Termine und Informationen vom AK Was tun?
Aktualisiert am: 
31. August 2011 11:24

Redaktionelle Bearbeitung: Anne Seeck

TERMINE & INFOs

Seminare 2011 (1. Halbjahr)

"Was tun, wenn ich kein Geld habe...und zur Lebensmittelausgabe muß?"
am 18./19.3.2011
 

Grenzen der guten Tat - Kritik der Tafeln (Stefan Selke) 

Von 2006 bis in die Gegenwart untersucht Stefan Selke Tafeln in Deutschland, zuletzt in einem Projekt der Caritas. Er berichtete von einer Fachtagung im Schwarzwald im Oktober 2010, die sehr aufschlußreich war, weil dort verschiedenste Akteure zusammenkamen. Die Tafelmitarbeiter hätten oft keine Zeit für Reflektion. Die Meinungen über Tafeln seien sehr unterschiedlich. Politiker und Helfer erwarten, dass diese wirksam seien. Andererseits gibt es Kritiker wie Peter Grottian, die bestreiten würden, dass Tafeln einer nachhaltigen Armutsbekämpfung dienen würden. 2/3 der Armen bleiben arm. Es sei ein Mythos, dass Armut nur eine Durchgangsstation sei. Zu dem Zeitpunkt des Referates gab es 890 Tafeln mit 2000 Ausgabestellen. Es gibt Regionen, wo sich Tafeln ballen und wo sie nötig wären. Die Tafelbewegung ist eine bürgerliche Bewegung. Man braucht Zeit, um Tafeln zu gründen. Daher entstehen Tafeln nicht dort, wo sie gebraucht werden. Der Anteil der Hartz IV- Bezieher unter Tafelmitarbeitern liegt bei 5-10%, die im Schnitt 15 Stunden pro Woche arbeiten.

Tafeln seien insbesondere durch Macht- und Ohnmachtsbeziehungen gekennzeichnet. Die Tafelnutzer unterliegen einer Bedürftigkeitsprüfung, es werden Daten von ihnen gesammelt. Die Trennung zwischen Staat und Zivilgesellschaft sei bei den Tafeln aufgehoben. Zudem gibt es überall Interessenkonflikte, z.B. zwischen Helfern und Nutzern, zwischen Wohlfahrtsverband und Lobbyverband. Was ist z.B. erwünscht, über Tafeln zu wissen. Für die Helfer sind die Tafeln selbstwertdienlich. Sie suchen einen Lebenssinn, Spaß an der Arbeit, sie wollen gebraucht werden. Die Helfer sind nach Ansicht von Stefan Selke nicht zu politisieren. Das Tafelsystem ersetzt sozialstaatliche Leistungen. Wer zur Tafel geht, fühlt sich nicht als Teil der Gesellschaft. Die Nutzer erwarten einen geschützten Raum und bekommen Ungleichbehandlung. Unter den Nutzern gibt es verschiedene Typen. Der größte Typ ist der Parallelwelttyp, das sei die neue Normalität, der Typ sei eher resignativ. Dann gibt es den partizipativen Typ, der mitmachen will. Schließlich die Ausnahmen, die das skandalisieren bzw. anwaltschaftlich andere Angebote nutzen. Wunsch und Wirklichkeit, Rhetorik und Handlung laufen bei den Tafeln auseinander. Tafeln sind der Pannendienst der Gesellschaft. Sie integrieren aber niemanden in die Gesellschaft. Sie disziplinieren Menschen. Hilfe wird zum Selbstzweck.  

Zurück in den Almosenstaat? 

Am Samstag referierten Dieter Hartmann und Sigrid Graumann über das Thema "Zurück in den Almosenstaat?". Sie berichteten davon, dass es einen enormen Überfluß an Lebensmitteln gibt. Für die Spender der Tafeln wie Mc Kinsey, Daimler etc. sei das eine Win-Win-Situation. Sie geben Peanuts in Relation zu ihren Gewinnen und lassen sich dafür auch noch feiern. Dass sie helfen, kostet dem Staat nichts, das sei eine rückwärtsgewandte Sozialstaatsentwicklung. Soziale Rechte werden umgewandelt in eine Almosenverteilung an Bedürftige. Das sei eine Rückkehr zur spätmittelalterlichen Armutspolitik. Insbesondere durch Einführung von Hartz IV sind die Mittelschichten verunsichert. Eine Antwort ist das Tafelsystem. Das sei eine symbolische Spaltung der Gesellschaft.

Es ist nicht einfach, das Tafelsystem anzugreifen, denn die Helfer würden sich angegriffen fühlen. Das System muß aber entlarvt werden. Außerdem sei es nicht gelungen, durch das Konzept der sozialen Rechte die Tafelnutzer zu organisieren. Das Thema Tafeln sollte aber für die politische Arbeit genutzt werden. Soziale Rechte statt Almosen!   

Nach den Vorträgen zum Thema "Zurück in den Almosenstaat" ging es ab 15 Uhr um Alternativen. Zunächst hielt Anne Seeck ein Plädoyer für Selbstorganisation.

Selbstorganisierung ist eine Einstellung und eine Gegenkultur zum Mitschwimmen. Selbstorganisierung ist Selbstermächtigung zum Handeln.

Selbstorganisation ist die Absage an

- Stellvertretung
- erzwungene Kooperation
- kollektive Identität
- Transformation der Vielfalt zur Einheit der Masse
- und an jede Form der allgemeingültigen Klarheit

Danach fand ein World Cafe zu "Anders leben" statt.  

Anders leben- anders arbeiten- anders wirtschaften 

In einem Worldcafe bildeten sich Gruppen zu bestimmten Themen. Nach einiger Zeit wechselten die Gruppen. Auf Papier wurden Vorschläge zusammengetragen. 

Was heißt „anders leben“? Wie können wir damit beginnen?

Sich selbst verwirklichen können, Selbstorganisation des Lebens, nach dem Wert des Lebens fragen, reflektierte Quergedanken, langsamer leben, Leistungsprinzip abschaffen, sich vernetzen, spielen wieder neu lernen, lebensbegleitendes Lernen ohne Zugangsbegrenzung ermöglichen, das tun, was jede/r für richtig hält, Andersdenkende demokratisch als Minderheit einbeziehen und respektieren 

Was heißt „anders arbeiten“? Wie können wir damit beginnen?

Arbeitsbegriff neu definieren, Mitbestimmung, mehr Leute für weniger Arbeit, Nachbarschaftshilfe, Tauschringe, Gemeinschaftsgärten, von der Arbeit leben können, Belohnung steigert den Selbstwert, Netzwerk von Menschen, Geld in einen Topf, Teilen, Tauschen, keine/r hat zu bestimmen, was zu arbeiten ist, ökonomisch unabhängig, Selbstwert nicht über Lohnarbeit definieren, selbstbestimmtes Arbeiten 

Was heißt „anders wirtschaften“? Wie können wir damit beginnen?

Selbstversorgung, Alternativbetriebe, das Leben gemeinsam organisieren, bedingungsloses Grundeinkommen, Unterstützungsnetzwerk, Containern, Aneignung, ohne Chef, andere Eigentumsverhältnisse, geringe Lebenshaltungskosten, Gemeineigentum, Selbstverwaltung, Bedürfnisprinzip    


"Was tun, wenn ich lohnarbeite und mich trotzdem nicht dem Proletariat zugehörig fühle?"
 am 25./26.3.2011
 

Wo ist das Proletariat bloß abgeblieben! Aspekte einer marxistischen Klassentheorie (Karl-Heinz Schubert)

In den letzten zwei Jahrzehnten wurden in der BRD viele der so genannten Normalarbeitsverhältnisse rasiert, sondern auch die damit zusammenhängenden sozialstaatlichen Regulierungen ausgedünnt. An deren Stelle traten prekäre Beschäftigungsverhältnisse, ‘zweite‘ und ‘dritte‘ Arbeitsmärkte. Hinzu gesellte sich eine seit Jahren gleich bleibende durchschnittliche Armutsquote von knapp 15 %. Schlussendlich entstand für die linke Bewegung bei der Organisierung ihrer Gegenwehr gegen diese sozialen Angriffe - insbesondere durch die Hartz IV-Reformen  - die Notwendigkeit, diese gravierenden sozialen Veränderungen zu untersuchen. Losungen und Begriffe wie „Wiederkehr der Proletarität“, „Umbau der Klassengesellschaft“, „Zweidrittelgesellschaft“, „Prekariat“ oder „Entstehen eines neuen Proletariats“ bestimmten seitdem den Diskurs. Eine Beschäftigung mit den heutigen Klassenstrukturen im Sinne der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie blieb dagegen eine Aufgabe am Rande. Der Vortrag von Karl- Heinz Schubert sollte dieser Tendenz ein wenig entgegen wirken. Er wollte versuchen, das  Proletariat  und seine Fraktionen aus der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit abzuleiten.

Der Vortrag befindet sich in der Trend-Onlinezeitung: 

Ein halbes Leben. Biographische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch  

Am Samstag wurden von Anne Seeck und Patricia Schwindkowski Biographien aus dem Buch "Das halbe Leben" vorgestellt, in dem Interviews mit Prekarisierten geführt wurden.  

Hier einige Fälle.  

Anne Seeck stellte das Interview mit dem Arbeitsvermittler Herr Zwettl vor, der 1993/94 mit der Umstrukturierung der Arbeitsämter in Österreich konfrontiert war. Er war seit 20 Jahren in der Arbeitsvermittlung tätig und hatte schließlich in der Reha-Abteilung und in seinem Haus mit Familie eine Nische gefunden. Während dessen wurde die Arbeitsmarktverwaltung zu einem Dienstleistungsunternehmen umgebaut. Abteilungen wurden aufgelöst oder gegeneinander in Konkurrenz gesetzt. Geringe Vermittlungsquoten wurden zu „Leistungsdefiziten“ der Vermittler umdefiniert. Es wurden externe Beratungsfirmen eingesetzt, die Managementmethoden in den Ämtern einführten. Die Arbeitslosen wurden zu Kunden, die für die „Dienstleistungen“ „Gegenleistungen“ erbringen sollten. Die Kunden sollten ihr „Humankapital“ vermarkten.  

Patricia Schwindkowski, die selbst Graphikdesignerin und Künstlerin ist, stellte Beschäftigte im Kreativbereich vor.  

Schriftsetzer/ Mediengestalter 

Gesellschaftlicher Kontext      

Biografische Daten: 
Heinrich B., geboren 1949, mittlere Schulreife, dreijährige Lehre zum Schriftsetzer 

Einführung Fotosatztechnik: 
einschneidende Veränderungen im Beruf mit Arbeitsplatzverlust und neuer organisatorischen Restrukturierung 

Gewerkschaftlich aktiv  
im Landesvorstand und jahrelang aktiv im Betriebsrat 

eigene Sicht auf die Tätigkeit 

Beruf, der zu jener Zeit hohes  Ansehen hatte, 
Mitte der 60er wurden die Fachkräfte händeringend gesucht, 
 der Beruf als Setzer hatte eine politische Tradition und konnte damals eher beim linken Spektrum angesiedelt werden (durch die Gewerkschaft politisch gefärbt)                                     

Erfolge der Gewerkschaft

Rationalisierungsschutzvertrag
Ende 1995 Einführung der 35 h/W und deutlich besseren Lohnrahmenvertrag, RTS-Vertrag (rechnergestützte Textsysteme) mit Arbeitgeber ausgehandelt damit die Löhne nicht fallen. 

Noch mal den Beruf wählen?

Er würde den Beruf nicht noch mal wählen weil der Druck groß ist und 7h am Tag am Bildschirm gearbeitet werden muss. Der Berufs als solches ist immer noch interessant für hin, auch mit den neuen Mitteln, nur das ganze Umfeld stimmt nicht mehr im Betrieb (dass man von der Vertragsleitung reingelegt wird) 

prekäre Arbeitsverhältnisse 

der Aufwand ist nicht mehr so groß wie früher, weniger Leute schaffen heute mehr. 

Netzwerkspezialisten und EDV-Fachleute notwendig, die sich um die Vernetzung von der Annahme der Anzeigen im Büro bis zum Zeitungsdruck kümmern.

Durch die Gewerkschaftliche Einbindung starkes Rückrad in Vertragsverhandlungen 

2000 riesige Entlassungswellen (man versuchte auch ältere loszuwerden) 

Mediengestalter, die ausgelernt haben, werden zu neuen Bedingungen (kein Betriebsrat, keine Tarife) untergebracht, siehe hielten dem Druck der Verhandlungen nicht stand, da sie Angst vor Arbeitslosigkeit haben, somit wieder Einführung der 40h/W 

kreative Tätigkeit 

früher
Entwürfe für Briefbögen, Plakate und Prospekte 

heute
Teamarbeit (Vernetztes Arbeiten, Zuarbeit und Spezialisierung)
immer Neues dazulernen, keine weitere Ausbildung (learning bei doing) 

In Wirklichkeit ist er nur noch ein Anwender, der das Programm bedient 

Schlüsselerlebnisse        

Abbau der Arbeitsplätze und der sozialen Rechte

Angst vor Arbeitslosigkeit lassen die Leute umfallen. 

Grafikerin 

Gesellschaftlicher Kontext   

Biografische Daten: 

Iris G., 35 Jahre alt, 7 jährige Kunstgewerbeschule, danach 4,5 Jahre angestellte Grafikerin, 5 Jahre führte sie mit ihrem Partner eine selbständige Firma. Beendet die Selbständigkeit aufgrund von Differenzen mit ihrem Partner. Ist nun seit 2,5 Jahren wieder als Grafikerin angestellt. 

In ihrer biologischen Familie sind kreative Berufe wie Texterin, Koch und Archäologie, vertreten. 

eigene Sicht auf die Tätigkeit

Differenzierung zwischen „kreativ“ und „unkreativ“ ist für sie eine Leitunterschied, mit Hilfe sie ihre persönlichen Werte und Ziele verdeutlicht. 

 Identifiziert sich mit ihrem Beruf, fühlt, sie sei von den Eltern schlecht beraten worden, bedauert dass sie nicht das Gymnasium besucht hat, weil ihr dadurch das Matura fehlt und ihr somit die Wege versperrt sind, teilweise auch aufgrund eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten  

Coaching: 

Das Coaching sollte ihr helfen eine neue berufliche Richtung zu finden, hat aber bewirkt, dass sie bleibt und sich fokussiert und konzentriert. 

Sie ist jetzt zufriedener 

Sie weiss, das sie eventuell noch was anderes machen möchte, aber sie steht nicht mehr damit unter Druck.

Ziel:  

die Hemmungen zu überwinden und nach einer Lohnerhöhung zu fragen. 

prekäre Arbeitsverhältnisse

branchenüblich hohe Fluktuation, die derzeitige Firma reduzierte ihre Chefs von 4 auf 2, die Angestellten stiegen von 2 auf 4 an (sollen mal 15 bis 20 Leute werden) 

Auftragslage schwankt 

Aufgrund ihrer verantwortungsvollen Position wird ihr wohl nicht sofort gekündigt werden. 

Flexibilisierung und polyvalente Fähigkeiten werden verlangt. 

Spannungsfeld zwischen alle müssen alles tun und Netzwerkartiges Arbeiten. Verdichtung der Arbeit am Computer. 

Chaotische Arbeitsorganisation, es wird nicht kommuniziert. 

Durch einseitige Arbeitsbelastung und psychischen Stress leidet sie unter Rückenprobleme. 

Trotz flexible Arbeitsgestaltung ist sie nach Feierabend lahm und schlaff. 

Für Sport und Ausgang ist sie dann auch körperlich zu müde. 

Arbeitet eine Frau  ein, die frisch von der  Schule kommt, bekommt dafür aber keinen hohen Lohn. 

kreative Tätigkeit 

betreut mehrere Kunden, entwürft Magazine, Veranstaltungsprogramme, Plakate, Flyer, Karten etc. unter ein bereits bestehenden Corporate Design, dass sie entsprechend anpasst. Auch macht sie Umsetzungen, Realisierungen und Reinzeichnungen. 

Dabei übernimmt sieh auch berufsfremde Tätigkeiten (Bildbearbeitung, Druckvorstufen) 

Ihr unternehmerisches Selbst ergänzt ihr Pathos der Kreativität und löst es sogar teilweise ab. (hat sich schon immer mehr für das Beratende und Verkaufende interessiert – überlegt eine Ausbildung in dieser Richtung zu machen 

Ihr Wunsch nach etwas Neuem bewegt sich auch in dem Umfeld des kreativen Umfeldes 

Filmemacherin und Künstlerin 

Gesellschaftlicher Kontext       

Biografische Daten:

Heidi F. Bildende Künstlerin, d.h. Post-Studio-Künstlerin (inszenierte Photographie und Installation), ausgebildet an der Grafischen Kunsthochschule in Wien als Fotografin 

Teilnahme an der Dokumenta 11 mit Fotografischen Arbeiten im Alter von 55 Jahren 

Aufnahme in einer namhaften Galerie 

In jüngerer Zeit mehrmals an der Kunstschule unterrichtet. 

Bis dahin arbeitete sie im Feld des experimentellen Films nicht aber in dem mit hohem Prestige versehenden Feld der bildenden Kunst. 

Mehrfachbeschäftigung (Antiquitätengeschäft, Auftragsarbeit für Publikationen) 

Auch politische Aktivistin im Anti-Rassismus-Bereich 

Eigentlich schon in Pension, kann von der Pension nicht leben 

In Ihrer Verwandtschaft sind alle Künstlerin 

eigene Sicht auf die Tätigkeit 

Das sie neben der künstlerischen Arbeit auch immer politisch aktiv war macht ihr mehr zu schaffen als Konkurrenz. Künstler sollen Kunst machen, und sich nicht politisch äußern (lautet die Divise des Marktes). 

Hat sich auch außerhalb der Kunst positioniert, was aus ihrer Sicht nicht gut gehen konnte. Mittlerweile hat sich das umgedreht, sie hat jetzt eine Position. Sie ist die österreichische politische Künstlerin. 

Künstlerische Karriere: 

hat natürlich auch mit dem Werk zu tun, aber auch mit der Person, wie gut sie sich „vermarktet“ und nicht zuletzt sehr viel Glück und Zufälle. Man kann sich nicht hinaufarbeiten wie in einer Firma 

Mein Hobby ist meine Arbeit. Alles was mich interessiert, interessiert mich, weil es Teil meiner Arbeit ist. 

Hat absolut Spaß an der Arbeit, weil sie sich auf vielfältige Weise Wissen aneignen kann und durch gedankliche Querverbindungen zu Bildern gelangt. 

Würde sich absolut nochmal für die Kunst entscheiden. 

prekäre Arbeitsverhältnisse 

Anstieg der Ausstellungsbeteiligung von 0 bis 1 pro Jahr auf bis zu 10 in 2007 

Unter den 80.000 Künstlern welt-weit auf Rang 2.000 (gewichtet an der Zirkulierung der Arbeiten, Ausstellungsbeteiligung, Bedeutung der Galerie). 

Gehört zur Gruppe der 3% inter-national erfolgreicher Künstler. 

Die Preise ihrer Arbeiten sind noch zu niedrig für eine Interesse von Seiten der Aktionshäusern. 

Ökonomie des langen Zyklus: 

Als Nebeneffekt konnte sie aus dem Bestand ihrer Arbeiten schöpfen, in der Phase besonders hoher Beachtung. Geriet dadurch nicht unter Druck der Produktion. 

Als Phase der Diskursrelevanz gilt für Bildende Künstler 5-10 Jahre. 

Konnte von der Kunst leben – ein  Privileg, was nächstes Jahr ist, kann sie nicht sagen. 

Kulturelle Felder stellen exemplarische Märkte des „The Winner Takes All“ - Typ dar oder das Matthäus – Prinzip„Wer hat, dem wird gegeben“ grausame Ökonomie (neoliberale Autor Hans Abbing)  

kreative Tätigkeit 

bedient nicht den vorherrschenden Geschmack des Besitz-Bürgertums, auch richtet sich ihre Arbeit nicht an ein breites Publikum.

Sie kann somit dem Subfeld der „eingeschränkten Produktion im Sinne von Bourdieu zugeschrieben werden, wo Prekarität verbreitet ist. 

Starke Bindung an die Kunst, Weigerung Arbeit und Freizeit zu trennen. „eine Künstlerin arbeitet immer, man arbeitet nur nicht, wenn man schläft“ 

Der Glaube an die Kunst auch wenn die Anerkennung ausbleibt, hängt stark mit der sozialen Abstützung in künstlerischen Subkulturen (Experimentialfilm, Aktionismus) wie auch Verwandt-schaft zusammen 

Galerie war wichtig als Ort wo sie ausstellen kann um nicht mehr nur vor sich hin zu produzieren. 

Kein Zeitdruck weil sie relativ spät in die Kunstszene hinein kam. Aber es gibt diesen Druck möglichst schnell Neues zu produzieren. 

Sich möglichst lange Zeit lassen können, um zu recherchieren und nachzudenken und weniger möglichst schnell und viel zu produzieren. 

Schlüsselerlebnisse        

Dokumenta 11 als Schwungrad  

Aufmerksamkeit auf nicht-europäische und speziell auf afrikanische Kunst. Davon ist ein bisschen etwas geblieben. Das war für die relativ bedeutungsvoll. 

Als einzige österreichische Künstlerin auf der Dokumenta 11 vertreten zu sein, stieß erst mal auf Ablehnung (eine absurde Wahl) 

Zukunftspläne: 

weiter tun – weiter tun.  

Wünsche: 

Paar Museumsankäufe, mehr Möglichkeiten mit Budget neue Arbeiten machen zu können, mehr Reisen 

Befürchtungen: 

Befürchtet gar nichts, sonst wäre sie nicht da, wo sie jetzt ist.


„Postmoderne und alternative Arbeitswelten“
Vortrag Wolfgang Ratzel vom 26.3.2011 im Mehringhof

Methode: Vergleich des alten mit dem neuen Geist des Kapitalismus (der sich neben, über oder unter dem alten Geist entwickelt) – Darstellung der globalen und regionalen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen!

Einbettung der Entwicklung von Arbeitswelten

Wo früher eine nationalstaatlich-abgeschottete und zollgeschützte Produktion funktionierte, entwickelt sich heute der globalisierter Konkurrenzkampf im Weltsystem des Kapitalismus um tendenziell gesättigte Märkte. Dieser „gnadenlose“ Konkurrenzkampf zwingt die Einzelunternehmen zur Standortstreuung und Vernetzung der kostengünstigsten Standorte

Technische Voraussetzungen

Wo früher zentralisierte, arbeitsteilige Planungs- und Steuerungsbüros arbeiteten, die über mehrstufige Hierarchieebenen mit Anweisungen weitergaben und aufwändige Kontrolle betrieben, funktionieren heute computergestützte Informations- und Kommunikationstechnologien als immer komplexere Vernetzungen zwischen CAD-Maschinen, Robotern, Computer, Personal-Computer, Smartphones, Notebooks, Tablet-Rechnern, Handy- und Video-Technologie usw.usf. Die Entwicklungstendenz: geht hin zur Sprachbefehlsteuerung, zur computerisierten Umsetzung von Gesprochenem in Texte, zur verbesserten Bildübertragung.

Prinzipien der Unternehmensorganisation

Wo früher eine aus sozialen Zusammenhängen „entbettete“ Wirtschaftsweise funktionierte mit ihrer mehrstufigen Hierarchie, mit zentralisiertem WAS, WARUM und WIE der Produktion und klaren Aufstiegsregeln, funktioniert heute eine gleich bleibend-entbettete Wirtschaftsweise, aber mit flachen Hierarchien, die Rahmenbedingungen und Hauptkennziffern (Kapitalverzinsung, WAS und WARUM wird produziert?) zentral festlegen, das „WIE wird produziert?“ aber dezentralisieren und an die ProduzentInnen delegieren. 

Strukturmerkmale Arbeitsorganisation 

Die fordistische Fabrikorganisation kann mit dem Bild „Fabrik als Festung“ beschrieben werden, möglichst autark mit Selbstfertigung und Lager. 

Die postmoderne Fabrik kann im Gegensatz hierzu als „diffuse Fabrik“ bzw. mit dem Bild „Festland-Archipel“ (Sennett) beschrieben werden, d.h.: ein dominierendes Hauptunternehmen gruppiert um sich herum –archipelartig- zahlreiche Zulieferer. Dazu gehört: 

- das Prinzip Outsourcing der Produktion von Einzel- und Ersatzteilen, des Transports, der  Reparatur, Reinigung usw..
- die Herstellung nach Maßgabe der schwankenden Nachfrage und just-in-time-Produktion   (lagerlose Fabrik, rollende (LKW)-Lager)
- die Fertigung möglichst individuell nach Kundenwunsch (statt standardisierter Massenware)
- flexible, leicht umrüstbare, auf kleine Serien ausgelegte Produktionsstraßen
- maximale Beschleunigung der Arbeitsvorgänge.

Strukturmerkmale des Arbeitsablaufs in postmodernen Unternehmen:  

Hauptmerkmale sind permanenter Leistungsdruck, der sich als Stress zeigt; die nachfolgenden Prozentsätze bezeichnen den Anteil der KollegInnen, die einerseits 1998/99, andererseits 2005/06 permanent unter einem der Stressfaktoren leiden: 

- Multitasking - von 42 v.H. auf 66 v.H.. Der Begriff kommt nicht zufällig aus der  Maschinenwelt und bezeichnet ursprünglich die Fähigkeit der Central Processing Unit (CPU des PC), mehrere Prozesse gleichzeitig ablaufen zu lassen)
- steigende Häufigkeit der Arbeitsunterbrechungen – von 34 v.H. auf 46 v.H.
- Termin- und Leistungsdruck: von 50 v.H. auf 53.v.H.
- ständig neue Aufgaben und wechselnde Projekt-Teams: 34 v.H. auf 46 v.H.
- Mindestleistungsanforderungen und Zeitvorgaben: von 26 v.H. auf 31 v.H.

Dazu kommen:

- Ständige Erneuerung der technischen Apparatur und Arbeitsabläufe (permanente Einarbeitung)
- Ständiger Rückstand und unerledigte Aufgaben, die wie Cliffhanger die Wochenenden und „Freizeit“ belasten. Folge: Schlafstörungen, Depressionen

(Selbst-)Bilder von funktionaler Mentalität und kompatiblem Habitus 

Fordistischer Kapitalismus:

- Es dominiert das Bild des gesichtslosen Massenarbeiters, der seine Fließband-Arbeit hasst; er wird auch als Marionette, als beidhändig arbeitender Arbeitsaffe (KH Roth), als Arbeitsmannequin (Baudrillard) oder als menschliches Anhängsel des Bands. 

Der Massenarbeiter funktioniert nach dem Modell „Anweisung-Ausführung“, d.h.: er bekommt einen klaren und abgegrenzten Aufgabenbereich zugewiesen. Sein Arbeitsplatz ist komplett fremdorganisiert und läuft fremdbestimmt; d.h.: der Massenarbeiter ist eine Reaktionsmaschine; er reagiert auf

- Anweisungen oder auf den Takt des Bandes, erfüllt den vorgegebenen Akkord (130%) und erwartet im Gegenzug guten (Akkord-)Lohn und Versorgung. Darüberhinaus wird kein eigenes Engagement erwartet.

- er arbeitet in starren Arbeitszeiten oder in Wechselschichten. Symbol des fordistischen Zeitregimes ist die Stechuhr, die Fehlverhalten „rot“ sticht und sanktioniert.

- Versicherungsmentalität: Der Massenarbeiter geht von einer betrieblichen und gesellschaftlichen Garantie seiner Basisinteressen aus und meint damit seine Arbeitsplatzsicherheit und die kontinuierliche Steigerung seines Lebensstandards durch stetige Reallohnzuwächse. Zweck dieser Reallohnsteigerung ist seine Teilhabe am Massenkonsum. Sein furchtfreies Dasein soll durch Stabilität und durch sozialen Frieden garantiert werden, der durch Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft hergestellt wird. 

Postfordistischer Kapitalismus:

Es dominiert das Bild des Arbeitskraftunternehmers. Jeder arbeitet so, als ob er selbst Unternehmer wäre. Auch Arbeitslose sollen Unternehmer der Beendigung ihrer Arbeitslosigkeit sein. Dazu passt das Bild des „Modernen Nomaden“: „Wo du bist, ist auch dein Büro.“ Negativ-Bild: „Resident People“ (der Sesshafte).

Voraussetzung hierfür sind zahlreiche Verinnerlichungen ehemaliger Fremdanforderungen. Im einzelnen geht es um die Verinnerlichung: 

- des Prinzips der Selbstorganisation der zugewiesenen Aufgaben, allein oder im Team;
- des Prinzips, überall und zu jeder Zeit –nach „Feierabend“, am Sonntag und im Urlaub  erreichbar zu sein;
- des Prinzips, überall und zu jeder Zeit auf Anwendungen zugreifen zu können;
- der Haltung, immer aktiv und flexibel hinsichtlich der Anforderungen des Betriebs zu sein;
- des Prinzips Eigenverantwortung und Produktverantwortung;
- des Bedürfnisses nach „Zeitsouveränität“ durch flexible Arbeitszeiten wie gleitende  Arbeitszeit, Arbeitszeitkonten usw.;
- Qualifiziertes, vielseitig einsetzbares und austauschbares Personal (Weiterbildung,  Arbeitsplatzrotation), Gruppen und Teamarbeit
- des Prinzips Arbeit nach Auftragslage;
- des Bedürfnisses nach flachen Hierarchien - statt starren mehrstufigen Hierarchien, samt ihrer  „Quasiverbeamtung“;
- des Bedürfnisses nach ständigem Wechsel der Arbeitsaufgaben - statt stumpfsinniger

 Monotonie des Immergleichen.

Dazu kommen längere Betriebs- und Maschinenlaufzeiten durch Arbeitszeit-Flexibilisierung, die paradoxerweise ursprünglich über den Einstieg über 35 h-Woche eingeführt wurden. 

Entscheidend ist, dass alle diese verinnerlichten Zwänge vom arbeitenden Subjekt als Ausdruck persönlicher Freiheit empfunden werden. Im Leistungsdruck und Leistungszwang fühlt der Gezwungene sich persönlich frei. Indem der Knecht sich selbst zur Steigerung seiner Produktivität „befiehlt“, wird er sein eigener Herr. Herr und Knecht fallen in ein-und-derselben Person zusammen und werden ununterscheidbar.  

Gender-Habitus 

Frauen kommen mit dieser postmodernen Arbeitsorganisation besser zurecht und sind infolge ihrer weiblich-ansozialisierten Fähigkeiten produktiver, d.h.

- Frauen sind teamfähiger und verursachen bei weitem weniger Kräfteverlust durch   Machtkämpfe („Hahnenkämpfe“);
- Frauen arbeiten emotionaler, kommunikativer und einfühlsamer, gewinnen schneller einen  Draht zum Kunden und können besser auf Kundenwünsche eingehen;
- Frauen arbeiten sachorientierter und achten weniger auf ihren eigenen Vorteil;
- Frauen können besser Prioritäten setzen und besser das Vorrangige vom Nachrangigen  unterscheiden;
- Frauen kommen besser mit flachen Hierarchien klar.

Welches Bild von der Firma malen sich die Arbeitenden aus? 

In der fordistischen und vor-fordistischen Epoche erschien die Firma als Ort der lebenslangen und generationenübergreifenden Arbeitsplatz-, Wohnungs- und Betreuungs-Sicherheit. Man war Boschianer oder Kruppianer; man arbeitete „beim Bosch“; der eigene Sohn und die Tochter konnten davon ausgehen, dass auch sie „beim Bosch“ arbeiten würden. Die Familie sah sich eingebettet in große institutionelle Gebilde, die kooperativ arbeiten: Die Bosch AG kooperierte mit dem Betriebsrat, der IG Metall und die Gesellschaft vervollkommnete dieses Bild durch die sozialen Sicherungssysteme: Renten-, Kranken-, später Pflegeversicherung samt Arbeitslosen- und Unfallversicherung und für den äußersten Notfall das Sozialhilfesystem.

Wenn die Firma „zumachte“, ging mit der Firma die Sicherheit des Lebensverlaufs, die Planbarkeit des Lebens einer Familie sowie ein ganzes Milieu zugrunde. Mit der Firma starb der Stadtteil und die Alltagsbeziehungen. Man wurde „entwurzelt“. 

Die postmoderne Firma hingegen erscheint als vorübergehender Ort der Selbstverwirklichung in einem individuellen Karriereplan. Man kommt und geht. Der vereinzelte Arbeitsnomade (oft Single) springt von Firma zu Firma. Die Mitglieder der Lebensabschnittspartnerschaft –manchmal auch Familie- arbeiten zerstreut auf mehreren Arbeitsplätze und stellen sich ihre je-eigenen Karrierepläne zusammen. 

Während die einen stolz darauf sind, lebenslang „beim Bosch“, „beim Husser“, „beim Daimler“ zu arbeiten, werden die Arbeitsnomaden mangelnder Flexibilität und Kreativität verdächtigt, wenn sie allzu lange im selben Betrieb arbeiten. 

Welches Bild malen die Arbeitgeber von ihrer Firma 

Inbegriff des fordistischen und vor-fordistischen Unternehmers war der paternalistische Kapitalist, eingebettet in die soziale Marktwirtschaft des „rheinischen Kapitalismus“, d.h.: Der Kapitalist fühlte sich ein stückweit mitverantwortlich für die Lebensumstände „seiner“ ArbeiterInnen, und zwar im Sinne einer Verantwortung des Führers der Betriebsgemeinschaft für seine Gefolgschaft. Die Gefolgschaftsführerschaft schloss die Fürsorge für die Geführten ein. Der Gesichtspunkt der maximal-möglichen Kapitalakkumulation regierte zwar das Kapitalhandeln, war aber „verunreinigt“ durch zahlreiche „profitfremde“ Erwägungen. Man verdiente und war dabei „sozial“.  

Im postmodernen Kapitalismus kommt die Verwertungslogik in reiner Form zu sich selbst: Man akkumuliert so gut man kann. Alles andere wird Privatsache der ProduzentInnen. Man versteht sich nicht mehr als Sozialstation, d.h.: Wer nicht nach unseren Regeln spielt, soll zu Hause bleiben. Unterstützt wird das, was die Produktivität steigert. Falls das Image der Fürsorge die Profitrate steigert, ist man fürsorglich, aber nur so lange, wie keine andere Strategie besser wirkt. Man denkt ausschließlich funktional zum Zweck der Kapitalrendite. 

Folge: Neuzusammensetzung der betrieblichen Arbeiterklasse

Der postmoderne Betrieb unterscheidet:

- zwischen (oft übertariflich bezahlten) Kernbelegschaften und schlechter bezahlten Randbelegschaften aus Fremd- und Leiharbeitsfirmen;
- zwischen dauerhaft und befristeten Arbeitsverträgen;
- zwischen Arbeit in deutschen oder ausländischen Standorten;
- zwischen qualifizierten Entwicklungs- und Wartungsarbeiten (männlich, weiß) und  unqualifizierten Arbeiten in den noch-nicht-roboterisierten und automatisierten Bereichen   (weiblich, farbig).
- zwischen einfachen Arbeiten, die in kostengünstige Standorte ausgelagert werden und  qualifizierten Arbeiten, die am Standort konzentriert werden.

Folge: Heilsversprechen! - Verschmelzung von Leben und Arbeit 

„Man wird sich nicht mehr in ein Büro bewegen müssen, um produktiv zu sein“ – sagt Volker Smid von HP Deutschland. Sein Heilsversprechen: Die Verschmelzung von Lebens- und Arbeitswelten bringt Zeitsouveränität: Du kannst deinen Tagesablauf einteilen! Du hast Zeit für Erziehung statt für die nervende Anfahrt zum Betrieb.

Menschen können nunmehr simultan-vernetzt zusammenarbeiten; man kann sich je nach Aufgabe die gewünschten Partner suchen. 

Aber warum macht diese postmoderne Arbeitsweise krank? 

Die psychische Invalidität hat sich zwischen 1991 und 2009 von 20 v.H. auf 41 v.H. mehr als verdoppelt (Schweiz); sie ist heute die wichtigste Ursache für Invalidität, überproportional wichtig in jüngeren Jahrgängen. 

Ursache für das Krankwerden sind nichtintegrierbare psychosoziale Belastungen.

Die wesentlichen Stressfaktoren sind:

- permanente Überforderung und Unterforderung;
- Mangel an Kontrolle seiner Arbeitsabläufe; zu wenig Einfluss auf Arbeitsergebnisse.
- Stress durch Beschleunigung der Arbeitsabläufe;
- Stress durch permanenten Ertragsdruck (Beispiel: Die Montagsbesprechung in der  Bank mit Ausgabe der Umsatz- und Renditeerwartungen für die folgende Woche)
- Stress durch Flexiblisierung;
- Stress durch Konkurrenzdruck unter KollegInnen;
- Stress durch mangelnde Konzentrationsmöglichkeit auf seine Aufgaben;
- Furcht, den Arbeitsplatz zu verlieren
- allgemeine Verunsicherung durch gesellschaftliche und globale Entwicklungen.

Folgen: Psychische Erschöpfung: „Ich bin ausgelaugt“ - „Mir ist alles zu viel!“

Die Zahl der Psycho-Invaliden steigt auch an, weil einfache Tätigkeiten, die viele noch machen könnten, ausgelagert sind. 

Innere Widersprüche der Produktionsweise: 

1. Innovation und Kreativität brauchen Zeit, Langsamkeit, Kontemplation, Konzentrationsfähigkeit. Man muss sinnieren, sich besinnen, sich vertiefen können. Nachdenken und Sinnieren wird aber weder innerbetrieblich noch gesellschaftlich als „Arbeit“ anerkannt. Nachdenken und Besinnlichkeit wird als Nicht-Arbeit, Untätigkeit und Faulheit interpretiert. 

2. Die Identifikation mit der Arbeit, den KollegInnen und dem Unternehmen braucht einen sozial-stabilen Rahmen sowie eine soziale, „einfühlende“ Unternehmensführung. 

Beispiele:

- Großraumbüros -auch mit „Denkzellen“- sind für kreative Prozesse dysfunktional. Man braucht feste Orte, Einzelbüros, ja sogar Faradaysche Käfige, also abgeschirmte, allseitig geschlossene Räume. 

- Die permanente Betriebsverlagerungen und Aufkäufe verhindern die Identifizierung mit Arbeit und Unternehmen. 

Wirtschaftszweige der Zukunft 

1. Megatrend „Creative Industries“, d.h. die Kulturwirtschaft, Kreativwirtschaft, Wissenschaftswirtschaft. Alles wird zur „Wirtschaft“; 

2. Megatrend „Gesundheitswirtschaft“, d.h. Krankenhäuser, Arztpraxen, Pflegeheime, Ambulante Versorgung, Therapie und Vorbeugung incl. Technologie (Medizintechnik), Biotechnologie usw.; 

3. Megatrend „Sozialwirtschaft“, d.h. Kitas, Träger der sozialen Arbeit usw.; 

4. Megatrend „Green Business“, Experten und Technologien für alle Wirtschaftsbereiche, erneuerbare Energien, nachwachsende Rohstoffe; 

5. Megatrend Gastronomie (Kantinen, Catering, Essensdienste usw.) und Reinigung (Haushaltsjobs). 

Hingegen Stagnation im Bildungsbereich und bei den technisch-wissenschaftlichen Fachkräften. 

Merke: Es gibt keinen Facharbeiter- und Ingenieursmangel, sondern einen Mangel an einem funktionalen und kompatiblen Typus von Facharbeiter und Ingenieur. 

Zeigen diese Bilder postmoderner Produktionsweise das Ganze der Produktionsweise? Sind sie „wahr“? 

Nein – sie zeigen nur eine minoritäre Produktionsweise, die aber als Leit-Paradigma des Produzierens wirkt! Und sie zeigen vor allem nicht die substanzielle Entfähigung der Arbeitskraft. Die postmodernen Produzenten sind vor allem abstrakte ProduzentInnen und SymbolarbeiterInnen, Anhängsel eines Funktionskreislauf, der Betrieb heisst.  

Anknüpfungspunkte für eine andere, nichtkapitalistische Produktionsweise: 

(1) Wiedereinbettung der Wirtschaftsweise in die Erfordernisse von Mitwelt und Umwelt;

(2) Ausdehnung der Selbstorganisationsfähigkeit der ProduzentInnen vom reinen WIE auf das WAS und  WARUM und auf die Kernziele Nachhaltigkeit und Tragfähigkeit (Gemeinwohlrate statt Profitrate).

(3) Hauptproblem: Welche Institution ersetzt den Markt?  


„Was tun, wenn aus einem Übermaß an Positivität die Erschöpfungsmüdigkeit entsteht?“
 am 15./16. April 

Zur Situation der Beschäftigten in der Weiterbildung  

Am Freitagabend referierte Renate Singvogel von Verdi zur Situation der Beschäftigten in der Weiterbildung und Joachim Maiworm zu „Die Bildungsträger aus Sicht eines Teilnehmers“.

Die radikalen Kürzungen im Kontext der Hartz-Gesetze sowie der aktuellen "Sparbeschlüsse" (u.a. bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik) haben nicht nur für Erwerbslose, sondern auch für die Beschäftigten in der Weiterbildungsbranche äußerst negative Folgen. Im Rahmen der  Veranstaltung sollten einerseits die Arbeitsbedingungen in der Weiterbildungsbrache thematisiert, andererseits – als Exkurs ein kritischer Blick eines ehemaligen Teilnehmers (Erwerbsloser) von beruflichen Bildungsmaßnahmen auf die Bildungsträger-Landschaft geworfen werden.

Die Referentin Renate Singvogel arbeitet im Fachbereich Bildung, Wissenschaft und Forschung bei der Gewerkschaft ver.di. Sie ist unter anderem mitverantwortlich für die Informationsplattform Netzwerk-Weiterbildung ( www.netzwerk-weiterbildung.info ).

Renate Singvogel berichtete, dass sich insbesondere seit Hartz IV die Verhältnisse in der Weiterbildung total geändert hätten. Seitdem würde eine andere Geschäftspolitik betrieben. Der billigste Anbieter kriegt in der Regel den Zuschlag. Das Preisdumping hat ein Lohndumping zur Folge. Das begann 2004, inzwischen wurden 30 000 Arbeitsplätze abgebaut. Das Normalarbeitsverhältnis ist passe. Bei Bildungsmaßnahmen spart der Staat, so beim Sparpaket. Das Ganze sei ein Unterbietungswettbewerb und nicht ein Qualitätswettbewerb.  

Joachim Maiworm berichtete über die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit („WB als Farce“).Er zitierte einen Integrationslehrer: Es geht darum, „dass (Beinahe)Leistungsbezieher andere Leistungsbezieher mit fragwürdigem Unterricht bespielen, ohne dass dabei etwas Anderes herauskommt als die Demütigung aller Beteiligten und die Bereinigung der Statistik von politisch unangenehm hohen Arbeitslosenzahlen.“ Er kritisierte insbesondere folgende Punkte: keine Lernerfolge, unbezahltes Praktikum (Zusammenarbeit der Träger mit den Einsatzstellen), schlechte Ausstattung der Institute (Räume, Infrastruktur, Lehrmittel), schlechte Personalschlüssel, z.T. unqualifizierte Dozent/innen, Lehrkräfte als Gehilfen der Jobcenter: Anwesenheitskontrolle, Pünktlichkeit, Bewerbungslisten (Zusammenarbeit mit Jobcentern), falsche Außendarstellung durch Bildungsträger und Lehrkräfte: hohe Vermittlungsquote, Relevanz der Abschlusszertifikate. Er fragte: Warum sollen Dozent/innen bessere Arbeitsbedingungen bekommen, wenn der Gebrauchtwert ihrer Arbeit z.T. gegen Null tendiert? Warum sollen sich erwerbslose Kunden für die prekären Arbeitsbedingungen interessieren, wenn die Dozent/innen sich für die Erwerbslosen nicht interessieren bzw. ihnen falsche Illusionen (Chancen auf dem Arbeitsmarkt) vermitteln? Warum interessieren sich die Lehrkräfte so wenig für die Situation der erwerbslosen Kunden? Gibt es eine Basis für eine Interessenidentität? Fazit: Simulation von Bildung (ausbleibender Lernerfolg); Disziplinierung (vorzeitige Beendigung der WB schwierig wegen Schadensersatz bei Abbruch der Maßnahme und mögliche Sanktionierung); Zertifikate und Arbeitszeugnisse (Praktika) wertlos; teilweise Einbindung in Arbeit für den Träger (z.B. Praktikum beim Träger selbst); Zeitverschwendung; Eingliederungsmittel werden zu Profite für WB-Industrie.   

Smile or die- Vorstellung des Buches von Barbara Ehrenreich (Anne Seeck)  

Barbara Ehrenreich beginnt: Die Amerikaner sind ein “positives” Volk. So sehen uns nicht nur die anderen, sondern auch wir selbst. Eine positive Einstellung scheint tief in unserem Volkscharakter verwurzelt. Zu einer gesunden Lebensweise gehören positive Gefühle. Gute Gefühle breiten sich in einem sozialen Netz rasch aus, haben Einfluß auf unseren Gesundheitszustand. In vielen Bereichen des gesellschaftlichen und Privatlebens ist es gut, “positiv” zu sein.

Aber 2/3 des Weltmarktes für Antidepressiva fallen auf die USA. Antidepressiva sind die meistverordneten Medikamente in den USA. Studien zeigen, dass beim subjektiven Glückszustand sich die USA auf dem 23.Platz befindet, beim Happy Planet Index auf Platz 150.

Wie kann es dann sein, dass sich US-Amerikaner so überdurchschnittlich positiv sehen. Barabara Ehrenreich sagt, dass das Bestandteil einer Ideologie des “positiven Denkens” sei. Positive Denken sei der positive Inhalt des Denkens und die Praxis oder Methode, in allem etwas Gutes zu sehen. Dahinter verbirgt sich eine tief sitzende Angst. Das positive Denken rechtfertigt die brutalen Züge der Marktwirtschaft, fürs Scheitern gibt es keine Entschuldigung, es wird an die persönliche Verantwortung appelliert. Barbara Ehrenreich lernte das positive Denken insbesondere in der Zeit kennen, als sie Brustkrebs hatte.

Es sei wichtig, sich zuvor die Geschichte, vor allem den Calvinismus anzusehen. Die weißen Siedler in den USA brachten den Calvinismus als ein System sozial auferlegter Depression mit, die Lebenden mußten ihre Laster und sündigen Gedanken überprüfen, die einzige Form der Befreiung war eine weitere Mühe- putzen, pflanzen, nähen, eine Landwirtschaft oder ein Geschäft aufbauen, Müßiggang oder Streben nach Zerstreuung galten als verabscheuungswürdige Sünde. Arbeit war das einzige Heilmittel gegen seelischen Schmerz, wichtig war die Selbstdisziplin. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigten sich in der düsteren calvinistischen Wolkendecke die ersten Risse. Immer mehr Menschen lehnten sich gegen die unversöhnliche Religion auf. Philosophen, Arbeiter, Kleinbauern und Frauen stellten das religiöse Erbe in Frage. Quimby und Marry Baker Eddy legten den Grundstein für das kulturelle Phänomen, das wir heute positives Denken bezeichnen. Sie entwickelten das “Neue Denken”. Mary Baker Eddy litt wie viele andere an einer Krankheit- der Neurasthenie. Quimby machte den Calvinismus als Ursache für das Leiden aus, der Calvinismus würde die Menschen deprimieren, die Religion würde ihr Leben einschränken, sie würden eine große Schuld auf sich laden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dem Siegeszug der wissenschaftlichen Medizin, wurden die aus dem Neugeist hervorgegangen Heilmethoden obsolet. Erst in den 1970er Jahren wagten es wieder einige Vertreter des positiven Denkens, körperliche Erkrankungen zu ihrem Zuständigkeitsbereich zu zählen.

Heute breitet sich das positive Denken in der Arbeitswelt und Wirtschaft aus. Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich eine eigene Coaching-Branche etabliert, oft wird dabei die Ideologie des positiven Denkens aufgezwungen, Unternehmen versuchen diese den Arbeitnehmern einzuimpfen. Die Sanktionen für nichtkonformes Verhalten haben sich verschärft und reichen von der Kündigungsandrohung und Ablehnung bis hin zu sozialer Ächtung und völliger Isolation.

Das Geschäft mit der Motivation: Das Motivationsgewerbe ist ein Multimilliarden-Dollar schwerer Wirtschaftszweig, in den Händen der Arbeitgeber ist es zu einem Mittel der sozialen Kontrolle am Arbeitsplatz geworden, zum Ansporn, immer höhere Leistungen zu bringen. 

Zwischen 1981 und 2003 verloren etwa dreißig Millionen amerikanische Vollzeitbeschäftigte ihre Stelle durch Rationalisierung, viele Angehörige der Mittelschicht landeten im Niedriglohnbereich oder in völliger Armut, viele bangten um ihre Zukunft. Sie sollten sich als Vermarkter begreifen, sie sollten sich als “Marke” sehen, die Einzigartigkeit verkörpert.

Motivationstrainer und Coachs präsentieren sich als Werkzeuge zur Bewältigung des “Wandels”, d.h. des Personalabbau und der Verdichtung der Arbeit der verbliebenen Beschäftigten. Ein weiteres Mittel, sich an die Kündigungswellen zu gewöhnen, fand sich im boomenden Markt der Wirtschaftsratgeber. 

Das positive Denken hielt auch in den (Mega-)Kirchen Einzug. Auch das ist ein Milliardengeschäft. Zudem entstand die Positive Psychologie. Der bekannte Psychologe Martin Seligman entwickelte eine Formel: G=V+L+W (G=Glücksniveau, das ein Mensch erreichen kann, V=vererbte Bandbreite erreichbaren Glücks (genetische Disposition), L=Lebensumstände, W=Wille, die Faktoren, die unter der Kontrolle des Willens stehen). Die positive Psychologie gewann auf allen Ebenen der Wissenschaft an Boden, jene, die einen akademischen Abschluß in positiver Psychologie erwerben, erwartet eine attraktive Laufbahn, lukrative Laufbahnen im Wirtschaftscoaching.

Das positive Denken hat auch zur Krise beigetragen. Es liegt ein Zusammenhang zwischen positivem Denken und der Hypothekenkrise vor, oftmals waren kaum bzw. keine Einkommensnachweise für einen Hauskredit notwendig, viele US-Bürger verschuldeten sich, im Jahre 2007 stieg die Zahl der Privatinsolvenzen um 40 Prozent, nicht nur die Kreditnehmer, auch der Kreditgeber waren leichtsinnig, jemand nennt das die “Hedge-Fonds-Krankheit”, Grössenwahn gepaart mit Narzissmus und Egozentrik. Aber auch im Realsozialismus gab es positives Denken. Die individuelle und kollektive Pflicht zum Optimismus stammt aus dem Lehrbuch des Stalinismus. Milan Kunderas Roman der Scherz von 1968: Der Protagonist schickt an seine Freundin eine Karte: Der Optimismus ist Opium fürs Volk. Dafür wird er als Volksfeind zur Zwangsarbeit im Kohlebergwerk verurteilt. Kundera wurde wegen des Buches aus der KP ausgeschlossen, sein Werk verschwand aus den Bibliotheken und Buchhandlungen, er durfte nicht mehr in den Westen reisen.  

Mehringhofvortrag Wolfgang Ratzel:

„Vorstellung des Buches von Byung-Chul Han: „Müdigkeitsgesellschaft“

Samstag, 16. April 2011 - 15:00 bis 17:00 Uhr 

Die Diagnose von Byung-Chul Han lautet: 

Das bakteriell-virale, immunologische Zeitalter ist vergangen. Der Paradigmenwechsel zum neuronalen, postimmunologischen Zeitalter ist vollzogen. In diesem Wechsel endete der Kalte Krieg und mit ihm transformierte sich die Disziplinar- zur Leistungsgesellschaft und das Gehorsamssubjekt zum Leistungssubjekt.

Die treibende Dynamik der Geschichte der Gesellschaftsformationen ist ein gesellschaftlich Unbewusstes, das zur Maximierung der Produktion strebt. Sie treibt die Disziplinargesellschaft in die Leistungsgesellschaft, die in der Dopinggesellschaft (Leistung-ohne-Leistung-Gesellschaft) zu sich kommt und infolge Erschöpfungsmüdigkeit implodiert.

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I. Gegenüberstellungen 

Die Disziplinargesellschaft erzeugt das Gehorsamssubjekt 

Ihre Leitkrankheiten sind bakteriell-virale Krankheiten, Pandemien, Epidemien.

Klare Trennungen zwischen Innen und Außen, zwischen Freund und Feind, zwischen Eigenem und Fremdem. Das Fremde und das Andere wird als das Feindliche beurteilt.

Die Topologie der Disziplinargesellschaft wird bestimmt durch Grenzen, Mauern, Gräben, Übergänge.

Der Habitus der Subjekte orientiert sich an der Erhaltung des Eigenen, Identischen, der Innerlichkeit seines Selbst und dessen Ausdehnung durch Aneignung des Anderen

Das je-eigene Immunsystem kann reagieren durch Vernichtung der eindringenden Fremden, durch Negation der Negation

Die Leistungsgesellschaft erzeugt das Leistungssubjekt 

Ihre Leitkrankheiten sind neuronale Erkrankungen: Depressionen, Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivitätssyndrom, Borderlin-Persönlichkeitsstörung, Burnout Syndrom

Aufhebung der Trennungen zwischen Innen und Außen, zwischen Freund und Feind, zwischen Eigenem und Fremdem. Das Fremde und das Andere wird nicht mehr als das Feindliche, sondern als das Differente im Gleichen beurteilt. Das Fremde, Andere (z.B. der Immigrant) wird unter Gesichtspunkten wie (Kosten-)Belastung oder Bereicherung wahrgenommen.

Die Topologie wird bestimmt durch Auflösung der Grenzen und Entgrenzung zu universalen Austauschprozessen.

Der Habitus orientiert sich an der eigenen Ausdehnung durch Hybridisierung (Mischformenbildung), was zur allgemeinen Promiskuität aller Lebensbereiche führt.

Das je-eigene Immunsystem kann nicht reagieren; es erkennt nur das Fremde, nicht aber das Gleiche. Das Gleiche führt nicht zur Bildung von Antikörpern. Das Immunsystem wird blind. Es kann nicht das Krankmachende erkennen. Das Innere des Selbst wird vom Leistungsdruck und dem Zuviel an Allem überschwemmt und überwältigt.

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II. Welche Faktoren erzeugen das Zuviel an Positivität, das sich als neuronale Gewalt, als Gewalt der Positivität, destruktiv äußert? 

(Faktor 1) Die Globalisierung: Imperativ der Entgrenzung

-     als räumliche Entgrenzung; und [- als Vergleichzeitigung des Ungleichzeitigen];

-     als Verschwinden von Andersheit, Fremdheit, Feindschaft zugunsten der Differenz im Gleichen;

-     als Entgrenzung zur allgemeinen Promiskuität und Bildung von Mischformen;

-     als Beschleunigung und Hyperaktivität (auch als Reaktion auf das Wissen um Vergänglichkeit) 

(Faktor 2) Der verinnerlichte gesellschaftliche Leistungsdruck: Imperativ der Leistung

-     als Selbstorganisation eines andrängenden Zuviel an Produktion, Leistung, Kommunikation;

-     als Aufmerksamkeitstechnik Multitasking (= Hyperaufmerksamkeit als Regress zum animal laborans, zum tierischen Verhalten in freier Wildbahn) 

(Faktor 3) Der verinnerlichte freiwillige Zwang zur positiven Potenz, d.h. der freiwillige Selbst-Zwang, nicht-realisierte Möglichkeiten zu realisieren: Yes, we can!

-     als Emanzipation von Fremdbestimmung zum freiwilligen Selbstzwang zum Können-können.

[-   als Habitus einer permanent-überspannten Vertikalspannung zwecks Aufstieg auf den „Berg der

Unmöglichkeit“] 

(Faktor 4) Der Tod Gottes. Seine Auferstehung als Göttin der Gesundheit und Vitalität

Alles wird vergänglich und ungewiss. Der Glaubensverlust betrifft außer Gott und Jenseits auch die Realität selbst. Zum neuen „Gott“ geheiligt wird das nackte Leben als Überleben, als Vitalität und Gesundheit. Einziger Lebens-Sinn ist je-sein gesundes Überleben durch nackte, sinn-lose Arbeit.

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III. Die Kennzeichen und Wirkungen der neuronalen Gewalt der Positivität 

Die Gewalt der Positivität geht vom Gleichen aus (nicht vom Anderen, Fremden, vom Feind);

- Sie macht alles gleich-gültig; d.h. sie vereinnahmt Zwischenräume und verhindert Unterbrechungen;

- Sie wirkt als digestiv-verdauende Abreaktion und Ablehnung;

- Sie sättigt (saturiert) und vervollständigt, wirkt exhaustiv-ausschöpfend;

- Sie zerstört das Verweilen-Können, die Kontemplationsfähigkeit;

- Sie deaktiviert das Nein-Sagen-Können und die hemmenden und abschließenden Instinkte;

- Sie liefert das überforderte, erschöpfte Selbst dem Objekt aus. 

Das Krankheitsbild der neuronalen Gewalt zeigt sich als das kranke entselbstete Selbst 

Die neuronale Gewalt zertrümmert das Selbst, lässt es implodieren, entselbstet es zu einem kranken Selbst.

Symptome: - Ich-Müdigkeit: Nichts ist möglich! Erschöpfung, Ermüdung, Erstickung, Infarkt; Nicht mehr Können-Können als Depressionen, Überhitzung, Durchbrennen, Versagen;

- Impotenz (als Unfähigkeit, etwas Positives zu tun);

- Unfähigkeit zur Wut: Man kann sich nur noch sich ärgern und angenervt sein; man kann sich nur noch abreagieren und entnervt ablehnen.  

Das Kennzeichen der Erschöpfungsmüdigkeitsgesellschaft lautet: Nichts ist möglich 

- Sie ist eine Müdigkeit der positiven Potenz, die sich aber als Impotenz zeigt, d.h.: als Unfähigkeit, das Mögliche zu tun; als Unfähigkeit zur Entschlossenheit, das Unmögliche zu tun;

- Sie zeigt sich als Ich-Müdigkeit eines vom Imperativ der Leistung erschöpften Ich;

- Sie zeigt sich als Alleinmüdigkeit, als entzweiende Müdigkeit, die blickunfähig und stumm macht und  zur Gewalt nötigt (Handke);

- Sie zeigt sich als weltlose und weltvernichtende Müdigkeit: „Ich bin Deiner müde! – ich bin der Welt müde“;

Ergebnis: Die ehedem arbeitende, strebend-zugreifende Hand kann nicht mehr zugreifen. 

These: Die Erschöpfungsmüdigkeit wirkt in der Leistungsgesellschaft als innere Schranke für die Maximierung der Produktion. Die Dynamik des gesellschaftlich Unbewussten muss sich zu einer neuen Form gesellschaftlichen Zusammenlebens und Produzierens finalisieren.

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IV. Der Paradigmen- und Dispositivwechsel von der Leistungs- und Dopinggesellschaft zur Müdigkeitsgesellschaft 

Die kommende Müdigkeitsgesellschaft kann nicht geplant herbeigeführt werden; sie zeigt sich als neue Qualität von Selbst-sein und von gesellschaftlichem Zusammenleben und Produzieren. Sie zeigt sich: 

- als Fähigkeit zur tiefen Langeweile und tiefen Aufmerksamkeit; als neues kontemplatives

  Vermögen (zur Wiedergewinnung von Souveränität, Kultur- und Zivilisationsfähigkeit);

- als Fähigkeit zum Widerstand gegen andrängende Reize, zur Geduld; zum kontrollierten An-

  sich-Herankommen-lassen: „Als neinsagendes, souveränes Tun ist sie aktiver als jede

  Hyperaktivität“ (40);

- als Verweilen-Können beim Schwebenden, Langen, Langsamen, Unscheinbaren, Flüchtigen;

- als Fähigkeit zum selbstloses Schauen, als Fähigkeit zur Entäußerung, zum Aus-sich-

  Heraustreten, zur Versenkung in die Dinge, zum So-Sein-Lassen der Dinge;

- als Fähigkeit zur negativen Potenz des Nicht-zu; d.h. zur Fähigkeit, nicht-realisierte

  Möglichkeiten nicht zu verwirklichen; d.h. als Potenz, nicht zu tun, zu lassen (nicht: Impotenz);

- als Hingezogenheit zur Mit-Müdigkeit und Wir-Müdigkeit als tiefe >fundamentale

  Müdigkeit<, in der sich die Klammer der Identität, der starren Abgrenzungen lockert; in der

  Dinge beieinander sind;

- als beredte, das-Zerstreute-versammelnd-sehende, versöhnende Müdigkeit;

- als Müdigkeit eines ent-innerlichten, leeren, offenen, tiefen Selbst, das sich nicht mehr in der

  Immun-Festung je-seiner Identität einschließt, sondern Zwischenräume eröffnet als Räume der

  Freundlichkeit und des Friedens: Ich bin auch das Andere, und das Andere wird zugleich Ich;

- als welt-vertrauende Müdigkeit, deren Schwerkraft des Seins auf der Welt liegt: „Das Weniger

  an Ich äußert sich als ein Mehr an Welt“ (57)

- als inspirierende, das Zerstreute wach und klaräugig rhythmisierende, formbildende Müdigkeit. 

- als Gemeinschaft der Singularitäten; d.h. als Gemeinschaft ohne Verwandtschaft und

  Zugehörigkeit; als Wir-Selbst, wo Menschen und Dinge verbunden sind durch ein freundliches

  Und; wo man sagt: „Ich bin Dir müde!“ (nicht: „Ich bin Deiner müde!“); wo die Müdigkeit zu

  einer Nähe ohne familiäres oder funktionelles Band zusammenstimmt.

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V. Summa: 

Die Müdigkeitsgesellschaft zeigt sich als Zwischenzeit, als Zeit ohne Arbeit, ohne Sorge, als Spielzeit, Friedenszeit, als Zeit der Freundlichkeit zwischen müde-wachen Menschen, in denen die Welt freundlich, ohne Begehren, still, selbst-los widerhallt; deren Selbst befreit ist vom Willen zum perspektivischem Zugriff und vom Imperativ zur Angleichung der Welt an je-sein Wollen. Dann kann aus jener entschlossen zugreifenden arbeitenden Hand eine spielende Hand werden. (58) 


"Was tun, wenn der Sozialstaat abgeschafft werden soll?"
am 13./14. 5.2011
 

Geschichte und Kritik des Sozialstaates (Referent Christian Frings) 

Der Sozialstaat sei keine Errungenschaft, sondern eine Form der sozialen Kontrolle, die vom Arbeitszwang flankiert sei. Der Sozialstaat sei ein nationales Projekt der Spaltung und Befriedung des Klassenkampfes. Historischer Motor war der Krieg und die Angst vor Revolution. Der Sozialstaat verwandelte den Klassenantagonismus in die Institution "Arbeiterbewegung". Es wurde zwischen guten Arbeitern und Lumpenproletariat getrennt. Der erste Weltkrieg war der Schrittmacher für die Sozialpolitik. Die erste Arbeitschutzverordnung gibt es aus militärischen Gründen, denn die Arbeiterklasse sollte eingebunden werden. Es gibt eine drohende Dialektik zwischen Krieg und Revolution, das ist den Herrschenden präsent, wenn sie von Sozialpolitik reden. Bismarck wollte mit seiner Sozialpolitik die Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung schwächen. Mit dem Sozialstaat wurden autonome Reproduktionsformen (z.B. gewerkschaftliche Kassen, kollektive Selbsthilfe) enteignet. Das wurde durch Beteiligung (Drittelparität) kompensiert. Diese Drittelparität hat maßgeblich zur Verbürgerlichung der Arbeiterklasse beigetragen. Es wurden viele Jobs geschaffen, Arbeiter kamen in die Staatsbürokratie. Durch die Sozialversicherung, für die Beiträge gezahlt werden, wird die bürgerliche Selbständigkeit erhalten, man ist kein Almosenempfänger. Beiträge sind an Leistungen gekoppelt, das ist vermittelter Arbeitszwang. Der Sozialstaat beinhaltet individuelle Daseinsvorsorge, Arbeitsschutz und kollektive Interessenvertretung. Der Sozialstaat zementiert den Arbeitszwang, indem er ihn lockert. Er vollendet das lebenslange Arbeitsgefängnis, indem er es gemütlicher und individuell einrichtet.

Abschließend ging Christian Frings auf das Buch "Aufstand der Armen" ein. Macht beruht auf Ressourcen, Arme haben keine Ressourcen und trotzdem können sie etwas erreichen durch ihr "Störpotential". Die Herrschenden sind darauf angewiesen, dass sich die Armen an die Regeln halten.  

Samstag, 14.5.2011 im Mehringhof, 13 – 15 Uhr

„Der abendländische Sozialstaat als US-Sozialhilfestaat und eine Alternative“  Vortrag von Wolfgang Ratzel 

Der US-Sozialstaat als Variante des abendländischen Sozialstaats

Die USA bestehen aus 50 Bundesstaaten mit 310.955.497 EinwohnerInnen (Stand: 21.12.2010) 

Die US-Ideologie, das MAN, geltendes Wertesystem, normativer Rahmen 

Die US-Vorstellung von gesellschaftlichem Zusammenleben besagt:

Arbeit, Ehe und Unabhängigkeit von öffentlichen Geldern sind die Grundlagen einer funktionierenden, gerechten Gesellschaft und Grundvoraussetzung für die Integration der BürgerInnen. Das heisst:  

- Jede Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge wird als Anomalie und Abweichung gewertet, die nur durch Arbeit und Ehe korrigiert werden kann; 

- die Sozialhilfe schafft „schädliche“ und „unwürdige“ Abhängigkeiten; 

- Hauptmittel dieser Reintegration sind Not und (Arbeits-)Zwang, mit einem Wort:

Workfare as „a chance to come back – a chance to end the terrible, almost physical isolation of huge numbers of the poor people and the children from the rest of mainstream America.“ (Bill Clinton, 1996); 

- die Sozialhilfe muß von erziehenden und verhaltenssteuernde Maßnahmen begleitet werden, die auf den „Pfad der Tugend“ zurückhelfen – insbesondere dann, wenn es um minderjährige, alleinstehende Mütter (Welfare Queens) geht; 

- wer Sozialhilfe nimmt, muss sich zu einem „normalen Lebensstil“ verpflichtet fühlen. Normal heisst: Regelmäßige existenzsichernde Arbeit plus Familie plus ordentliches Verhalten; 

- entlang dieser Grundeinstellung entläuft die Grenze und Unterscheidung zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen. 

Der einflussreiche Soziologe Charles Murray hat in seinem Buch „Losing Ground (Harald and Phyllis)“ diese US-Gesellschaftsvorstellung extrem zugespitzt: Er fordert die Abschaffung aller staatlicher Hilfen - außer einer geringen Arbeitslosenversicherung.

Seine Begründung lautet: Das Sozialhilfesystem bewirkt dauerhafte Abhängigkeit und eine „Kultur der Armut“. Murray lehnt Workfare als Arbeitszwang ab. 

US-Mentalität 

Gut und „politisch-korrekt“ lebt, wer private Selbstsorge mit privater Vorsorge und Freiwilligenarbeit und Engagement für hilfebedürftige MitbürgerInnen durch Unterstützung privater gemeinnütziger Institutionen (Stiftungen, Armenfürsorge, Obdachlosenheime, Suppenküchen) verbindet. 

Sowohl die normsetzende Bevölkerungsmehrheit als auch die SozialhilfebezieherInnen haben die Norm „Arbeit, Ehe, Unabhängigkeit vom Staat“ verinnerlicht. Das Selbstbild der Armen entspricht der Norm.

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Regeln der US-Sozialhilfe nach dem Personal Responsibility and Work Opportunity Reconciliation Act“

(Clinton-Reform 1996: „To end welfare as we know it“) 

Die Clinton-Reform hebt den aus der Roosevelt-Ära stammenden bundesstaatlich garantierten und zeitlich unbegrenzten Rechtsanspruchs auf Sozialhilfe nach 60 Jahren Gültigkeit auf. Das Sozialhilfesystem wird dezentralisiert auf die Einzelstaaten. Die Folgeregelung TANF = Temporary Assistance for Needy Families wird auf die Ausgabenhöhe des Jahres 1994 gedeckelt. Die Hauptregeln lauten: 

Regel 1: Du sollst Dich privat gegen Krankheit versichern und für das Alter versorgen.

Mittel: Private Krankenversicherung (über Betriebe) – Vermögensbildung und private Rentenversicherungen über Pensionsfonds der Betriebe, grundabgesichert durch den Staat; 

Regel 2: Das System der sozialen Sicherung darf weder umfassend noch existenzsichernd sein; es muss Lücken enthalten, die zur Arbeitsaufnahme anspornen. 

Regel 3: Das System der Hilfen muss voll und ganz auf die Aufnahme von Lohnarbeit ausgerichtet sein und wird von zahlreichen zielführenden Unterstützungsmaßnahmen flankiert: 

-     Earned Income Tax Credit EICT ("Arbeitseinkommensteuergutschrift") = Lohnauffüllung = Form der Lohnsubvention, 1975 beschlossen; aktuell ist die EITC das größte Programm zur Armutsbekämpfung in den USA und findet dort breite Unterstützung. Kosten: 2002: ca. 48 Milliarden US-Dollar;

-     Aktive Arbeitsmarktpolitik plus Steuernachlässe für Arbeitgeber, die SozialhilfebezieherInnen einstellen;

-     Gewährleistung der Kinderbetreuung;

-     Gewährleistung der Krankenversicherung während des ersten Arbeitsjahres. 

Die Grundstruktur der zwei Säulen:

Säule 1: Private Sozialversicherung und

Säule 2: Steuerfinanzierte Notfallhilfen  

1. Säule private Versicherungsvorsorge: 

Krankenversicherung: 85 % der US-Bevölkerung sind privat oder staatlich krankenversichert. 

Kosten: Die Einwohner der Vereinigten Staaten gaben 2008 pro Kopf 7.536 $ für das Gesundheitssystem aus, das ist rund doppelt so viel wie in Deutschland (3.692 Int. $) oder Österreich (3.836 Int. $) und immer noch deutlich mehr als in der Schweiz (4.620 Int. $). Das US-Gesundheitssystem ist weltweit mit Abstand das teuerste. 

Knapp 60 % der Einwohnerschaft ist über Arbeitsgeber privat versichert: 9 % sind direkt privat versichert 28 % haben Anspruch auf staatliche KV-Leistungen 

15 % = 45 Millionen BürgerInnen haben keine Ansprüche: Von dieser Gruppe sind 56% zu arm, umsich eine KV leisten zu  können (aber nicht gänzlich arm); oder sie sind zu krank und werden nicht versichert.

25 % nehmen KV nicht Anspruch;

19 % lehnen die KV grundsätzlich ab, meist aus ideologischen Gründen;

Die Unversicherten tragen 30 Mia Dollar Krankenversorgungskosten selbst. 

Medicare ist innerhalb des US-Gesundheitssystems die öffentliche und bundesstaatliche Krankenversicherung für ältere oder behinderte Bürger. Medicare wurde am 30. Juli 1965 durch Zusätze zum Social Security Act in das Sozialversicherungssystem eingefügt und ist neben der Rentenversicherung die zweite bundesstaatliche Pflichtversicherung. Jeder Bürger ab dem Alter von 65 Jahren und unabhängig vom Lebensalter, jeder Bürger mit einer anerkannten Behinderung und jeder Bürger mit akutem Nierenversagen, die eine dauerhafte Dialyse oder eine Nierentransplantation erforderlich macht, können Medicare in Anspruch nehmen. 

Rentenversicherung - Social Security

Das US-amerikanische öffentliche Rentensystem ist das bedeutendste System sozialer Absicherung in den USA. Abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen ist jeder Arbeitnehmer sowie selbständig tätige Personen beitragspflichtig. 

Gegenwärtig zahlen Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils 6,2 Prozent des Bruttolohns des Arbeitnehmers in die Rentenkasse. Selbständige zahlen die vollen 12,4 Prozent allein. Auf Lohneinkommen, das die Bemessungsgrenze übersteigt, müssen keine Beiträge entrichtet werden. Die Bemessungsgrenze liegt gegenwärtig bei einem Jahreslohn von $ 94.200 (2005: $ 90.000). Der gegenwärtige Beitragssatz ist seit dem Ende der Achtziger Jahre stabil. Leistungen können mit Abschlag ab dem 62. Lebensjahr bezogen werden. Das Alter, ab dem volle Beiträge bezogen werden können, hängt vom Geburtsjahr ab. Für Bürger die 1960 oder später geboren wurden gilt die Altersgrenze von 67 Jahren.

Leistungen im Rentenalter: 7,5% bis 50 % des letzten Lohns. Je niedriger der Lohn, desto höher der Prozentsatz. Wegen des geringen Leistungsumfang für Normal- und Besserverdienende sind zusätzlich Pensionskassen erforderlich; 43 % der Erwerbstätigen sind zusätzlich über Pensionsfonds rentenversichert. 

Ein Pensionsfonds ist ein vom Arbeitgeber selbst organisatorisch ausgegliedertes Sondervermögen zum Zweck der Finanzierung der betrieblichen Altersversorgung der Mitarbeiter. In den USA wurde der erste Pensionsfonds eines Unternehmens von American Express im Jahr 1875 gegründet. Die Fonds verfügen über 3,2 Bio US-Dollar Anlagevermögen. 

Säule 2: Die vier größten bundesweiten Sozialhilfeprogramme: 

TANF = Temporary Assistance for Needy Families (ersetzt AFDC = Aid for Families with Dependent Children) 

TANF bezeichnet eine Überbrückungshilfe zur Integration in den Lohnarbeitsmarkt.

Die Hilfen für bedürftige Familien sind befristet: in der Regel 5 Jahre (u.U. kürzer oder länger)

Sie werden über gedeckelte Budgets finanziert – es besteht kein zeitlich- und finanziell-unbegrenzter Anspruch mehr. Nach zwei Jahren wird der Anspruch erst einmal generell gestrichen; der Restanspruch muss neu beantragt werden.  

Massive Sanktionen gegen „unwürdige“ SozialhilfebezieherInnen.

– insbesondere: Family Cap, d.h.: Eine Kindergeburt während des Bezugs führt zur Streichung   von TANF; die Folge sind Abtreibungen;

- Streichung von TANF bei Drogenabhängigkeit;

- Auflagen für unverheiratete minderjähriger Mütter (unter 18 J): Sie müssen im Heim leben   oder mit einem aufsichtsberechtigten Erwachsenen; dazu kommt der obligatorische   Schulbesuch.,

- Die Aufnahme von Erwerbsarbeit ist teilweise Voraussetzung des Bezugs. Das betrifft  Kinderlose oder Familien mit Kindern über 3(teilweise 6) Jahren. Die Arbeitszeit muss pro   Woche minimal 20 Stunden betragen;

- Teilweise wird TANF erst einmal bezahlt und muss nach 2 oder 6, 12 oder 36 Monaten    abgearbeitet werden.

- Teilweise werden 20 Stunden Arbeit in Praktika, Jobvorbereitungsprogrammen,

  Kinderbetreuung usw. verlangt; die obligatorischen 20 Stunden beginnen dann erst nach dieser   Basiszeit.

- alternativ kann auch die Teilnahme an staatlichen Ausbildungs-, Qualifizierungs-, Training-   und Arbeitserzwingungsmaßnahmen sowie gemeinnützige Arbeit anerkannt werden. 

SSI = Supplement Security Income = Mittel für bedürftige alte und behinderte Menschen. 

Supplement Nutrition Assistance Program (SNAP) = Food-Stamps-Programm = Lebensmittelhilfen für bedürftige Familien und Personen.

Das Programm heisst heute Electronic Benefit Transfer – EBT.

Im Nov 2010 nahmen an dem Programm 43 Millionen Personen teil. In NY und Washington ist ein Fünftel der Bevölkerung eingebunden; 2009 war jeder achte Erwachsene und jedes vierte Kind in den EBT eingebunden; die Lebensmittelhilfe wird in Höhe von 133,12 Dollar pro Person und Monat (Nov. 2010) ausbezahlt, und zwar mittels einer plastic debit card.  

Medicaid (Medical Assistance) ist ein Gesundheitsfürsorgeprogramm in den USA, das die Bundesstaaten organisieren und Bundesstaat und Bundesregierung paritätisch finanzieren. Die Mischfinanzierung ist so festgelegt, dass der Bund 50 bis 80 Prozent der Kosten in den einzelnen Bundesstaaten trägt, berechnet nach dem Pro-Kopf-Einkommen der Bundesstaaten. Insofern gibt es im Bereich von Medicaid arme und reiche Staaten. Zielgruppe sind Personenkreise mit geringem Einkommen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen. Das Programm wird weitgehend aus Steuermitteln betrieben. Der Erhalt von Leistungen ist an eine Bedürftigkeitsprüfung geknüpft.

Medicaid ist in den Staatshaushalten der meisten Bundesstaaten einer der größten Budgetposten, durchschnittlich ein Viertel der Ausgaben gehen in dieses Programm. Finanziert wird Medicaid durch Steuern des Bundes, der Einzelstaaten und der Gemeinden in den USA. 1994 nutzten 33,5 Mio. Bürger Medicaid und die Kosten der Bundesregierung betrugen 77,4 Milliarden US-Dollar, die der Bundesstaaten 58,2 Milliarden US-Dollar. Gemäß CMS versorgte das Medicaid-Programm im Jahr 2001 über 46 Millionen Bürger mit Gesundheitsdienstleistungen. 

Notnetz: Das Notnetz bezeichnet einen Notfallbehandlungsanspruch in Krankenhäusern (EMTALA-ACT). Es besteht kein Anspruch auf Nachsorge! Wer am Notnetz hängt, hat ein 25% höheres Risiko, an einer Krankheit zu sterben; man hat 45.000 Nichtversicherten-Todesfälle pro Jahr berechnet. Die EMTALA-Kosten betragen 56 Milliarden Dollar (2008); sie werden auf die Versicherten abgewälzt. Der Transfer beträgt ca. 920 Dollar pro Familie pro Jahr (2005); das führt zu Spannungen. 

Medicaid umfasst eine minimale Krankenversorgung für Arme. Drei Viertel der Aufwendungen für Sozialhilfe entfallen auf Medicaid! 

Kosten des Gesamtsystem = Sozialleistungsquote 

Die (Brutto-)Sozialleistungsquote bildet den prozentualen Anteil der Sozialhilfekosten am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ab.  

USA: Die Brutto-Sozialleistungsquote beträgt 15 % des US-BIP von 14,12 Billionen US-Dollar (2009)  und stellt sich somit auf 2,115 Bio US-Dollar.

Die EU hat im Durchschnitt eine Brutto-Sozialleistungsquote von ca 25 %; Schweden und Dänemark  kommen auf 33 %; Österreich auf 29 %; BRD 2003 auf 32,3 %, danach auf ca. 30 %, was 1,1 Bio US-Dollar (von 3,35 Bio Dollar BIP) entspricht; Ostdeutschland kommt auf eine Quote von ca. 50 % (2009).  

Die bereinigte Sozialquote 2005 umfasst die Netto-Sozialquote (da der Staat über Steuern und Abgaben Geld zurückholt):

Schweden kommt dann nur noch auf 30 % des BIP, Österreich: 24,8 % und die USA auf stolze 24,5 %, und zwar deshalb, weil die Sozialhilfe nicht besteuert wird; teilweise erfolgt sogar eine Umsatzsteuerbefreiung). 

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Der Grundeinkommensstaat als Alternative - am Beispiel der Republik Nauru 

Die Insel NAURU liegt in Ozeanien und ist mit einer Fläche von 21 qkm die kleinste Republik der Erde. Sie beherbergt 9.000 EinwohnerInnen. Ihr Reichtum besteht in „Bird shit“, das ist Guano plus Vogelskelette plus Korallen. Aus Bird shit entsteht Phosphat. 

Ab 1920 beutet die British Phosphate Company die Vorkommen aus.

1920 bekommt ein einheimischer Parzellen-Grundbesitzer 0,9 US-Cent pro Tonne Phosphat.

Noch 1948 bezahlt die Company nur 2 % der Gesamteinkünfte an die Grundstückseigentümer.

Die Zahlung soll Ausgleich für die Nutzung des Grundes sein und geht gemäß lokalem Brauchtum an die Familien. 

Die Schwerstarbeit in den Phosphatminen leisten chinesische Coolies (bei Temperaturen bis zu 40 Grad Celsius): „Die Einheimischen vergnügen sich viel lieber am Meer und bei Fischfang. Nach dem gemeinsamen Essen sitzen die Nauruer am Feuer.“ (27)

1948 studiert der erste Auslandsstudent (Herr Deroburt) 

1968 Unabhängigkeitserklärung 

1970 Verstaatlichung der Phosphatindustrie als Nauru Phosphate Corporation. Der Präsident führt das Staatsunternehmen. Die Gewinne fließen direkt in die Staatskasse und in einen Staatsfonds. 

Das Phosphat wird jetzt neben Chinesen auch von islanders abgebaut (von Bewohnern der umliegenden Inseln Tuvali und Kiribati). Die Chinesen arbeiten darüber hinaus auch in der Infrastruktur und im Handel und führen Restaurants, Supermärkte, Tankstellen. 

Die Nauruer arbeiten überhaupt nicht mehr, viele sind bei der Regierung pro forma angestellt. Es gibt z.B. eine Polizei, die niemand braucht. 

Jeder Bürger genießt die Früchte der Staatstätigkeit, und zwar sozusagen als Bodenaktionär: 1968 winkten pro Tonne Phosphat 65 Cent. Die Regierung zahlt „royalties“. = Lizenzgebühren bzw. Förderabgaben). Alle werden reich, einige sogar Millionäre. Nauru wird das reichste Land der Erde. 1970 beträgt das BIP 20.000 Dollar/Kopf. Man verdient ohne zu arbeiten.

1974 fließen 450 Mio australische Dollar in die Staatskassen (1 AUD = 0,73632 EUR) 

Der Staat macht alles, liefert alles, er kommt für alles auf und erhebt keine Steuern. Er sorgt für kostenlose Krankenversorgung in modernsten Kliniken, notfalls im Ausland plus Unterbringung in nauruanischen Villenvierteln. 

Auch der Strom und einige personenbezogene Dienstleistungen sind kostenlos; beispielsweise stellt der Staat kostenlose ausländische Putzfrauen. Bildung ist ebenfalls kostenlos; ebenso das Auslandsstudium. 

Die Nauruer leben in einem verschwenderischen Müßiggang und gehen –wenn überhaupt- ihren Hobbys nach, v.a. fischen, Golf spielen, Spazierenfahren mit ihren Autos und Familienfeste. Zum Beispiel lässt man sich beim Tanken bei laufendem Motor (von Chinesen) bedienen und auch noch ein Essen zum Mitnehmen bringen. Man fährt riesige Geländewagen, und zwar bis zu sieben Autos pro Familie. Pannenfahrzeuge werden nicht repariert, sondern einfach stehen gelassen. Das nächste neue Auto ist nämlich schon bestellt; eine Reparatur zu veranlassen wäre zu anstrengend. Autos, Fischerboote, Fernseher, Stereoanlagen - alles wird auf neuestem Stand gekauft, und die alten Geräte werden weggeworfen. Man reist ohne Ende und baut seine Häuser aus: „Sie stellten nichts mehr her. Sie reparierten nichts mehr, sie entsorgten und kauften es neu. Sie produzierten und kochten nicht mehr. Sie konsumierten.“ Dazu kommt Rumhocken und Videos gucken. 

Außenpolitisch wächst mit dem Wohlstand das Bedürfnis nach staatlicher Größe und regionaler Vormachtstellung. 

Die Folgen des grundeinkommensgestützten Lebensstils 

Übergewicht und Diabetes

„Sie stopften sich mit Fertiggerichten voll und bewegten sich nur noch im Range Rover fort.“

Statt die traditionelle einfache und ausgeglichene Ernährung greift nunmehr zuckerhaltige und fette Ernährung um sich. Niemand kocht mehr; alles wird von den Chinesen angeliefert.

Nauru hat schließlich die höchste Fettleibigkeitsquote der Welt: 78,5 % , also 4 von fünf NauruerInnen sind fettleibig. Das Durchschnittsgewicht der Männer beträgt 100 kg. 

50 % der Bevölkerung wurde und ist krank. Die Diabetes entwickelte sich längst zur Pandemie und senkt die durchschnittliche Lebenserwartung auf unter 50 Jahre.  

Bruch bei der Weitergabe der Kultur.

Die kulturelle Überlieferung war in kurzer Zeit komplett aus dem Gedächtnis gelöscht: „Sämtliche Traditionen, die abendlichen Feiern mit den einheimischen Tänzen – alles ist weg.“ Die Frauen können schließlich nicht mehr die typischen Kleidungsstücke nähen oder einfache Perlenketten herstellen. Statt auf die Feste zu gehen, blieben die Leute zu Hause und schauten sich ein Video nach dem anderen an.) 

„In den 80er-Jahren kochten ihre Eltern nicht, sondern holten sich mehrmals am Tag Essen beim Chinesen. Jede Woche schickte die Regierung eine Putzfrau, um die Häuser sauber zu machen.

„Die Trägheit führt dazu, dass die Leute sich Tiefkühlkost kaufen, für 100 Meter ihr Auto nehmen und Essen zum Mitnehmen bestellen.“ (113)

Folge: Man verlernt das Kochen. Die jungen Frauen müssen auswärts auf den Nachbarinseln lernen, wie man kocht, fegt, eine Küche sauber macht und Windeln wechselt. 

Nach Erschöpfung der zugänglichen, profitablen Phosphatvorkommen ist die Insel gänzlich verwüstet. 2005 war die Insel ein riesiger Schrottplatz.

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Summa 

Nauru hat an seine BürgerInnen das umfangreichst-denkbare bedingungslose Grundeinkommen bezahlt: Alles wurde in Überfülle zur Verfügung gestellt: Geld, kostenlose Dienstleistungen, dazu Steuerfreiheit, kostenlose Bildung im In- und Ausland, luxuriöse Krankenversorgung im In- und Ausland, Reisefreiheit, Konsumwahn. Keinerlei Gegenleistung wurde verlangt. Es bestand vor allem keine Arbeitspflicht. Bei erster Gelegenheit hörten die Nauruer auf zu arbeiten und ließen sich von ImmigrantInnen vollständig und rund um die Uhr bedienen. Viele gaben sogar ihre Hobbys auf. Mit dem Wohlstand kamen Machtgelüste gegenüber den Nachbarinseln.  

Nauru zeigt eindringlich, wohin ein bedingungsloses Grundeinkommen führt:

Zu einem hemmungslosen, absurd-anekelnden Müßiggang; zu völliger Entfähigung, extremer Verfettung, zu Verblödung, Entkulturalisierung, zu Barbarisierung, Diabetes und vorzeitigem Tod, zur umfassenden Ausbeutung seiner einwandernden Mitmenschen, zu Großmachtgehabe, zur hemmungslosen Ausbeutung der Natur; zur Zerstörung jeglicher Umwelt, ob Gewächs oder Getier. Übrig bleibt eine verwüstete Erde, bedeckt mit gigantischen Abfallhaufen. Übrig bleiben vorzeitig sterbende Menschen. 

Grundeinkommen in Namibia (Susanne Laudahn)

Diskussionen über das bedingungslose Grundeinkommen beschränken sich häufig auf die Situation in vergleichsweise wohlhabenden Industrienationen. Deshalb war es wichtig, von Susanne Laudahn über das Grundeinkommensprojekt in Namibia zu erfahren. In dem Namibia leben zwei Drittel der Bevölkerung in absoluter Armut (Einkommen unter 1 US-$ pro Tag). Viele haben keine andere Wahl, als als Tagelöhner für Großgrundbesitzer arbeiten zu müssen. Als Konsequenz einer langjährigen Diskussion zur effizienten Armutsbekämpfung forderten verschiedene Akteure (Kirchen, Gewerkschaften, NGOs, Unternehmen und Einzelpersonen) ein bedingungsloses Grundeinkommen (Basic Income Grant, BIG) und schlossen sich zur BIG-Koalition zusammen. Für ein zweijähriges Projekt wurde das besonders arme Dorf Otjivero ausgewählt. Die Folgen des - wenngleich sehr niedrigen - Grundeinkommens waren beträchtlich. Hoffnung und Stolz: Viele Begünstigte erfuhren erstmals, wie es sein könnte, das Leben selber zu bestimmen. Kräftige Belebung der Mikrowirtschaft, Gründung von Kleinstunternehmen, vor allem von Frauen; wie überhaupt die Rolle der Frauen gestärkt wurde. Regelmäßige Ernährung, die u.a. dafür notwendig ist, die HIV-Medikamente zu vertragen (20 % der Bevölkerung in Namibia ist mit HIV infiziert.) Trotz dieser sichtbaren Erfolge wurde das Projekt nach Ende 2009 gestoppt; Zahlungen in niedrigerer Höhe können ohne Übernahme durch die Regierung nur bis Ende 2011 fortgesetzt werden. Die Gegenargumente sind - unter Nichtachtung der Empirie in Otjivero - die üblichen. Man könne doch kein Geld an Menschen verteilen, die nichts tun. Das BIG sei eine paternalistische Art der Armutsbekämpfung, die die Menschen wie Kinder behandle, sie in Abhängigkeit halte und daran hindere, aktiv zu werden.

Der Bericht über Namibia war erfreulicher Weise ein heilsamer Kontrast zu dem bizarren Grundeinkommensstaat Nauru. Nauru kann keinesfalls als Modell für das als universalistisch konzipierte bedingungslose Grundeinkommen verstanden werden: Grundeinkommensgesicherte Staatsangehörige lassen sich von nicht-anspruchsberechtigten Nicht-Staatsangehörigen die Arbeit machen; ähnlich wie in manchen Erdöl-Golfstaaten. Insofern ist (aus Sicht von Robert Ulmer) das Nauru-Beispiel als Argument gegen das bedingungslose Grundeinkommen von eher geringer Bedeutung.


"Was tun, wenn ich nicht im Sinne des Systems funktionieren will?"
am 8./9.7.2011
 

Anti-Zwangspsychiatrie und Widerstandsformen (Alice Halmi, Irrenoffensive) 

Eingeleitet wurde der Abend durch Durch Filmausschnitte zum 25-jährigen Geburtstag der Irren-Offensive. Alice Halmi führte uns durch die Gesetzeswerke, die Menschen mit psychiatrischem Zwang bedrohen: Psych-Kgs, Betreuungsrecht und Maßregelvollzug. Entgegen der UN-Behindertenrechtskonvention können in der BRD Menschen noch immer gegen Ihren Willen psychiatrisch behandelt werden.

Frau Halmi erläuterte ausführlich die patverfüg (Patientenverfügung). Der Vortrag wurde schon zu Beginn durch lebhafte Beiträge aus dem Publikum unterbrochen. Über 30 Menschen hörten geduldig zu bis die Veranstaltung gegen 22 Uhr30 endete.

Auch die letzten Zweifel am Funktionieren der patverfüg wurden gründlich beleuchtet. 

Armut und Psychiatrisierung (Anne Seeck)  

Die Referentin stellte u.a. Studien von Ernst von Kardoff vor.

Ernst von Kardorff weist in seinem Artikel ”Zur Diskriminierung psychisch kranker Menschen” auf die schwierige bzw. unbefriedigende Datenlage hin. Er schreibt:

Ein erster Blick in die unbefriedigende Datenlage zeigt, dass psychisch kranke Menschen im Vergleich mit der Normalbevölkerung

- häufig niedrigere Arbeitseinkommen haben;

- ein doppelt so hohes Risiko aufweisen, den Arbeitsplatz zu verlieren;

- eine fast doppelt so hohe Erwerbslosigkeit aufweisen;

- ein dreimal so hohes Risiko haben, verschuldet zu sein;

- häufiger Mietrückstände haben;

- sich eher in prekären sozialen Lagen befinden oder an der Armutsgrenze leben;

- eine erhebliche Zahl von Obdachlosigkeit betroffen ist....

Erwachsene mit chronischen Verläufen psychischer Krankheiten sind nur in geringem Umfang voll erwerbstätig. Für Deutschland geht Hoffmann von folgenden Zahlen aus:

- 43 % sind aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, davon sind ca. 16,5% Langzeiterwerbslose (ALG II-Empfänger), ca. 12,5% erhalten Sozialhilfe bzw. Sozialgeld, ca. 14% beziehen Erwerbsunfähigkeitsrente;

- nur ca. 5,6 % (!) der psychisch Kranken sind vollbeschäftigt;

- ca. 6,5% sind teilzeitbeschäftigt;

- ca. 20% haben einen geschützten Arbeitsplatz;

- ca. 5% befinden sich in Maßnahmen der Beruflichen Rehabilitation.

Diese Ergebnisse zeigen, welchen Risiken psychisch Kranke in der vorrangig an Effizienz, Leistung und Perfektion orientierten modernen Arbeitsgesellschaft ausgesetzt sind...

Die Lebenssituation vieler psychisch kranker Menschen mit chronifizierten Störungen ist durch ein Leben am Armutsrand und durch Abhängigkeit von Institutionen gekennzeichnet.”

In allen Industrienationen nehmen die psychischen Erkrankungen zu. Seit 1985 hat sich der Anteil seelischer Erkrankungen an Frühberentungen in Deutschland auf 29,2% fast verdreifacht, bei Frauen ist der Anteil um 35,4% gestiegen. Von 1997-2001 hat die Zahl der AU-Tage wegen seelischer Erkrankung um mehr als 50% zugenommen. Nach einem Krankenhausaufenthalt gelten 15% als nicht arbeitsfähig, 44% als beschränkt arbeitsfähig und 33% als voll arbeitsfähig.

Es gibt zwei Tendenzen:

·     psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt nehmen zu

·     Erwerbslose haben ein höheres Risiko psychisch zu erkranken

Psychiatriebetroffene treffen auf einen angespannten Arbeitsmarkt, wo hohe Belastbarkeit und Flexibilität notwendig sind, Zeitdruck, Arbeitsverdichtung, Prekarisierung und Konkurrenzdenken herrschen, oft wird Selbständigkeit und Risikobereitschaft verlangt. Die einfachen und Hilfstätigkeiten nehmen ab, (hoch-) qualifizierte Tätigkeiten nehmen zu.

Viele Psychiatriebetroffene leben am Armutsrand. Besonders die Stigmatisierung und Diskriminierung sind Barrieren für den Zugang zum Arbeitsmarkt. Psychiatriebetroffe ziehen sich auch wegen fehlenden Erfolgen, z.B. in Endlos- Maßnahmen- Schleifen aus dem Arbeitsmarkt zurück.

2006 gab es in Deutschland mehr als 700 Integrationsfirmen mit ca. 5 100 schwerbehinderten MitarbeiterInnen, die in der Industriedienstleistung, Hotel- und Gastättengewerbe, Handwerk, Hauswirtschaft, Handel, Büro, Gartenbau und personenbezogenen Dienstleistungen arbeiten. (also meistens keine intellektuellen Tätigkeiten) In den Werkstätten arbeiten 80% der Behinderten. (ca.20 000)

Viele Psychiatrieerfahrene würden den Arbeitsmarkt nicht als gewünschte und realistische Perspektiven ansehen. Häufig würden sie auch die “als ob” Beschäftigungen in Endlosschleifen ablehnen. Sie wollen sich auch nicht mit einem ambulanten Ghetto der Psychiatrieszene in Tagesstätten und Treffpunkten abfinden.

Daher biete sich freiwilliges bürgerschaftliches Engagement an. Perspektive sei Reproduktions-, Sorge- und "Bürger"arbeit. (so z.B. das Betreiben von Stadtteilcafes, Läden und Treffpunkten)

Arbeitslose Psychiatriebetroffene sind mit den Ämtern, z.B. dem Jobcenter und dem aktivierenden Sozialstaat konfrontiert. Das bedeutet:

     -     Keine Leistung ohne Gegenleistung

·     Der Staat investiert in die Produktivität seiner Bürger, er fordert Eigenverantwortung und Eigeninitiative

·     Das entscheidende Ziel der Aktivierung ist die Beschäftigungsfähigkeit

·     Misserfolge und gesellschaftliche Marginalisierung seien selbstverschuldet

·     Mittel der Aktivierung sind Schuldzuweisungen und Sanktionen

·     Aktivierung und Eigenverantwortung gilt für alle gesellschaftlichen Bereiche 

Keine/r geht allein zum Amtsarzt (Anne Allex)  

Der Runde Tisch der Erwerbslosen verfaßte 2010 ein Flugblatt zu der Thematik. Anlaß war, dass seit 2005 immer mehr Erwerbslose zu psychologischen Gutachten eingeladen werden, vor allem im Rahmen eines Profilings, eines Maßnahmeabbruchs und eines Umzuges. Mit Hilfe von Katja Kipping der Linkspartei gelang es Anne Allex mittels einer kleinen Anfrage mit 44 Fragen viel Material zu sammeln. Oftmals wird der psychologische Dienst durch die persönlichen Ansprechpartner in den Jobcentern eingeschaltet. Ziel ist die Feststellung der Erwerbsfähigkeit. (wieviel Arbeitszeit, Belastbarkeit) Wer nur weniger als 3 Stunden arbeiten kann, bekommt EU-Rente, Sozialhilfe, Grundsicherung. Das ist meistens nur für drei Jahre befristet. Auch diese Menschen sollen wieder für den Arbeitsmarkt fit gemacht werden, z.B. mittels Eingliederungshilfen. So wurden die Zahl der Stellen in Schwerbehindertenwerkstätten enorm ausgebaut. Es wird alles getan, um Arbeitgeber vor Mindestleister, Verhaltensauffällige und Nichtanpassungsfähige zu schützen.

Einige Zahlen: 2006 wurde 33 490 x der psychologische Dienst der Jobcenter beauftragt, 2010 waren es bereits 63 877. In Berlin-Brandenburg waren es 2006 3802, 2010 bereits 7599. Viele wurden vom SGB II ins SGB XII übernommen, 2009 waren es 55 224. (aus psychologischen und medizinischen Gründen) 

Um sich zu schützen, sollte man nicht leichtfertig zu den Gutachtern gehen. Zunächst sollte man prüfen, ob ein Grund angegeben ist, dann kann man einen Widerspruch schreiben, dass das nicht begründet ist. Man sollte mit anderen darüber reden. Wenn man das nicht abwenden kann, sollte man 1-2 Beistände zu den Gutachtern mitnehmen. Man hat ein Recht darauf. Man sollte auch keine Schweigepflichtentbindungen unterschreiben.