Zur Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie Anschauungsmaterialien und Quellen
Lenins Beitrag

11/09

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Der ökonomische Inhalt des Übergangs zum Kommunismus

„Die ganze Theorie von Marx ist eine Anwendung der Entwicklungstheorie - in ihrer konsequentesten, vollkommensten, durchdachtesten und inhaltsreichsten Form - auf den modernen Kapitalismus. Es ist nur natürlich, daß sich für Marx die Frage nach der Anwendung dieser Theorie auch auf den bevorstehenden Zusammenbruch des Kapitalismus und die künftige Entwicklung des künftigen Kommunismus erhob.
Auf Grund welcher Unterlagen aber kann die Frage nach der künftigen Entwicklung des künftigen Kommunismus aufgeworfen werden?
Auf Grund der Tatsache, daß er aus dem Kapitalismus hervorgeht, sich historisch aus dem Kapitalismus entwickelt, das Resultat der Wirkungen einer gesellschaftlichen Kraft ist, die der Kapitalismus erzeugt hat. Bei Marx findet sich auch nicht die Spur eines Versuchs, Utopien zu konstruieren, ins Blaue hinein Mutmaßungen anzustellen über das, was man nicht wissen kann. Marx stellt die Frage des Kommunismus so, wie der Naturforscher die Frage der Entwicklung einer neuen, sagen wir, biologischen Abart stellen würde, wenn man weiß, daß sie so und so entstanden ist und sich in der und der bestimmten Richtung modifiziert." (Staat und Revolution /August-September 1917, in: LW, Bd.25, S.471)

„Das erste, was durch die ganze Entwicklungstheorie, die ganze Wissenschaft überhaupt ganz genau festgestellt wurde, was die Utopisten vergaßen und die jetzigen Opportunisten, die sich vor der sozialistischen Revolution fürchten, vergessen, ist der Umstand, daß es geschichtlich zweifellos ein besonderes Stadium oder eine besondere Etappe des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus geben muß." (Ebenda, S.472f.)

„Die Produktionsmittel sind schon nicht mehr Privateigentum einzelner Personen. Die Produktionsmittel gehören der ganzen Gesellschaft. Jedes Mitglied der Gesellschaft leistet einen gewissen Teil gesellschaftlich notwendiger Arbeit und erhält von der Gesellschaft einen Schein darüber, daß es ein gewisses Quantum Arbeit geliefert hat. Auf diesen Schein erhält es ein entsprechendes Quantum Produkte aus den gesellschaftlichen Vorräten an Konsumtionsmitteln. Nach Abzug des Arbeitsquantums, das für die gemeinschaftlichen Fonds bestimmt ist, erhält jeder Arbeiter also von der Gesellschaft so viel zurück, wie er ihr gegeben hat. Es herrscht gewissermaßen ,Gleichheit'." (Ebenda, S. 479)

„Indes sind die einzelnen Menschen nicht gleich: Der eine iststärker, der andere schwächer; der eine ist verheiratet, der andere nicht; dereine hat mehr Kinder als der andere usw.
,Bei gleicher Arbeitsleistung', folgert Marx, ,und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, ungleich sein.'
Gerechtigkeit und Gleichheit kann also die erste Phase des Kommunismus noch nicht bringen: Unterschiede im Reichtum, und zwar ungerechte Unterschiede bleiben bestehen, unmöglich aber wird die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sein, denn es wird nicht mehr möglich sein, die Produktionsmittel, die Fabriken, Maschinen, den Grund und Boden usw., als Privateigentum an sich zu reißen. Marx zerschlägt die kleinbürgerliche, unklare Phrase Lassalles von ,Gleichheit' und Gerechtigkeit' schlechthin und zeigt dabei den Entwicklungsgang der kommunistischen Gesellschaft, die gezwungen ist, zunächst nur die »Ungerechtigkeit' zu beseitigen, daß die Produktionsmittel von einzelnen Personen angeeignet sind, und vorerst nicht imstande ist, mit einem Schlag auch die weitere Ungerechtigkeit zu beseitigen, die in der Verteilung der Konsumtionsmittel ,nach der Arbeitsleistung' (und nicht nach den Bedürfnissen) besteht." (Ebenda, S. 480)

„Bis die,höhere' Phase des Kommunismus eingetreten sein wird, fordern die Sozialisten die strengste Kontrolle seitens der Gesellschaft und seitens des Staates über das Maß der Arbeit und das Maß der Konsumtion, aber diese Kontrolle muß mit der Expropriation der Kapitalisten beginnen, mit der Kontrolle der Arbeiter über die Kapitalisten, und darf nicht von einem Beamtenstaat durchgeführt werden, sondern von dem Staat der bewaffneten Arbeiter." (Ebenda, S. 484)

„...der wissenschaftliche Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus ist klar. Was gewöhnlich als Sozialismus bezeichnet wird, nannte Marx die ,erste' oder niedere Phase der kommunistischen Gesellschaft. Insofern die Produktionsmittel Geme/neigentum werden, ist das Wort Kommunismus' auch hier anwendbar, wenn man nicht vergißt, daß es kein vollkommener Kommunismus ist. Die große Bedeutung der Erörterungen von Marx besteht darin, daß er auch hier konsequent die materialistische Dialektik, die Entwicklungslehre, anwendet, indem erden Kommunismus als etwas betrachtet, das sich aus dem Kapitalismus entwickelt. An Stelle scholastisch ausgeklügelter,,erdachter' Definitionen und fruchtloser Wortklaubereien (was Sozialismus, was Kommunismus sei) gibt Marx eine Analyse dessen, was man als Stufen der ökonomischen Reife des Kommunismus bezeichnen könnte.
In seiner ersten Phase, auf seiner ersten Stufe kann der Kommunismus ökonomisch noch nicht völlig reif, völlig frei von den Traditionen, von den Spuren des Kapitalismus sein. Daraus erklärt sich eine so interessante Erscheinung wie das Fortbestehen des ,engen bürgerlichen Rechtshorizonts' während der ersten Phase des Kqmmum'smus. Das bürgerliche Recht setzt natürlich in bezug auf die Verteilung der Konsumtionsmittel unvermeidlich auch den bürgerlichen Staat voraus, denn Recht ist nichts ohne einen Apparat, der imstande wäre, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen.
So ergibt sich, daß im Kommunismus nicht nur das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit fortbesteht, sondern sogar auch der bürgerliche Staat - ohne Bourgeoisie! Das mag paradox oder einfach als dialektisches Gedankenspiel erscheinen, wie das vielfach dem Marxismus von Leuten zum Vorwurf gemacht wird, die sich nicht im geringsten die Mühe genommen haben, seinen überaus tiefen Gehalt zu ergründen.
In Wirklichkeit zeigt uns doch das Leben auf Schritt und Tritt, sowohl in der Natur als auch in der Gesellschaft, Überreste des Alten im Neuen. Und Marx hat nicht willkürlich ein Stückchen »bürgerlichen' Rechts in den Kommunismus hineingebracht, sondern hat das genommen, was wirtschaftlich und politisch in einer aus dem Schoß des Kapitalismus hervorgehenden Gesellschaft unvermeidlich ist. Die Demokratie ist im Befreiungskampf der Arbeiterklasse gegen die Kapitalisten von gewaltiger Bedeutung. Die Demokratie ist aber durchaus keine unüberschreitbare Grenze, sondern lediglich eine der Etappen auf dem Wege vom Feudalismus zum Kapitalismus und vom Kapitalismus zum Kommunismus.
Demokratie bedeutet Gleichheit. Es ist begreiflich, welch große Bedeutung der Kampf des Proletariats um die Gleichheit und die Losung der Gleichheit haben, wenn man sie richtig, im Sinne der Aufhebung der Klassen auffaßt. Aber Demokratie bedeutet nur formale Gleichheit. Und sofort nach der Verwirklichung der Gleichheit aller Mitglieder der Gesellschaft in bezug auf den Besitz der Produktionsmittel, d. h. der Gleichheit der Arbeit, der Gleichheit des Arbeitslohnes, wird sich vor der Menschheit unvermeidlich die Frage erheben, wie sie von der formalen zur tatsächlichen Gleichheit, d. h. zur Verwirklichung des Satzes ,Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen' weiterschreiten soll. Welche Etappen die Menschheit auf dem Wege zu diesem höheren Ziel durchschreiten wird, welche praktischen Maßnahmen sie hierzu ergreifen wird, wissen wir nicht und können wir nicht wissen. Es ist aber wichtig, daß wir uns darüber klarwerden, wie grenzenlos verlogen die landläufige bürgerliche Vorstellung ist, der Sozialismus sei etwas Totes, Erstarrtes, ein für allemal Gegebenes, während in Wirklichkeit erst mit dem Sozialismus die rasche, wirkliche, wahrhafte Vorwärtsbewegung der Massen auf allen Gebieten des öffentlichen und persönlichen Lebens, zunächst unter Teilnahme der Mehrheit der Bevölkerung und später der gesamten Bevölkerung einsetzen wird." (Ebenda, S.485f.)

Editorische Anmerkungen

1978/79 erschienen in der DDR zwei Bände mit Anschauungsmaterialien zur "Geschichte der politischen Ökonomie des Marxismus-Leninismus", bearbeitet und zusammengestellt von Günter Fabiunke. Unbeschadet der darin enthaltenen Mängel stellen beide Bände ein lehrreiches Hilfsmittel zur selbständigen Aneignung der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie dar.

Günter Fabiunke, Geschichte der politischen Ökonomie des Marxismus-Leninismus, Band 1( 1978), Band 2 (1979), Berlin DDR

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