Seminare 2011
(1. Halbjahr)
Nachtrag
- 10. /
11. Juni: „Was tun, wenn meine
Menschenrechte verletzt werden?“
-
1./2.Juli:
Was tun, wenn ich unerwünschte Immigrantin oder Immigrant bin?
Wochenendseminar 10. und 11. Juni 2011 im Mehringhof
„Was tun, wenn meine Menschenrechte verletzt werden?“
Wolf-Dieter
Narr: „Bürgerrechte und Zukunft des Sozialstaats“
Zusammenfassung
des Vortrags und der Diskussion vom 10.6.2011, 19:00 bis 22:00
Uhr.
Situationsbeschreibung und „Problemknäuel“:
Wolf-Dieter
Narr beschreibt eine Situation wachsender Ungleichheit - so als
ob eine „soziale Ziehharmonika“ auseinandergezogen wird. Diese
Ungleichheit verschärft sich im Rahmen der zunehmenden globalen
Standortkonkurrenz, die wiederum die Regierungen der
Einzelstaaten entmachtet: „Merkel spielt eine Macht, die sie
nicht hat.“
Kennzeichen
dieser umfassenden Ökonomisierung ist die Unterordnung aller
gesellschaftlichen Teilsysteme und Lebensbereiche unter die
Erfordernisse der Standortökonomie. Alles wird zunehmend
marktförmig geregelt. Nicht nur der Arbeitsmarkt, der auf seiner
Kehrseite zum Arbeitslosenmarkt wird, oder der Bildungsmarkt
werden auf die Erfordernisse der Ökonomie ausgerichtet. Auch die
Bürgerrechte werden den Erfordernissen der Ökonomie angepasst.
So schafft zum Beispiel das Sozialgesetzbuch II über seine
vielfältigen Einschränkungen der Bürgerrechte der
GrundsicherungsbezieherInnen eine Bürgerschaft dritter Klasse.
Entstehung und Konstruktionsprinzipien von Grundgesetz und
Sozialstaat
Schon von
seiner Entstehung her waren die Systeme der sozialen Sicherung
um die Bedürfnisse der Arbeiterschaft herum eingerichtet worden.
Es ging nicht um die Sicherung von Teilnahme und Teilhabe,
sondern um Rechtsansprüche, die wiederum an die
Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß gebunden waren.
Insofern dominierten Restriktion und Disziplinierung, Befehl und
Gehorsam das Verhältnis zwischen Sozialstaat und
„Hilfebedürftigen“.
Aber auch die
Konstruktion des Grundgesetzes war nicht auf Teilnahme und
Teilhabe ausgerichtet. Wirkliche Demokratie erschien eher als
eine Störung des Normalbetriebs. Im Fokus standen individuelle
Abwehrrechte gegen staatliche Bevormundung. Somit fehlen
Aktivrechte, also Mitbestimmungsrechte, die Demokratie im
Wortsinne möglich machen würden.
Die Grundrechte
werden als prinzipiell staatlich gegebenes Recht gesehen. Die
Menschenrechte hingegen als vorstaatlich geltendes Recht.
Vielfach gleiten vorstaatliches und staatliches Recht ineinander
über. Nach herrschender Meinung werden jedoch beide primär als
individuelle (Abwehr-)Rechte gegen staatliche Eingriffe
verstanden - sprich eben nicht als durch einen gemeinsamen
Rahmen und Lenker zusammengehöriges Tandem:
Grundrechte/Menschenrechte und demokratisches Beteiligungsrecht
werden somit getrennt.
Ebenso fehlen
explizit dargestellte soziale Grundrechte; die soziale
Fundierung der Menschenrechte wird unzureichend beachtet. Das
Grundgesetz erreicht nirgends das Niveau der
UNO-Menschenrechtserklärung.
Es muss deshalb
darum gehen, den Zusammenhang von Menschenrechten und Demokratie
zu verankern, und zwar zu allererst über ein durchgehendes
bürgerliches Selbst- und Mitbestimmungsrecht. Der Ausschluss der
Bürgerinnen und Bürger aus der legislativen, exekutiven und
judikativen Umsetzung der Verfassungsziele à la Grundrechte
müsste durchgehend aufgehoben werden. Jede und jeder wirkten in
allen Bereichen an der Verwirklichung der Menschenrechte mit.
Erst wenn
solches geschieht, ändert sich Recht und Wirklichkeit der
Verfassung. Gorleben und Stuttgart 21 zeigen, wie „von unten“
ein prinzipiell anderer Umgang mit strittigen Ansprüchen
gefordert und erreicht wird.
Selbstredend
bliebe, wenn Konfliktlösungen durch mitbestimmendes Verfahren
nicht möglich sein sollten, der Weg durch prinzipiell
öffentliche Mediationen, am Ende, verfahrenslang, durch das
Bundesverfassungsgericht.
Wie kann
Teilnahme und Teilhabe erreicht werden?
Diese
Umgestaltung des Grundgesetzes und der Rechtsordnung als Ganzes
in Richtung auf bürgerschaftliche Teilhabe und Teilnahme kann
durch ein beständiges Sich-Organisieren um alltägliche Probleme
herum verfolgt werden. Diese Organisationsarbeit muss in
Aktionen enden, die wiederum die Umsetzung durchdachter Konzepte
und Lösungsvorschläge einfordern. Es geht um viele kleine
Schritte wie Massenpetitionen und Volksbegehren. Es geht um eine
„Strategie der Nadelstiche“ analog Gorleben und Stuttgart 21.
Vorrangiges
Ziel ist die rechtliche und tatsächliche Verankerung von
bürgerschaftlicher Teilnahme und Teilhabe. Diese kann nicht „von
oben“ auf dem Wege der Gesetzesänderungen entstehen. Der
mitbestimmende Bürger entsteht nicht per Dekret. Mitbestimmung
muss alltäglich geübt werden, und zwar vor Ort, in den Kommunen
und im Betrieb. Erst auf diese Weise entsteht die Fähigkeit,
Teilhaberechte verantwortlich auszuüben.
In der
Diskussion ging es vor allem um das Verhältnis von
Menschenrechten und dem, was „Volkswille“ genannt wird. Was tun,
wenn -wie in der Schweiz hinsichtlich Sicherungsverwahrung und
„Ausschaffung krimineller Ausländer“ geschehen- über das Mittel
der Volksentscheide grundlegende Menschenrechte außer Kraft
gesetzt werden? Was steht höher - die Menschen- und Grundrechte
oder der Bürgerwille? Gilt der Bürgerwille nur, wenn er
verfassungsgemäß ist, oder kann der Bürgerwille die Verfassung
ganz oder teilweise außer Kraft setzen? Steht das
Bundesverfassungsgericht über dem Volksentscheid oder muss der
Volksentscheid die Verfassung ändern dürfen?
Wolf-Dieter
Narr sieht diese Gefahr, meint aber, das eine „unten“ alltäglich
eingeübte bürgerschaftliche Teilnahme und Teilhabe solche
Entwicklungen verhindern könnte.
Erstarrt im Hamsterrad, Hartz-IV-Sanktionen: Erwerbslose
bestrafen, Beschäftigte einschüchtern (Robert Ulmer)
Ausgangspunkt: Wer auf das Arbeitslosengeld II (Hartz IV)
angewiesen ist, hat bestimmte "Mitwirkungspflichten" zu
erfüllen, zum Beispiel eine oft unsinnig hohe Anzahl an
nachgewiesenen Bewerbungsaktivitäten. Kommt er oder sie diesen
Pflichten nicht nach, wird das Arbeitslosengeld II gekürzt, im
Wiederholungsfall bis auf Null. Die gesetzlichen Regelungen
wurden in ihren wesentlichen Zügen dargestellt. Die hohe
gesellschaftliche Zustimmung zu diesen Sanktionen ist ein
Symptom für den vorherrschenden autoritären Charakter. Der
Grundgedanke "keine Leistung ohne Gegenleistung" mag auf den
ersten Blick wie die Regel eines freien Marktes aussehen, auf
dem fair getauscht wird. Die Härte der Bestrafung ist jedoch
unangemessen. Immerhin geht es um die Kürzung des
Existenzminimums (sofern man das Arbeitslosengeld II überhaupt
als existenzsichernd erachtet). Die permanente Strafandrohung
gegen Erwerbslose wirkt auch auf die Beschäftigten
einschüchternd. Um keinesfalls arbeitslos/ erwerbslos zu werden,
reduzieren die Beschäftigten ihre Ansprüche und akzeptieren
immer schlechtere Arbeitsbedingungen. Resultat der
Sanktionsdrohung ist folglich eine Unterbietungskonkurrenz aller
Lohnabhängigen, insbesondere der leicht ersetzbaren
Arbeitskräfte.
Der Referent berichtete auch von der Anhörung zum Thema
Hartz-IV-Sanktionen am 6. Juni im Bundestag. Dort überwog die
grundsätzliche Zustimmung zu den Sanktionen; Kritik entzündete
sich vor allem an einzelnen Regelungen, zum Beispiel an der
Unmöglichkeit, Sanktionen bei Eintreten der gewünschten
Verhaltensänderungen nicht stoppen zu können. Auch das fehlende
Wissen darüber, was eigentlich mit den auf Null gekürzten
Betroffenen geschieht, bereitete einigen Experten offen etwas
Unbehagen. Grundsätzliche Kritik an den Sanktionen kam aber nur
von dem von der Linkspartei angefragten Experten, Stefan
Lessenich.
Rechtspopulismus in Zeiten sozialer
Verunsicherung (Anne Seeck)
In ganz Europa breitet sich der Rechtspopulismus
aus. Rechtspopulismus bedeutet, ....”Ängste zu schüren, andere-
wie (soziale) Randgruppen, Ausländer, “die da oben”- für
Missstände verantwortlich zu machen, Sündenböcke zu konstruieren
und Gruppen von Menschen hierarchisch zu werten.” Schwerpunkt
des Vortrages war der Zusammenhang zwischen Rechtspopulismus und
Prekarisierung/Erwerbslosigkeit, der zunehmende
Sozialchauvinismus und die Abwertung von Langzeitarbeitslosen.
Egal ob die Arbeitswelt für die Entstehung
nationalistisch-ausgrenzende Potentiale relevant ist oder ob
Arbeitserfahrungen nur Verstärker nationalistisch- ausgrenzender
Einstellungen sind, auf jeden Fall ist die steigende soziale
Verunsicherung eine Ursache für den zunehmenden
Rechtspopulismus. Menschen werden wegen ihres sozialökonomischen
Status abgewertet (Prinzip der Leistungsgerechtigkeit,
Nützlichkeitsethik etc.), dabei wird eine Unterlegenheit
inszeniert. Das fördert Anpassung an eine für den Arbeitsmarkt
zugeschnittene Lebensführung. Das Versagen auf dem Arbeitsmarkt
gilt als Nichterfüllung der Norm, ökonomischer Mißerfolg sei
selbstverschuldet und kann mit Sanktionen bestraft werden.
Sozialchauvinismus ist institutionelle Produktion von Ausschluß
und zugeschobene Selbstverantwortung.
Während es beim Rassismus um Rasse, ethnische
Herkunft, Biologie, Nationalität geht, steht beim
Sozialchauvinismus der ökonomische Status im Mittelpunkt.
Um die Zunahme der Abwertung von
Langzeitarbeitslosen aufzuzeigen, wurde die die Langzeitstudie
zur “Gruppenbezogenen Menschlichkeit” von 2008 bis 2010,
insgesamt gibt es die Studie 10 Jahre von 2002-2011 (Deutsche
Zustände, Heitmeyer).
Seit 2002 wurden folgende Elemente einbezogen:
Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie,
Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Behinderten,
Islamophobie, Etabliertenvorrechte, Sexismus.
Seit 2007 wurde die Abwertung von
Langzeitarbeitslosen einbezogen.
Dabei waren zwei Indikatoren besonders auffällig:
die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen und die zunehmende
Spaltung der Gesellschaft. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit
werden Langzeitarbeitslose und Hartz IV-Bezieher zur
“Zielscheibe öffentlicher Debatten, die von Vertretern aus
Politik und Wirtschaft, aber auch aus Showbusiness und Kabarett
angeheizt werden.” (Heitmeyer 2008, S. 16)
Auch Arbeitslose sind eine heterogene Gruppe.
Klaus Dörre teilt die Arbeitslosen in drei
Gruppen ein:
·
Um-jeden-Preis-Arbeiter
·
Als-ob-Arbeiter
·
Nicht-Arbeiter
·
Eine Studie zu holländischen Arbeitslosen kennt
sechs verschiedene “Kulturen der Arbeitslosigkeit”
1
Konformist, der permanant nach
Wiederbeschäftigung strebt
2
Ritualist, der sich weiter bewirbt, aber keine
Hoffnung mehr hat
3
Unternehmer, die in der Schattenwirtschaft aktiv
sind (betrügen den Staat)
4
Zurückgezogene, die in Resignation und Isolation
leben (sind nutzlos)
5
Berechnende, die staatliche
Unterstützungsleistungen beziehen, um ihren Lebensstandard zu
halten (“Sozialschmarotzer”)
6
Autonome, für die Arbeit und Konsum einen
geringeren Stellenwert haben (können dem System gefährlich
werden)
Die Abwertung von Langzeitarbeitslosen wird von
öffentlichen Debatten begleitet. Zunächst gab es nach Einführung
von Hartz IV den Clement-Report "Vorrang für die Anständigen"
und schließlich die Unterschichtendebatte. Aus dieser Debatte
wurde mit Sarrazin und Sloterdijk ein elitärer Diskurs. Das
drückt sich auch in den Forschungsergebnissen aus.
Seit 2007 bezog die Forschungsgruppe um Heitmeyer
auch Langzeitarbeitslose in die Studie ein. “Sie werden unter
dem Gesichtspunkt mangelnder Nützlichkeit sozial abgewertet...So
stießen wir unter anderem auf folgende Ergebnisse: Fast 50
Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, daß die meisten
Langzeitarbeitslosen nicht wirklich daran interessiert sind,
einen Job zu finden. Empörend finden es insgesamt fast 61
Prozent, wenn sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der
Allgemeinheit ein bequemes Leben machen.” (Heitmyer 2008,
S.20ff. )
Das ökonomistische Denken nimmt immer mehr zu,
alles wird dem Nutzenkalkül untergeordnet. Personen werden nach
ihrer Nützlichkeit und Funktionsfähigkeit bewertet
“Die Befragungsdaten zeigen, daß über ein Drittel
der Deutschen den Aussagen tendenziell zustimmen, die
Gesellschaft könne sich wenig nützliche Menschen (33,3 Prozent)
und menschliche Fehler nicht (mehr) leisten (34,8 Prozent). Etwa
40 Prozent der Befragten sind der Ansicht, in unserer
Gesellschaft würde zuviel Rücksicht auf Versager genommen,
zuviel Nachsicht mit solchen Personen gilt 43,9 Prozent als
unangebracht, und etwa ein Viertel stimmt der Aussage zu, daß
“moralisches Verhalten [...]ein Luxus [ist], den wir uns nicht
mehr leisten können” (25,8 Prozent
Albrecht von Lucke spricht in den “Deutschen
Zuständen” (Folge 9) von “semantischer Eskalation”. Die erfolge
in drei Schritten:
1
“Am Anfang steht ein Jargon der Differenz und
Ungleichheit, der in aller Regel von selbsterklärten Eliten
stammt.” (Heitmeyer 2010, S. 258)
2
Diese Umgleichheit wird in politische Forderungen
übersetzt.
3
Dann erfolgt die Umsetzung in Gesetze und
Verwaltungshandeln.
Michael Hartmann schreibt in den “Deutschen
Zuständen” (Folge 9):
“Es geht in der gesamten Kontroverse im Kern um
eine einzige Frage, nämlich die, wer die enormen Kosten der
Finanzkrise in den nächsten Jahren tragen soll: ihre Verursacher
und Profiteure oder die breite Bevölkerung und die Schwachen der
Gesellschaft...Der Blick des durchschnittlichen Bundesbürgers
soll sich vorrangig nach unten richten.” (Heitmeyer 2010, S.
269)
“Wir registrieren erstens, daß sich trotz einer
beispiellosen Umverteilung von unten nach oben...immer mehr
Personen mit hohem Einkommen ungerecht behandelt fühlen..
Zweitens können wir unter Personen mit hohem Einkommen eine
geringere Bereitschaft zur Unterstützung schwacher Gruppen
feststellen als bei Personen mit niedrigen Einkommen und bei
Befragten, die wir aufgrund eines Einkommens von unter 650 Euro
als arm klassifizieren...Drittens wird unsere These erhärtet,
daß die Verteidigung von Privilegien mit der Stigmatisierung
schwacher Gruppen einhergeht...Hinzu kommt, daß diese Gruppe
sich gleichzeitig oftmals nicht gerecht behandelt fühlt und
fehlende Sensibilität gegenüber der offenkundigen sozialen
Spaltung der Gesellschaft zeigt.” (Heitmeyer 2010, S. 20ff.)
Die Zunahme des Einforderns von
Etabliertenvorrechten sowie der Anstieg von islamophoben und
fremdenfeindlichen Einstellungen geht vorrangig auf die
“Gutverdienenden” zurück.
Festgestellt wurde eine zunehmende
Entsolidarisierung, eine Zunahme des Leistungsprinzips und des
ökonomistischen Denkens.
Wenn die Wut kein politisches Ventil findet:
1
“Vor allem sozial benachteiligte Bürger fühlen
sich politisch machtlos und nehmen infolgedessen ihre
Beteiligungsrechte seltener wahr.”
2
“....aufgrund dieser fehlenden Möglichkeiten,
ihre Anliegen politisch geltend zu machen, (entwickeln sie)
Ressentiments gegen andere, schwächere Gruppen...” (Heitmeyer2,
2010, S. 169f.)
Gerade die subjektiv am stärksten von der Krise
Betroffenen und die politisch besonders unzufriedenen Gruppen
zeigen sich politisch am wenigsten beteiligungsbereit.
Wenn sich die Machtlosigkeit der unteren sozialen
Lagen mit einem Autoritarismus der politischen Rechten
verknüpft, kann die Unzufriedenheit gegen schwache Gruppen
gerichtet werden. Gerade jene, die am meisten an den Folgen des
autoritären Kapitalismus leiden, haben politisch resigniert.
Mehringhof-Seminar 1./2.Juli:
Was tun, wenn ich unerwünschte Immigrantin oder Immigrant bin?
Freitag 19:00 – 22:30 Uhr
Zwei MigrantInnen aus Malawi und
Kamerun berichteten, wie es ihnen erging, als sie versuchten,
nach Deutschland zu gelangen, um in Deutschland Fuss zu fassen.
Moderation Wolfgang Ratzel
Die Fragen lauteten:
- Welche Motive bewegten Euch zum
Aufbruch nach Deutschland?
- Fandet Ihr vor, was sie erhofft
hatten?
- Fühltet Ihr sich unerwünscht? –
geduldet? – erwünscht?
- Welche Erwartungen wurden von
Einheimischen an Euch herangetragen?
- Wie steht Ihr zu den
Integrationsanforderungen?
- Wollt Ihr Eure kulturelle Andersheit
bewahren?
und wenn ja
- geht das in Berlin? Findet Ihr
hierfür Unterstützung?
- bei Behörden?
- bei Solidaritätsorganisationen?
- in ihrer nachbarschaftlichen
Umgebung?
- Wie funktioniert Euer Leben und
Überleben in der Fremde - weit entfernt von ihrer Heimat?
- Wie geschieht Euer Kontakt zu den
Verwandten und Bekannten in Malawi und Kamerun? Und wie
beurteilen jene Euren Entschluss wegzugehen?
- Darüberhinaus bestand anfangs für
die TeilnehmerInnen die Möglichkeit, weitere Fragen
einzubringen.
Beide KollegInnen betonten, wie
wichtig die Erfahrung war, in rechtsstaatlichen Verhältnissen
leben und arbeiten zu können. Für die Erhaltung Ihrer
kulturellen Andersartigkeit hätten sie einfach keine Zeit, weil
sie lohnarbeiten müssten, um sich und notleidende Verwandten in
Malawi und Kamerun zu unterstützen. Nach einigen Jahren lebe man
in einem ständigen „Dazwischen“ zwischen dem Herkunftsland und
Deutschland.
.............................................................................
Samstag, 13:00 – 18:30 Uhr:
Referat von Wolfgang Ratzel:
„Wer darf rein und wer muss raus?
Welche Gesichtspunkte steuern die Selektion der ImmigrantInnen
in erwünschte und unerwünschte EinwanderInnen?“
Nachdem am
Freitagabend die Motive und Erfahrungen der einwandernden
Menschen im Mittelpunkt standen, gehörte der Samstagnachmittags
den Strukturen, Regeln, Normen und Interessen, die Einwanderung
steuern wollen.
Gesetzliche
Grundlagen und Verfahren der Immigrationssteuerung
- Das Schengener Abkommen (1990) schafft die stationären
Grenzkontrollen innerhalb der Schengenstaaten ab. An deren
Stelle stritt eine Außengrenze, die nach einheitlichem Standard
kontrolliert wird. Wer einen Aufenthaltstitel in einem
Schengen-Staat hat, genießt Reisefreiheit. Aufenthaltsverbote
gelten schengenweit, ebenfalls die Widereinreisesperre. Schengen
verfügt über ein eigenes Informationssystem: SIS
- Die Dublin
II-Verordnung (2003) ergänzt das Schengen-Abkommen insofern,
als festgelegt wird, dass der Schengen-Staat für Asylsuchende
zuständig ist und immer bleibt, der den Asylantrag
entgegengenommen hat. Dublin II stützt sich auf die Datenbank
Eurodac.
- Die Genfer
Flüchtlingskonvention (1954) legt die Rechtsstellung der
Flüchtlinge fest: Sie definiert die Anerkennungsgründe
(Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit
zu verfolgten sozialen Gruppen , politische Überzeugung) und
schreibt die Rechte der Verfolgten fest (Schutz vor
Diskriminierung, Freiheit der Religion, freier Zugang zu
Gerichten, Ausstellung eines Reiseausweises, Schutz vor
Ausweisung, solange der Flüchtlingsstatus nicht geklärt ist.
- Auf diesen
Rechtsgrundlagen steht das deutsche Asylrecht, das im
Grundgesetz Artikel 16 verankert ist. 1993 geschah in einem „Asylkompromiß“
dessen Änderung in Artikel 16a Grundgesetz. Nunmehr kann ein
Ausländer, der über einen EU-Staat oder sicheren Drittstaat in
die BRD einreist, kein Asyl mehr beantragen. Gleichzeitig wurde
die Verfolgung wegen des Geschlechts als weiterer
Anerkennungsgrund festgelegt.
Asyl können ab
1993 somit nur Personen beantragen, die aus einem unsicheren
Drittstaat direkt nach Deutschland kommen und Anerkennungsgründe
nachweisen können. De facto wurde so das Asylrecht annähernd
abgeschafft. Die Asylanträge gingen nach 1993 von 438.191 auf
19.164 (2007) zurück. Von diesen Anträgen werden zwischen 5% und
10% anerkannt (2005: 2.500 Anerkennungen)
- Bis 2004 war
Einwanderung an das Asylrecht gebunden. Es gab keine legalen
„Wirtschaftsflüchtlinge“. Erst das Zuwanderungsgesetz (2004)
steuert und begrenzt die Zuwanderung jenseits des Asylrechts. Es
unterscheidet zwischen Einwanderung (Ziel: dauerhafte
Niederlassung und Staatsbürgerschaft); Zuwanderung (dauerhafte
Wohnsitznahme ohne Annahme der Staatsbürgerschaft) und
Übersiedlung (deutsche Volkszugehörige bzw. Abstammungsdeutsche
kehren zurück).
Es
unterscheidet den Aufenthaltsstatus in befristete
Aufenthaltserlaubnis und unbefristete
Niederlassungserlaubnis. Darüberhinaus bestimmt es den
Aufenthaltsstatus „Visum“, „Duldung“ (= Aussetzung der
Abschiebung) und „Aufenthaltsgestattung“ (bei laufenden
Asylverfahren). Das Gesetz regelt auch die Arbeitserlaubnis und
die Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit.
- Im Aufenthaltsgesetz (2004) werden die Kriterien
benannt, nach denen Zuwanderung gesteuert und auf erwünschte
Zuwanderer begrenzt wird:
- die Aufnahme- und
Integrationsfähigkeit der BRD und
- die wirtschaftlichen und
arbeitsmarktpolitischen Interessen der BRD.
Das Gesetz
benennt die allgemeinen und speziellen
Niederlassungsvoraussetzungen:
Im Mittelpunkt
steht hierbei die Lebensunterhaltssicherung der Einwanderer
sowie Sicherheitsgesichtspunkte und Sprachkenntnisse.
Das Gesetz
unterscheidet zwischen „keine qualifizierte Berufsausbildung“,
„qualifizierte Berufsausbildung“, „Hochqualifizierte“,
„Ausländer in der Forschung“ und „Selbständige“.
Je höher die
Qualifikation, desto einfacher die Erlangung des Aufenthalts-
bzw. Niederlassungsstatus. Ein Selbständiger muss 250.000 Euro
investieren und fünf Arbeitsplätze schaffen.
Der
Familiennachzug ist insofern noch großzügig geregelt, als nur
ein Ehegatte die Voraussetzungen erfüllen muss. Allerdings muss
der Sprachnachweis inzwischen vor der Einreise vorgelegt werden.
Summa:
Bis zum Zuwanderungs- und Aufenthaltsgesetz 2004 gab es nur das
Asylrecht als rechtliche Grundlage der Einwanderung. Bis 2004
war das Arbeitserlaubnisrecht im Sozialgesetzbuch III unter
Arbeitsförderung geregelt. Das Asylrecht wiederum war durch den
Asylkompromiß 1993 weitgehend deaktiviert. Die BRD verstand sich
als Festung gegen (fast) jede Einwanderung.
2004 begann
sich die Festung gegenüber erwünschter Einwanderung zu öffnen.
Die BRD ist jedoch seit 2007 Auswanderungsland, besonders
hinsichtlich höherqualifizierter Arbeitskraft.
Wer
darf rein? – Entscheidungskriterien
- Blutszugehörigkeit
Die bei weitem
größte Einwanderergruppe stellen mit fast 4,5 Millionen Menschen
die AussiedlerInnen bzw. SpätaussiedlerInnen dar. Sie zählen
jedoch nicht als EinwanderInnen, da sie die deutsche Abstammung
und ihr ausschließliches Bekenntnis zum deutschen Volkstum im
Aussiedlungsgebiet nachweisen und darüber hinaus ein „einfaches
Gespräch“ in deutscher Sprache führen können. Sie können sofort
eingebürgert werden.
Das Blutsrecht
gilt auch bei der Einbürgerung von ethnischen Polen von
Weißrußland nach Polen. Die polnische Regierung stellt den
ethnischen Polen in Weißrussland eine Karta Polaka aus, die ein
Dauervisum im Schengenraum und die Einbürgerung in Polen
ermöglicht.
- Nützlichkeit und Verwendbarkeit
Im anderen Ende
des Entscheidungskontinuums steht die Verwendungsfähigkeit und
Nützlichkeit der Einwandernden. Diese muss aber durch
Ausleseverfahren ermittelt werden.
Der Begriff der
Nützlichkeit orientiert sich an konkreten Bedarfen, die
einerseits auf Niedrigqualifizierte (SaisonarbeiterInnen,
Pflegekräfte), andererseits auf Hoch- und Berufsqualifizierte (MINT-Qualifikationen
und FacharbeitrInnen) ausgerichtet sind.
Wer
darf rein? - Ausleseverfahren
Die
Verwendbarkeit von EinwanderInnen kann auf dreierlei Art
ermittelt werden:
- durch Anerkennungsverfahren,
die auf die formale Bildung abheben;
- durch kontigentierte
Punktesysteme;
- durch kontigentierte
Greencard-Regelungen.
- Die
Anerkennungsverfahren (z.B. das deutsche Zuwanderergesetz)
orientieren sich an formalen Kriterien wie zum Beispiel
Schulabschluss, Berufsabschluss usw.. Sie sind ungenau, weil sie
weder auf die konkreten Bedarfe der Volkswirtschaften noch auf
die konkreten Fähigkeiten der AntragstellerInnen abheben.
- Die
Punktesysteme sind bedarfsgenauer, weil die
ausdifferenzierte Zusammensetzung der Mindestpunktezahl an die
jeweilige Bedarfslage der Volkswirtschaften angepasst werden
kann, zumal die erwünschten Berufe in Gestalt von Berufslisten
vorliegen. Auch der Familiennachzug kann flexibel geregelt
werden. In Kanada z.B. können erwünschte ImmigrantInnen ihre
Familie problemlos mitbringen. In Australien bringen
Jugendlichkeit und die Berufsqualifikation viele Punkte.
- Die
US-Greencard funktioniert als zeitlich-unbeschränkte
Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung (Permanent Resident Card)
und sortiert die Bedarfe der US-Volkswirtschaft in zehn
Kategorien, die von „Personen von nationalem Interesse“ über
Akademiker und kirchliche Mitarbeiter bis zu „Green Card
Soldiers“ reichen.
Interessierte
bewerben sich in ihrer Kategorie, In jeder Kategorie werden eine
steuerbare Anzahl von Green Cards durch eine Green-Card-Lotterie
verlost.
................................
In Deutschland
tendiert die Regierung zu einem Punktesystem, evt. verkoppelt
mit erleichterten Verfahren für besonders Qualifizierte.
Wer darf nicht
rein, und wer muss raus? - Durchsetzungsverfahren
- Abschottung
Unerwünschte
EinwanderInnen sollen durch einen „Festungsbau“ an der Einreise
gehindert werden. Die Festungen bestehen aus Zaun, Mauer,
Stacheldraht und werden durch elektronische- und militärische
Mittel ergänzt.
De facto wird die illegale
Einwanderung bei Bedarf aber geduldet, weil sie billige,
rechtlose Arbeitskraft garantiert. Nur dadurch bleibt zum
Beispiel die spanische oder US-Landwirtschaft konkurrenzfähig.
Nur so können sich Besserverdienende Haushalts- und
Pflegepersonal leisten.
- Abschiebung / Ausschaffung
Jedes Land verfügt aber
Abschiebungsverfahren für illegale Einwandernde oder abgelehnte
Flüchtlinge und Asylsuchende. Einige Länder beginnen, die
langwierigen Verfahren dadurch abzukürzen, dass sie zwischen
kriminellen und nichtkriminellen AusländerInnen unterscheiden.
„Kriminelle Ausländer“ sollen in der Schweiz und Dänemark sofort
nach Verbüßung der Haftstrafe ohne weitere Prüfung abgeschoben
werden können. Entsprechende Volks- und Parlamentsinitiativen
sind in der Umsetzungsphase.
...............................................................................
Am Schluss stand die Frage, wie eine
„linke, alternative“ Antwort auf die Frage der Immigration
aussehen könnte.
Die Hälfte der Anwesenden sprach sich
für eine Steuerung der Einwanderung aus; die andere Hälfte
enthielt sich oder war für ein „freies Fluten“ von Arbeitskraft.
Bei der Festlegung der Gesichtspunkte
der Steuerung gab es ein Plädoyer dafür, dass allein die
ökosoziale Tragfähigkeit des Einwanderungslandes maßgeblich
sein darf. Problem: Wenn keine weiteren Gesichtspunkte zur
Anwendung kommen, entscheidet die Schnelligkeit der Bewerbung
bzw. die Durchsetzungsfähigkeiten der BewerberInnen.
Desweiteren wurde ein Punktesystem
ohne Selektionskriterien vorgeschlagen.
Das Plädoyer für „Freies Fluten“
argumentierte, dass sich die globalen Arbeitsmarktsituationen
langfristig von alleine ausbalancieren würden, da irgendwann die
Einwanderung nicht mehr attraktiv sei und sich dann verlagern
würde.