespräch ab. Dann beginnt sie zu erzählen. Vom bohrend schmerzenden Ischiasnerv, der sie auf dem harten Besucherstuhl quält, von den endlosen Tagen ohne Beschäftigung. Ohne Arbeit. "Nie habe ich mir etwas zu Schulden kommen lassen." Und damit das ein für alle mal klar ist: "Gegen Ausländer haben wir nichts." Die Mutter des Angeklagten Daniel R. habe im Gubener "Asylantenheim" gearbeitet, der Sohn mit den ausländischen Kindern gespielt. Gebe es einen besseren Beweis, dafür, dass sie Fremde nicht hassen? "Daniel", sagt seine Mutter, "quälen jede Nacht Albträume. Manchmal schreit er im Schlaf." Weil die Leute in Guben mit dem Finger auf sie gezeigt haben, ist sie von dort geflohen. Ihr Unglück, glauben die Frauen, ist einer Naturkatastrophe gleich über sie hereingebrochen. Unvorhersehbar, unvermeidbar.

Der 12. Februar ist ein Freitag. An diesem Abend fuhr Khaled B. mit seinen Freunden Farid Guendoul und Siaka K. aus dem Asylbewerberheim im 200-Seelen-Dorf Sembten ins acht Kilometer entfernte Guben. Gegen 21.30 Uhr treffen die drei Freunde im "Dance-Club" ein. Eine schäbige, weiß-getünchte Baracke an der vierspurigen Bundesstraße, die ein Gewerbegebiet und die Plattenbausiedlung "WK 4" auf Distanz hält. "Erotik pur" und "Striptease" verheißen Aufkleber an der Tür. Zehn Mark kostet der Zutritt zu dieser plüschigen Vorhölle der Lust. An der geblümten Tapete ranken künstliche Kletterpflanzen. "Multi-Kulti-Treff" nennt dieses Etablissement sein Besitzer, der einen Schäferhund an der Leine führt. Die männlichen Gäste kommen aus aller Herren Länder, die Frauen vorwiegend aus den osteuropäischen Anrainerstaaten, einige auch aus Guben. Gegen Mitternacht gab es Streit, erinnert sich der Zeuge Khaled B. Nichts Besonderes, er habe nicht darauf geachtet.

Als die Freunde das Lokal verlassen, herrscht noch das Schwarz der Nacht. Die drei wollen nach Hause. Sie wandern die Bundesstraße entlang, als plötzlich vier Autos mit quietschenden Bremsen stoppen. Aus den Wagen grölt die Meute. "Kanaken-Schweine, Ausländer-Säue", versteht Khaled B. Ein Polizeiauto fährt vorbei. Sie winken. Rufen. Vergeblich. Dann laufen sie um ihr Leben. Kurz vor der Diskothek, nur einige hundert Meter von der Hugo-Jentsch-Straße entfernt, versperren die Verfolger den Fluchtweg. Angeklagter K.: "Ich kann mir vorstellen, dass die Ausländer Angst hatten." Die Meute springt aus den Autos. Die Jagd beginnt. "Wir rannten", sagt Siaka K., "Khaled in die eine Richtung, ich und Omar in die andere." Angeklagter K.: "Sie flohen, dadurch machten sie sich schuldig." Im Oktober ist der 17-jährige Siaka K. als Zeuge vor die 3. Große Strafkammer des Cottbuser Landgerichts geladen. Der schmächtige Mann war der letzte, der Farid Guendoul lebend gesehen hatte. Zusammengekrümmt, den Kopf in den Händen, als müsse er ihn noch immer vor Tritten schützen, berichtet er vom Horror jener Nacht. Siaka K. ist vor einem Jahr aus Sierra Leone nach Deutschland gekommen. Er spricht Mandingo, kennt ein paar Worte Französisch, einige Brocken Englisch. Siaka K. hat nie eine Schule besucht. Die Bitte des Richters, den Fluchtweg auf der Karte zu beschreiben, lehnt er ab. Siaka K. kann weder lesen noch schreiben. Die Welt aus Plänen, Gesetzen und Regeln, in der er tausende Kilometer von seiner Heimat entfernt strandete, ist ihm so fremd wie die Innere Mongolei.

Farid Guendoul, den Siaka K. nur als Omar kannte, war sein Freund. Sein Beschützer. Als Guendoul in panischer Angst die Glasscheibe eines Wohnhauses eintritt und hindurchkriecht, folgt er ohne zu zögern. Verteidiger: "Warum haben Sie nicht versucht, die Tür von innen mit der Klinke zu öffnen?" - "Ich weiß nicht." Als er auf den steinernen Treppenstufen Blut sieht, fragt er den Freund: "Hast du dich verletzt?" - "Ja, hol' ein Taxi", antwortet Guendoul. Auf 15 Minuten schätzt der Gerichtsmediziner die Zeitspanne, bis einem Menschen so viele Liter Blut aus der aufgerissenen Schlagader an der Kniekehle geflossen sind, dass der Tod eintritt. "Ich hatte Angst", sagt Siaka K., "ich traute mich nicht auf die Straße." Er läuft wieder zurück. "Mein Freund lag da und war schon müde." Im Treppenhaus ist es totenstill. "Dann dachte ich, wenn Omar sagt, hol' ein Taxi, muss ich es holen. Es war Gottes Hilfe, dass tatsächlich ein Taxi kam." Er erzählt dem Fahrer von dem Verletzten. Doch der versteht ihn nicht. Als sich ein Auto nähert, "hat der Mann plötzlich stark gezittert", sagt der Taxifahrer vor Gericht. Ein Verteidiger fragt nach: "Vielleicht vor Kälte?"

Siaka K. hat die Autos der Meute gesehen. In Todesangst fleht er den Taxifahrer an, ihn ins Asylbewerberheim zu fahren. Der Fahrer gibt Gas, wenige Minuten später setzt er seinen Fahrgast an Tom's Bistro ab. Irgendwo am Rande der Stadt. Die Jäger bleiben ihrer Beute auf den Fersen. Als sie versuchen, das Bistro zu stürmen, widersetzt sich die Wirtin dem Ansturm. Sie ruft die Polizei. "Das war eine Situation kurz vor dem Umschlagen, wo die Leute nicht mehr denken, nur noch handeln", beschreibt der Polizist Frank R. im Zeugenstand die Szene.

Frank R. fuhr in der Nacht vom 12. Februar Streife in Guben. Insgesamt waren fünf Beamte im Dienst. In der Stadt brodelte der Hass. Gegen drei Uhr erhielt er über Funk die Nachricht: "Schlägerei im ,Dance-Club'. Ausländer verletzt Deutschen mit Machete." Vor der Diskothek trifft Frank R. auf eine Gruppe aufgeregter Jugendlicher. Sie geben an, der Verletzte sei in Richtung Tankstelle geflohen. Aber das vermeintliche Opfer bleibt unauffindlich. Vergeblich fordert Frank R. Verstärkung an. Dann erhält er die Nachricht, in einem Hochhaus der Plattenbausiedlung liege ein Verletzter. Die aufgebrachten jungen Leute, die er dort antrifft, darunter auch die Angeklagten, versichern ihm, man werde die Angelegenheit selber erledigen. Rene K.: "Wir hatten das Gefühl, die Polizei ist froh, wenn wir ihr helfen." Der 34-jährige Polizist kennt die Angeklagten. Was ihre politische Haltung anlangt, will er sich nicht festlegen. Den Satz: "Ausländer mischen wir auf", wertet der Beamte als normale Umgangssprache von Jugendlichen.

Im Schaufenster eines Ausrüstungsfachgeschäftes im Zentrum von Guben liegen Springerstiefel, Totschläger und Baseballschläger zum Verkauf. US-Army-Shop steht über der Ladentür. Das Geschäft boomt. Jedes Jahr zu Weihnachten verbindet eine Lichterkette auf der Neiße-Brücke Guben mit dem polnischen Gubin. Eine enge und freundschaftliche Zusammenarbeit mit den Nachbarn gilt dem parteilosen Bürgermeister Gottfried Hain als Herzensangelegenheit. Für sein Wirken im Geiste der Völkerfreundschaft hat der polnische Staat Hain im Juni sogar einen Orden verliehen. Aber nicht alle Einwohner Gubens freuten sich mit ihrem Bürgermeister. Unter Federführung des Besitzers eines Einrichtungshauses initiierten Mitglieder des so genannten "mittelständischen Stammtischs" eine Unterschriftenaktion, mit der sie die Abwahl des ersten Mannes im Rathaus forderten. Der Vorwurf lautete: Vernachlässigung der deutschen Interessen.

Am frühen Morgen des 13. Februars lag der verletzte Farid Guendoul allein im Treppenhaus eines Wohnblocks in Guben. Die Menschen hinter den Türen schliefen, vielleicht horchten sie auch auf die Geräusche, die aus dem Dunkeln kamen. Farid Guendoul, der seine Heimat verlassen hatte, um in einer anderen Welt das Glück zu suchen, rann das Blut aus dem Körper mit jedem Schlag seines vor Angst und Erschöpfung pochenden Herzens.

Als der Polizist Frank R. in Tom's Bistro die blutigen Hände des Ausländers Siaka K. bemerkt, ruft er: "Hände hoch." Er fesselt dem vor Angst zitternden Mann die Hände auf dem Rücken und fährt mit ihm auf die Wache. Siaka K.: "Ich verstand nicht, warum." Für die Polizisten war er der schwarze Mann mit der Machete. Vier Stunden lang sitzt Siaka K. auf der Gubener Polizeiwache, die Handschellen schmerzen. Das Blut an Siaka Ks. Händen stammte aus der Wunde am Bein seines Freundes. Draußen lärmt die Meute, sie droht die Wache zu stürmen. Im östlichsten Zipfel des Landes tobt der wilde Westen.

Die Polizisten in Guben verstehen kein Mandingo, sprechen kein Englisch und kein Wort Französisch. Aber Siaka K. hat in dieser Nacht das deutsche Wort "Ruhe!" gelernt. Seine Bitte um Hilfe für den verletzten Freund will keiner hören. "Als ich verstand, dass Omar tot war, habe ich sehr geweint", sagt Siaka K. Hätte er ihm nicht helfen können? Im Prozess ergreifen die Verteidiger das Wort: "Haben Sie versucht, im Haus jemand zu erreichen?" - "Omar hat gesagt, ich soll ein Taxi rufen, nicht, dass ich nach Hilfe klingeln soll." - "Kannten Sie am 13. Februar schon das Wort ,Polizei'?" - "Ja, wer vier Monate im Land ist, kennt das Wort ,Polizei'."

Wenn es gelänge, Siaka K. der unterlassenen Hilfeleistung zu überführen, "wird mein Mandant nicht verurteilt", glaubt einer der Rechtsanwälte. Ohnehin sei die Anklage wegen fahrlässiger Tötung nicht aufrechtzuerhalten. "Selbst wenn es tatsächlich eine Verfolgung gegeben haben sollte. Muss ich dann damit rechnen, dass irgendjemand eine Tür eintritt?" Nein, sagt der juristische Kopf, für fremdes Verhalten könne man niemanden verantwortlich machen.

Plötzlich schreit Siaka K., qualvoll wie ein Mensch unter der Folter. Verzweifelt schlägt er mit den Händen auf den Tisch. "Immer nur reden, reden, nie geht es um Gefühle." Dann weint er, wie ein von Gott und der Welt verlassenes Kind. Richter Dönitz unterbricht die Verhandlung. Die Angeklagten schauen stumpf. "Wollen Sie an den Zeugen eine persönliche Erklärung richten?" fragt der Richter am Ende dieses langen Verhandlungstages. Im Saal herrscht Schweigen. Draußen verrinnt die Sonne am Horizont.

Einige Wochen nach dem Drama des vermeidbaren Todes von Farid Guendoul wollten Mitglieder einer Antifa-Gruppe in Guben an der Hugo-Jentsch-Straße 14 eine Gedenktafel anbringen. Die Hausbewohner lehnten das Ansinnen ab. Etwas abseits, versteckt auf einer Wiese findet sich ein rot-brauner Findling. Der Name des Toten und die Todesursache sind darauf zu lesen. An manchen Tagen liegen dort Blumen, häufiger Scherben von zerbrochenen Bierflaschen. Gelegentlich schrubben Männer von der Stadtreinigung den Stein, weil Unbekannte ihn mit Hakenkreuze und SS-Runen bemalten. Gefragt, ob sie den Tod des Flüchtlings bedauert, sagt Frau K. "Wenn ich einmal sterbe, setzt man mir keinen Gedenkstein." Der Bürgermeister der nahe gelegenen Stadt Spremberg grübelte unlängst öffentlich: "Was hatte der Mann auch in der Nacht auf der Straße zu suchen?" Er wollte nach Hause und leben.

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