Bericht vom 23. Januar 2019
Unterschiedliche historische
Analogien werden derzeit bemüht, um zu versuchen, die
seit November vorigen Jahres aktive Protestbewegung
der „Gelben Westen“ einzuordnen. Viele geschichtliche
Vergleiche, die dabei angestellt werden, hinken.
In den Reihen der Protestierenden
selbst wurde wiederholt eine vermeintliche Parallele
zu 1789, also dem Beginn der
bürgerlich-demokratischen Revolution, oder zur sich
daraufhin entwickelnden Sansculotten-Bewegung – die
ihren Höhepunkt 1793 erreichte – gezogen. Der
Vergleich, auf den viele Symbole und Plakaten
anspielten, ist jedoch außerordentlich
schief, da die damalige Gesellschaftsordnung kaum
ernsthaft mit der derzeit bestehenden gleichzusetzen
ist. Lohnarbeit im heutigen Sinne war zu jener Zeit
nur rudimentär verbreitet, allenfalls in einigen
Manufakturen, von denen es damals in Frankreich noch
nur wenige gab. Die Sansculotten waren meist
selbständige kleine Gewerbetreibende, die weder einen
Kapiteleigentümer über sich noch Angestellte oder
lohnabhängige Arbeiter unter sich hatten, und bis zum
Koalitionsverbot 1791 in Zünften organisiert gewesen
waren. Diese sozioökonomische Situation kann kaum mit
jener der heutigen Gesellschaftsmehrheit verglichen
werden.
Es stellt sich die Frage, ob es
nicht wesentlich sinnvoller ist, die heutigen
Proteste mit einer anderen, zeitlich näher an der
unsrigen liegenden Periode zu vergleichen, und zwar
jener der Jahre 1934 bis 36. Diese begann mit relativ
diffusen Protesten, die durch Korruptionsskandale der
Dritten Republik ausgelöst, jedoch alsbald durch
rechte Kräfte kanalisiert werden, zu Anfang 1934. Sie
endete vorläufig mit den Reformen – im ursprünglichen
Sinne des Wortes, die eine Verbesserung der
Lebensverhältnisse der Mehrheit beinhaltet, und nicht
in der heutzutage neoliberal umfunktionierten
Bedeutung des Begriffs – der Linksregierung unter
Léon Blum im Jahr 1936.
Den Stein ins Rollen bringt damals
die „Stavisky-Affäre“. Am 09. Januar 1934 wird die
Leiche des Betrügers Alexandre Stavisky, der sich auf
Kosten der in öffentlicher Hand befindlichen Bank
Crédit municipal bereichert hatte, im
Wintersportort Chamonix in einer Berghütte
aufgefunden. Offiziell beging er Selbstmord, doch die
Presse mutmaßt
alsbald aus guten Gründen, in Wirklichkeit sei er aus
dem Weg geräumt worden: Mit seinem Wissen über
Hintergründe des Finanzskandals hätte er, falls er
ausgepackt hätte, Regierungspolitiker erheblich
belasten können. Die Opposition ruft in den kommenden
Wochen zum Protest auf – rechte Kräfte,
einflussreiche Veteranenverbände für Soldaten des
Ersten Weltkriegs, aber anfänglich auch die
Französische kommunistische Partei.
Den Protest nutzen alsbald rechte
Kräfte, die eine autoritäre Republik anstreben und
sich zum Teil vom „Vorbild“ des benachbarten
Mussolini-Italien fasziniert zeigen, um ihn gegen die
relativ schwachen Strukturen der Dritten Republik
(1870-1940) zu lenken. Zu ihnen zählen die
monarchistisch-nationalistische und antisemitische
Action française unter Charles Maurras und die
vor allem von Weltkriegsveteranen gebildeten Croix
de feu („Feuerkreuze“) unter Oberst François de
La Rocque. Letztere werden später zu einer
politischen Partei unter der Bezeichnung Parti
social français (PSF, „Französische soziale
Partei“, ab 1936) umgewandelt werden.
Am 06. Februar 1934 findet eine
massive Protestdemonstration statt, welche durch die
autoritären Kräfte zum Versuch umfunktioniert wird,
das Parlament zu stürmen und die Republik zu stürzen.
Auf der Seinebrücke, die den riesigen Concorde-Platz
auf Nord- und die Nationalversammlung auf der
Südseite des Flusses miteinander verbindet, wird die
Attacke durch Polizei und Gendarmerie abgewehrt. Die
Zusammenstöße
fordern 17 Tote und 2.300 Verletzte.
Dieses Ereignis, das als
„Putschversuch von rechts“ im historischen Gedächtnis
der Linken und Liberalen blieb, nachdem im Vorfeld
allerdings unterschiedliche Kräfte zum Protest
aufgerufen hatten, muss berücksichtigt werden,
betrachtet man sich die Interpretation der jüngeren
Ereignisse durch Teile der französischen Linken. Die
Befürchtung, rechtsextreme Kräfte könnten sich einen
sozioökomischen Protest zunutze machen und für andere
Zwecke instrumentalisieren, saß
tief, als die ersten Reaktionen auf ihren Reihen auf
die frühen Anfänge der „Gelbwesten“-Proteste
erfolgten. Waren nicht auch dort explizit rechte
Kräfte beteiligt, erklärte nicht etwa Marine Le Pen
ab dem 25. Oktober ihre Unterstützung für die ab
Mitte November angekündigten Verkehrsblockaden?
Tatsächlich bildet die seitdem
aktive Protestbewegung eine heterogene Mischung aus
teilweise sehr unterschiedlichen sozialen und
politischen Milieus, bei dem politische Parteien
offiziell grundsätzlich außenvor
bleiben, zugleich aber als (externe) Unterstützer
wahrgenommen werden möchten, während ihre Mitglieder
an der Basis – ohne erkennbare Kennzeichen –
mitmischen. Dies gilt seit November nicht allein für
die extreme Rechte in Gestalt von Marine Le Pens
Rassemblement National (RN, „Nationale Sammlung“,
früher Front National), sondern etwa auch auf der
Linken für Jean-Luc Mélenchons Wahlbewegung La
France insoumise (LFI, „Das unbeugsame
Frankreich“).
Die erste Reaktion von
CGT-Generalsekretär Philippe Martinez von Anfang
November – „Dort, wo der RN präsent ist, kann die CGT
nicht demonstriert“ – wurzelt unter anderem auch in
dieser Situation. Eine Gegenthese innerhalb der
Linken und der Gewerkschaften lautete schon früh, man
dürfe den Rechten nicht das Monopol auf den Protest
überlassen und dadurch alle Unzufriedenen in die Arme
treiben. Wie immer man dazu stehen mag, ein wichtiger
Unterschied zu 1934 besteht zweifellos in der
organisatorischen Stärke der extremen Rechten.
Veteranenverbände vormaliger Frontsoldaten umfassten
damals Hunderttausende Mitglieder und organisierten
einen bedeutenden Teil deren sozialen Alltagslebens.
Heute bildet der RN vor allem eine Wahlpartei mit
rund 50.000 Mitgliedern, jedoch außerhalb
von Wahlen und Institutionen vergleichsweise geringer
Verankerung.
In einer zweiten Phase reagiert
1934 die politische Linke auf den Schrecken, den die
Ereignisse vom 06. Februar auslösten, durch einen
Drang zur Einheit in einer antifaschistischen
Abwehrfront. Dieser Wille setze sich auch gegen die
Absichten der jeweiligen Parteiführungen durch – jene
der Französischen kommunistischen Partei etwa war bis
zu jenem Zeitpunkt noch der „Sozialfaschismus“these
der Komintern verhaftet, die kurze Zeit später über
Bord geworfen wird, und die Sozialdemokratie
behandelte die KP mittels Ausgrenzung. Am 12. Februar
finden zunächst getrennte Demonstrationszüge der
wichtigsten Linksparteien statt, die sich jedoch
unter dem spontanen Druck „von unten“, also aus der
Masse der TeilnehmerInnen, vereinigen.
Daraufhin unterzeichnen am 27.
Juli 1934 die Französische KP, die
sozialdemokratische SFIO sowie die „Radikalen“ –
antiklerikale Liberale – ein politisches Bündnis, das
offiziell Rassemblement populaire
(sinngemäß:
Bündnis der Unterklassen) heißt,
jedoch in der Bevölkerung alsbald nur noch als
Front populaire bezeichnet wird. Auf Deutsch
wird das grobschlächtig mit „Volksfront“ übersetzt,
wobei das zugrunde liegende Wort peuple
nicht mit dem deutschen Volksbegriff identisch ist,
sondern die subalternen Klassen bezeichnet.
Die Parteien dieser „Front der
Unterklassen“ gewinnen am 26. April und 03. Mai 1936
die Parlamentswahlen, wobei innerhalb der Linken vor
allem eine starke Stimmenverschiebung zugunsten der
KP (15,4 Prozent) zu verzeichnen ist. Entlassungen
von Arbeitern, die am 1. Mai – damals kein
gesetzlicher Feiertag – nicht in der Fabrik
erschienen waren, sondern den voraussichtlichen Sieg
feierten, führen zehn Tage später zum Beginn einer
massiven Streikwelle. Diese findet zwischen dem 09.
und 11. Juni 1936 ihren Höhepunkt. Bis zu zwei
Millionen Lohnabhängige streiken und besetzen ihre
Arbeitsstätten.
In der Folge setzt die
zwischenzeitlich aus der SFIO und den „Radikalen“,
unter Tolerierung durch die KP, gebildete
Linksregierung eine Reihe von Reformen um. Als
wichtigste davon im Gedächtnis blieb bis heute die
Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 48 auf 40
Stunden sowie die Einführung von bezahltem Urlaub,
den es bis dahin in der französischen Gesetzgebung
nicht gab. Übrigens zum Großteil
gegen den Willen der Apparate in den Linksparteien.
Teile der Sozialdemokratie hielten diese Maßnahmen
für „ökonomisch verantwortungslos“, und Teile der KP
– unter dem Einfluss des Produktivismus in der UdSSR
unter Stalin – meinten, es sei „kein Ziel der
Arbeiterklasse, für Faulenzerei bezahlt zu werden“.
Eine Übertragbarkeit auf die
heutige Situation besteht nur in engen Grenzen.
Vergleiche sind insofern möglich, als auch die
aktuelle Protestbewegung in Frankreich – die
allerdings nicht in Gänze im Lager der Linken steht –
außerhalb
jeglicher etablierter Organisationen, seien es
Parteien oder auch Gewerkschaften, entstanden ist.
Auch in diesem Winter trieben Protestierende die
Strukturen vor sich her; reagierte etwa die CGT
anfänglich mit erheblicher Skepsis auf die „Gelben
Westen“, so sind inzwischen viele ihrer Kreisverbände
Teil des Protests.
Allerdings besteht heute kein annähernd
vergleichbares Vertrauen in der Breite der
(lohnabhängigen) Bevölkerung in ein politisches
Projekt, das durch Linksparteien getragen würde, und
seine bevorstehende Verwirklichung. Dazu trugen neben
anderen Faktoren die vergangene Regierungsbeteiligung
solcher Parteien – wie der Sozialdemokratie (1981 bis
93, 1997 bis 2002, 2012 bis 17), aber auch der
Französischen KP (1981 bis 84, 1997 bis 2002) -, aber
auch der internationale Systemumbruch von 1989 ff mit
bei. Auch zeigen sich die etablierten Linksparteien
derzeit, etwa in der Vorbereitung der
Europaparlamentswahlen, zersplittert und keineswegs
einig.
Auch die Linksregierung von 1936 endete übrigens mit
einer, zumindest teilweise niedrigen Niederlage der
Arbeiterbewegung. Premierminister Léon Blum
verkündete am 13. Februar 1937 eine „Reformpause“ und
reichte am darauffolgenden 21. Juni einen Rücktritt
ein. Obwohl es bis zur deutschen Besetzung 1940 nicht
zu Neuwahlen kam, also dieselben Abgeordneten wie zu
Beginn der Linksregierung das Parlament bildeten,
wurde wenig später ein regressiver Kurs gesteuert: Im
September 1938 folgte das Münchener Abkommen mit
Hitlerdeutschland, im November die Rückkehr zur
48-Stunden-Woche. Den Weg zu nachhaltiger
Gesellschaftsveränderung, ja Systemtransformation
gilt es nach wie vor zu finden.
Erstveröffentlicht in der Tageszeitung N eues
Deutschland am 23. Januar 2019 |