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Archiv für die Geschichte
des Sozialismus  und der Arbeiterbewegung

In Verbindung mit einer Reihe namhafter Fachmänner aller Länder
herausgegeben von

Carl Grünberg

Band 01 / Leipzig 1911 / Verlag von C. L. Hirschfeld

 

Vorwort.

Die stetig fortschreitende Spezialisierung auch der sozialwissenschaftlichen Forschung macht es immer schwieriger, deren Resultate zu übersehen, sich anzueignen und zusammenzufassen. Sie birgt so die Gefahr in sich, daß die Vorteile der Arbeitsteilung sich in ihr Gegenteil verkehren und daß die Arbeitsteilung zur Arbeitstrennung werde — eine Gefahr, die durch den notwendig internationalen Charakter der Sozialwissenschaften noch gesteigert erscheint. Schon diese Erwägung allein rechtfertigt und fordert die Begründung von Spezialzeitschriften. Als Sammelstellen des Zusammengehörigen und durch gleichzeitig scharfe Abgrenzung der verschiedenen Arbeitsgebiete erleichtern sie gleichermaßen schaffende wie rezeptive Tätigkeit, wirken anregend auf diese und jene und — das Wichtigste — schaffen erst die technische Voraussetzung für die Vereinigung des arbeitsteilig Gewonnenen, ohne die jede Arbeitsteilung nicht nur unfruchtbar bleiben, sondern geradezu schädlich wirken muß. Fachzeitschriften allgemeinen Charakters sind zu all dem, wie die tägliche Erfahrung lehrt, außerstande, auch wenn sie der Zahl und dem Umfange nach noch so sehr anschwellen. Bei der Vielheit und Mannigfaltigkeit ihrer Aufgaben wird ein Teil derselben notwendig vernachlässigt. Und es liegt in der Natur der Dinge, daß die von ihnen ausgehenden Anregungen zur Lösung anderer als der gerade im Vordergrunde stehenden Probleme sowie ihr synthetischer Einfluß gering und jedenfalls mehr zufälliger Art sind.

Bedarf es eines Beweises für diese Thesen? Niemals waren die besten Köpfe so sehr von historischem Geist erfüllt wie in unseren Tagen, niemals zuvor ist die historische Methode in Gesellschafts- und Wirtschaftslehre zu solcher Anerkennung gelangt.

Und doch hat man wohl keinen Widerspruch zu befürchten, wenn man feststellt, daß die Entwicklungsgeschichte der sozialwissenschaftlichen und volkswirtschaftlichen Gedankenreihen im Vergleich mit jener von Recht, Philosophie, Kunst und Literatur bisher ungebührlich vernachlässigt worden ist oder mindestens nicht jene Pflege gefunden hat, die ihrer Wichtigkeit entspricht. In besonders hohem Maße gilt dies von der Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung — wobei unter jenem sämtliche privateigentums-feindliche Lehren, unter dieser die Massenbewegungen zu deren Durchsetzung, aber auch solche mit dem Ziel bloß sozialer Re-formen im Rahmen der herrschenden Wirtschafts-, Gesellschaftsund Rechtsordnung verstanden sein mögen. Wie gering ist die pragmatische Kenntnis ihrer Wandlungen in Zeit und Raum, deren theoretischer Begründung und jeweiliger Funktionierung, ihres positiven und negativen Einflusses auf Volkswirtschaftslehre, Volkswirtschafts- und Sozialpolitik, Rechtsphilosophie und Staatslehre und umgekehrt ihrer Beeinflussung durch diese; des Wechsels in den Anschauungen über sie; der Ursachen schließlich von all dem!

Die Prüfung und Beantwortung der angedeuteten Fragen bietet nicht nur rein wissenschaftlich und namentlich für die Geschichte der politischen Ökonomie, sondern wohl auch praktisch-politisch das höchste Interesse. Ihnen wird sich die neue Zeitschrift widmen und dabei bemüht sein, ihrer Aufgabe entsprechend, internationalen Charakter beizubehalten.

Stofflich wird sie sich gliedern in:

I. Abhandlungen, deren Umfang in der Regel drei Druckbogen nicht übersteigen soll;

II. Urkundliches Material, und zwar ebensowohl handschriftliches wie älteres, bereits gedrucktes, das aber bereits vergriffen und allgemein unzugänglich geworden ist;

III. eine Chronik je des letzten Jahres, in welcher zunächst alle programmatisch bedeutungsvollen Beschlüsse sämtlicher Arbeiterparteitage mit dokumentarischer Genauigkeit registriert werden sollen, in weiterer Folge aber auch die sonstigen für die Entwicklung des Sozialismus und der Arbeiterbewegung wichtigen Geschehnisse;

IV. Referate und Literaturübersichten, in denen die bedeutsameren Erscheinungen auf dem Arbeitsgebiete des Archivs einzeln oder gruppenweise — streng sachlich und unter Vermeidung persönlicher Angriffe — gewürdigt werden sollen;

V. eine möglichst vollständige Bibliographie.

Das Archiv will weder einer bestimmten Weltauffassung noch einer besonderen wissenschaftlichen Richtung oder gar irgendeiner Parteimeinung dienen. Demgemäß wird denn auch keine Einheitlichkeit in den Anschauungen der Mitarbeiter untereinander und mit dem Herausgeber vorausgesetzt oder erstrebt. Wäre ja sogar bei einer solchen das erkenntniskritische und synthetische Ziel des neuen wissenschaftlichen Unternehmens überhaupt nicht erreichbar. Niemals und nirgends sind einseitige Urteile von Nutzen, am wenigsten aber so komplexen und vielgestaltigen Erscheinungen gegenüber wie der Sozialismus und die Arbeiterbewegung. Diese nach allen Seiten hin beleuchten, sie in ihren zeitlich und räumlich wechselnden Formen festhalten, sie ursächlich erklären und würdigen, bietet Schwierigkeiten, die um so weniger durch isolierte Arbeit einzelner bewältigt werden können, als absolute Unvoreingenommen!) eit den Problemen des wirtschaftlich und sozial Seinsollens gegenüber schlechthin undenkbar ist. Erst die Betrachtung des gleichen Gegenstandes durch viele und von vielen Seiten aus vermag uns bei solchen objektivem Urteil näher und nahe zu bringen.

Hieraus ergibt sich vor allem, daß der Herausgeber die Mitarbeit von Vertretern aller wissenschaftlichen Meinungsrichtungen erbittet und erhofft — ohne Rücksicht auf deren Gegensätzlichkeit und vielmehr gerade um dieser Gegensätzlichkeit willen: also gleichermaßen von Individualisten und Anarchisten wie von Sozia listen, von Konservativen wie von Radikalen, von Anhängern des Gedankens sozialer Reformen auf religiöser Grundlage wie von Gegnern einer solchen. Ihrer aller Arbeitsergebnisse sollen dem Archiv willkommen sein, wenn und soweit sie auf dem Wege exakt methodischer, von wissenschaftlichem Ernst getragener Forschung gewonnen sind und mit wissenschaftlicher Ruhe dargelegt werden: gleichgültig, ob der Herausgeber ihnen von seinem besonderen Standpunkt aus zuzustimmen vermag oder ob sie von den Schlußfolgerungen abweichen, zu denen etwa sonstige vorher im Archiv veröffentlichte Untersuchungen gelangt sind. Im Hinblick hierauf muß sich natürlich der Herausgeber das Recht vorbehalten, die gleichen Probleme neben- oder nacheinander von verschiedenen Mitarbeitern behandeln zu lassen, — ein Vorbehalt, der auch in betreff der kritischen Besprechung literarischer Erscheinungen Geltung hat. Für den Inhalt der einzelnen Beiträge sind ferner deren Verfasser allein verantwortlich, keiner unter diesen aber auch für mehr als seine eigenen Beiträge. Der Herausgeber selbst endlich will als solcher von vornherein seine Verantwortung auf die strenge Einhaltung des oben abgesteckten wissenschaftlichen Rahmens der Zeitschrift beschränkt wissen.

Das neue Organ hat, gleich nachdem sein Programm veröffentlicht worden ist, allüberall freundliche Zustimmung sowie zahlreiche und werktätige Teilnahme gefunden. Dies erfüllt die Gefertigten mit dankbarer Genugtuung und zuversichtlicher Hoffnung: als Beweis, daß das „Archiv" einem wirklichen wissenschaftlichen Bedürfnis entspringt, und als Bürgschaft zugleich, daß die Ziele, denen es zustrebt, auch werden erreicht werden.

Der Herausgeber.                                                         Die Verlagsbuchhandlung.