„Die ganze Theorie von Marx ist eine Anwendung der
Entwicklungstheorie - in ihrer konsequentesten, vollkommensten,
durchdachtesten und inhaltsreichsten Form - auf den modernen
Kapitalismus. Es ist nur natürlich, daß sich für
Marx die Frage nach der Anwendung dieser Theorie auch auf
den bevorstehenden Zusammenbruch des Kapitalismus und die
künftige Entwicklung des künftigen Kommunismus
erhob.
Auf Grund welcher Unterlagen aber kann die Frage nach der
künftigen Entwicklung des künftigen Kommunismus aufgeworfen
werden?
Auf Grund der Tatsache, daß er aus dem Kapitalismus
hervorgeht, sich historisch aus dem Kapitalismus entwickelt,
das Resultat der Wirkungen einer gesellschaftlichen Kraft ist,
die der Kapitalismus erzeugt hat. Bei Marx findet sich
auch nicht die Spur eines Versuchs, Utopien zu konstruieren, ins
Blaue hinein Mutmaßungen anzustellen über das, was man nicht
wissen kann. Marx stellt die Frage des Kommunismus so, wie der
Naturforscher die Frage der Entwicklung einer neuen, sagen wir,
biologischen Abart stellen würde, wenn man weiß, daß sie so und
so entstanden ist und sich in der und der bestimmten Richtung
modifiziert." (Staat und Revolution /August-September 1917, in:
LW, Bd.25, S.471)
„Das erste, was durch die ganze Entwicklungstheorie, die
ganze Wissenschaft überhaupt ganz genau festgestellt wurde, was
die Utopisten vergaßen und die jetzigen Opportunisten, die sich
vor der sozialistischen Revolution fürchten, vergessen, ist der
Umstand, daß es geschichtlich zweifellos ein besonderes Stadium
oder eine besondere Etappe des Übergangs vom Kapitalismus
zum Kommunismus geben muß." (Ebenda, S.472f.)
„Die Produktionsmittel sind schon nicht mehr Privateigentum
einzelner Personen. Die Produktionsmittel gehören der ganzen
Gesellschaft. Jedes Mitglied der Gesellschaft leistet einen
gewissen Teil gesellschaftlich notwendiger Arbeit und erhält von
der Gesellschaft einen Schein darüber, daß es ein gewisses
Quantum Arbeit geliefert hat. Auf diesen Schein erhält es ein
entsprechendes Quantum Produkte aus den gesellschaftlichen
Vorräten an Konsumtionsmitteln. Nach Abzug des Arbeitsquantums,
das für die gemeinschaftlichen Fonds bestimmt ist, erhält jeder
Arbeiter also von der Gesellschaft so viel zurück, wie er ihr
gegeben hat. Es herrscht gewissermaßen ,Gleichheit'." (Ebenda,
S. 479)
„Indes sind die einzelnen Menschen nicht gleich: Der eine
iststärker, der andere schwächer; der eine ist verheiratet, der
andere nicht; dereine hat mehr Kinder als der andere usw.
,Bei gleicher Arbeitsleistung', folgert Marx, ,und daher
gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds
erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine
reicher als der andre etc. Um alle diese Mißstände
zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, ungleich
sein.'
Gerechtigkeit und Gleichheit kann also die erste Phase des
Kommunismus noch nicht bringen: Unterschiede im Reichtum, und
zwar ungerechte Unterschiede bleiben bestehen, unmöglich aber
wird die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sein,
denn es wird nicht mehr möglich sein, die Produktionsmittel,
die Fabriken, Maschinen, den Grund und Boden usw., als
Privateigentum an sich zu reißen. Marx zerschlägt die
kleinbürgerliche, unklare Phrase Lassalles von ,Gleichheit' und
Gerechtigkeit' schlechthin und zeigt dabei den
Entwicklungsgang der kommunistischen Gesellschaft, die
gezwungen ist, zunächst nur die »Ungerechtigkeit' zu
beseitigen, daß die Produktionsmittel von einzelnen Personen
angeeignet sind, und vorerst nicht imstande ist, mit
einem Schlag auch die weitere Ungerechtigkeit zu beseitigen, die
in der Verteilung der Konsumtionsmittel ,nach der
Arbeitsleistung' (und nicht nach den Bedürfnissen) besteht."
(Ebenda, S. 480)
„Bis die,höhere' Phase des Kommunismus eingetreten sein wird,
fordern die Sozialisten die strengste Kontrolle seitens
der Gesellschaft und seitens des Staates über das Maß der
Arbeit und das Maß der Konsumtion, aber diese Kontrolle muß mit
der Expropriation der Kapitalisten beginnen, mit der
Kontrolle der Arbeiter über die Kapitalisten, und darf nicht von
einem Beamtenstaat durchgeführt werden, sondern von dem Staat
der bewaffneten Arbeiter." (Ebenda, S. 484)
„...der wissenschaftliche Unterschied zwischen Sozialismus
und Kommunismus ist klar. Was gewöhnlich als Sozialismus
bezeichnet wird, nannte Marx die ,erste' oder niedere Phase der
kommunistischen Gesellschaft. Insofern die Produktionsmittel
Geme/neigentum werden, ist das Wort Kommunismus' auch hier
anwendbar, wenn man nicht vergißt, daß es kein
vollkommener Kommunismus ist. Die große Bedeutung der
Erörterungen von Marx besteht darin, daß er auch hier konsequent
die materialistische Dialektik, die Entwicklungslehre, anwendet,
indem erden Kommunismus als etwas betrachtet, das sich aus
dem Kapitalismus entwickelt. An Stelle scholastisch
ausgeklügelter,,erdachter' Definitionen und fruchtloser
Wortklaubereien (was Sozialismus, was Kommunismus sei) gibt Marx
eine Analyse dessen, was man als Stufen der ökonomischen Reife
des Kommunismus bezeichnen könnte.
In seiner ersten Phase, auf seiner ersten Stufe kann der
Kommunismus ökonomisch noch nicht völlig reif, völlig
frei von den Traditionen, von den Spuren
des Kapitalismus sein. Daraus erklärt sich eine so interessante
Erscheinung wie das Fortbestehen des ,engen bürgerlichen
Rechtshorizonts' während der ersten Phase des Kqmmum'smus. Das
bürgerliche Recht setzt natürlich in bezug auf die Verteilung
der Konsumtionsmittel unvermeidlich auch den
bürgerlichen Staat voraus, denn Recht ist nichts ohne einen
Apparat, der imstande wäre, die Einhaltung der Rechtsnormen zu
erzwingen.
So ergibt sich, daß im Kommunismus nicht nur das bürgerliche
Recht eine gewisse Zeit fortbesteht, sondern sogar auch der
bürgerliche Staat - ohne Bourgeoisie! Das mag paradox oder
einfach als dialektisches Gedankenspiel erscheinen, wie das
vielfach dem Marxismus von Leuten zum Vorwurf gemacht wird, die
sich nicht im geringsten die Mühe genommen haben, seinen überaus
tiefen Gehalt zu ergründen.
In Wirklichkeit zeigt uns doch das Leben auf Schritt und Tritt,
sowohl in der Natur als auch in der Gesellschaft, Überreste des
Alten im Neuen. Und Marx hat nicht willkürlich ein Stückchen
»bürgerlichen' Rechts in den Kommunismus hineingebracht, sondern
hat das genommen, was wirtschaftlich und politisch in einer aus
dem Schoß des Kapitalismus hervorgehenden Gesellschaft
unvermeidlich ist. Die Demokratie ist im Befreiungskampf der
Arbeiterklasse gegen die Kapitalisten von gewaltiger Bedeutung.
Die Demokratie ist aber durchaus keine unüberschreitbare Grenze,
sondern lediglich eine der Etappen auf dem Wege vom Feudalismus
zum Kapitalismus und vom Kapitalismus zum Kommunismus.
Demokratie bedeutet Gleichheit. Es ist begreiflich, welch große
Bedeutung der Kampf des Proletariats um die Gleichheit und die
Losung der Gleichheit haben, wenn man sie richtig, im Sinne der
Aufhebung der Klassen auffaßt. Aber Demokratie bedeutet
nur formale Gleichheit. Und sofort nach der
Verwirklichung der Gleichheit aller Mitglieder der Gesellschaft
in bezug auf den Besitz der Produktionsmittel, d. h. der
Gleichheit der Arbeit, der Gleichheit des Arbeitslohnes, wird
sich vor der Menschheit unvermeidlich die Frage erheben, wie sie
von der formalen zur tatsächlichen Gleichheit, d. h. zur
Verwirklichung des Satzes ,Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem
nach seinen Bedürfnissen' weiterschreiten soll. Welche Etappen
die Menschheit auf dem Wege zu diesem höheren Ziel
durchschreiten wird, welche praktischen Maßnahmen sie
hierzu ergreifen wird, wissen wir nicht und können wir nicht
wissen. Es ist aber wichtig, daß wir uns
darüber klarwerden, wie grenzenlos verlogen die landläufige
bürgerliche Vorstellung ist, der Sozialismus sei etwas Totes,
Erstarrtes, ein für allemal Gegebenes, während in Wirklichkeit
erst mit dem Sozialismus die rasche, wirkliche, wahrhafte
Vorwärtsbewegung der Massen auf allen Gebieten des öffentlichen
und persönlichen Lebens, zunächst unter Teilnahme der
Mehrheit der Bevölkerung und später der gesamten Bevölkerung
einsetzen wird." (Ebenda, S.485f.)
Editorische
Anmerkungen
1978/79
erschienen in der DDR zwei Bände mit Anschauungsmaterialien
zur "Geschichte der politischen Ökonomie des
Marxismus-Leninismus", bearbeitet und zusammengestellt von
Günter Fabiunke. Unbeschadet der darin enthaltenen Mängel
stellen beide Bände ein lehrreiches Hilfsmittel zur
selbständigen Aneignung der Marxschen Kritik der Politischen
Ökonomie dar.
Günter
Fabiunke, Geschichte der politischen Ökonomie des
Marxismus-Leninismus, Band 1( 1978), Band 2 (1979), Berlin
DDR
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