B. Schmid: "Gelbwesten-Chronik"

Wiederaufflammen der Protestbewegung kurz nach Beginn des neuen Jahres 2019

Bericht vom 10. Januar 2019

Neues Jahr, neue Ruhe? So hatte die französische Regierung sich dies erhofft. Seit den letzten Demonstrationen der „Gelben Westen“ am 22. und 29. Dezember #8 hatte es zunächst tatsächlich so ausgehen, als befinde die Protestbewegung sich möglicherweise am Abflauen. Zur Sylvesternacht hatten Aufrufe kursiert, in gelbe Westen gekleidet auf die Feiermeile auf den Pariser Champs-Elysées zu kommen und dort – unter den Kameraobjektiven aus dem In-und Ausland – lautstark „Macron, Rücktritt!“ zu fordern. Letztendlich schlossen sich dieser Aufforderung jedoch nur rund 200 Menschen an, so viele kamen jedenfalls mitsamt gelbem Kleidungsstück durch die Absperrungen und Polizeikontrollen. Zwischen 250.000 Feiernden gingen sie vollständig unter.

Doch am darauffolgenden Samstag, den 05.01.19 war sie wieder da, die Protestbewegung. Laut Regierungsangaben, deren Zahlen einmal mehr untertrieben sein könnten, demonstrierten an diesem 05. Januar d.J. landesweit erneut 50.000 Menschen im Zeichen der Proteste, deutlich mehr als an den letzten vorausgehenden Aktionstagen. Die Pariser Demonstration mit rund 5.000 Menschen war dabei, sofern man es an mehr oder mehr bekannten Gesichtern, aber auch mitgeführten Aufklebern – erstmals gab es vereinheitlichte Slogans wie „Gleichheit“ und „Revolte“ – ablesen konnte, relativ stark durch die linke Komponente der heterogenen Protestbewegung geprägt.

An ihrem Rande kam es zu einigen spektakulären Zwischenfällen. Am späten Samstag Nachmittag befand sich der amtierende Regierungssprecher und „Minister für Beziehungen zum Parlament“ – dies entspräche in Deutschland ungefähr einem Kanzleramtsminister -, Benjamin Griveaux, auf der Flucht. Fünfzehn bis zwanzig Gelbwestenträger hatten es geschafft, bis zu seinem Ministerium zu gelangen, nachdem Polizeikräfte wohl von dort abgezogen und andernorts eingesetzt worden waren. Dort klingelten sie an der Tür, ihnen wurde nicht geöffnet – doch dann holte einer der Beteiligten von einer nahe gelegenen Baustelle ein gabelstaplerähnliches Baufahrzeug heran und drückte selbige Tür ein. Der Minister ließ es nicht auf eine Diskussion ankommen.

Diese Aktion dürfte kaum von längerer Hand vorbereitet worden sein, zumal auf den Bildern sichtbar zu erkennen ist, dass die Mehrzahl der Beteiligten sich keine Mühe gegeben hatte, etwa ihre Gesichter zu verhüllen oder unkenntlich zu machen. Vielmehr dürfte die sich bietende Gelegenheit spontan den Auslöser gegeben haben. Aber zweifellos löste dieser Vorfall Regierungskreisen eine gewisse Verunsicherung aus.

Kurz zuvor kam es auf einer der Seinebrücken, die entlang der Strecke vom Pariser Rathaus zur Nationalversammlung liegen, zu Zusammenstößen mit dort konzentrierten Polizeikräften. Auf einer dieser Brücken prügelten zwar Polizisten auf jene, die dort den Fluss zu überqueren versuchten, ein, im selben Zeitraum schlug jedoch umgekehrt ein kurz darauf in der Öffentlichkeit nur noch als „der Boxer“ bezeichneter Mann seinerseits mehrere Beamte. Was zunächst den Anwesenden und Beobachterinnen wohl nicht klar war, die den Bezug auf die Sportart eher ironisch benutzten – es handelte sich tatsächlich um einen früheren Profiboxer, den ehemaligen Landesmeister Christophe Dettinger.

Am Montag mittag stellte er sich selbst der Polizei, nachdem er kurz zuvor ein Video im Internet hochlud, indem er sein Auftreten erklärt und das innerhalb von Stunden 125.000 mal gesehen wurde. Er unterstütze die Protestbewegung und sei über die Polizeigewalt, die er zuvor bei anderen Angelegenheiten habe mitansehen müssen, empört. Ansonsten sei er „weder linksradikal noch rechtsradikal“, er liebe sein Land und sei stolz auf Frankreich, doch dessen politische Klasse – vom Kapitalverhältnis sprach er nicht – sei für zu viel soziale Ungerechtigkeiten verantwortlich. Der französische Boxverband distanzierte sich eigens von ihm, während sein früherer Trainer sich in einem Interview vor ihn stellte. Eine Spendensammlung in sozialen Medien für seine voraussichtlichen Prozesskosten, die am Montag begann, trug innerhalb eines Tages 85.000 Euro ein.

Aus dem südostfranzösischen Toulon wiederum kamen Bilder, auf denen man einen prügelnden Polizeioffizier sieht, dem noch kurz zuvor eine berufliche Auszeichnung verliehen worden war. Er versuchte sich zunächst damit zu rechtfertigen, dass er behauptete, auf den Bildern sei nicht die Gänze der Szene zu sehen – er habe einen Protestteilnehmer, der einen abgeschlagenen Flaschenhals als gefährliche Waffe bei sich geführt habe, in Schach halten müssen. Dafür gibt es jedoch keinen Beweis. Später stellte sich heraus, dass der fragliche Polizist bereits in jüngerer Vergangenheit wegen gewaltförmigen Fehlverhaltens im Dienst sanktioniert disziplinarrechtlich belangt worden ist. Dadurch sieht die Sache nicht besonders gut für seine Dienststelle aus. Die IGPN – eine Dienstaufsichtsbehörde, die Fälle von Polizeiversagen und -gewalt zu untersuchen hat - wurde diesbezüglich eingeschaltet.

Am Montag Abend kündigte Premierminister Edouard Philippe eine Verschärfung der sicherheitspolitischen Antwort des Regierungslagers auf solche eskalierenden Protestformen an. Am kommenden Samstag sollen in Paris erneut Panzerfahrzeuge, wie zuletzt am 08. Dezember, anlässlich des dann erwarteten „Akt 9“ der Gelbwestenbewegung eingesetzt werden. Allerdings ruft ein Teil der Sprecher der Protestbewegung dazu auf, an dem Tag im zentral gelegenen Bourges zu demonstrieren und aus dem ganzen Land dorthin zu fahren.

Ferner stellte Philippe einen Gesetzentwurf in Aussicht, mit dem systematische Strafverfolgungen gegen die Veranstalterinnen, aber auch die Teilnehmer von unangemeldeten Demonstrationen ermöglicht werden sollen.

In den ersten Januartagen entspann sich unterdessen eine Debatte um den rechten Einfluss, den es jedenfalls in einer der Komponenten der divers zusammengesetzten Protestbewegung auch gibt. Im Mittelpunkt stand dabei zeitweilig der 35jährige LKW-Fahrer Eric Drouet, mittlerweile einer der bekanntesten Köpfe. Er verbreitete etwa im Frühsommer 2018 im Internet mehrfach einwanderungsfeindliche Kommentare.

Anfang Januar 19 entspann sich eine breite öffentliche Polemik um seine Positionen: Zunächst hatte der Linksnationalist und Linkssozialdemokrat Jean-Luc Mélenchon sich am 02. Januar positiv auf ihn bezogen und erklärt, von ihm (Drouet) „fasziniert“ zu sein. Daraufhin behauptete der prominente bürgerliche Fernsehjournalist Jean-Michel Aphatie, Eric Drouet sei 2017 ein bekennender Wähler von Marine Le Pen „in beiden Durchgängen der Präsidentschaftswahl“ gewesen. Dies habe er mehrfach in den sozialen Medien gelesen, fügte er auf Nachfragen später hinzu. Allerdings dementierte Drouet alsbald, und zwei Tage später behauptete der Sender BFM TV, er habe 2017 angeblich vielmehr Mélenchon gewählt (– was wiederum zutreffen mag oder auch nachträglich konstruiert sein kann, um nicht in eine „rechte Ecke“ gedrängt zu werden, und/oder um sich für das öffentliche Lob Mélenchons zu revanchieren.

Unterdessen gehen Medienkommentare etwa beim liberalen Wochenmagazin L’Express davon aus, Aphathie habe eventuell Drouet und eine andere Sprecherfigur der Bewegung, den 31jährigen Leitarbeiter Maxime Nicolle alias „Fly Rider“, miteinander verwechselt. Was Nicolle betrifft, so ist auch dessen persönliches Wahlverhalten nicht bekannt, doch ist gesichert, dass er bei Facebook wiederholt Pressemitteilungen von Marine Le Pen mit einem „Like“-Kommentar versah. Maxime Nicolle trat auch wiederholt als Liebhaber von Verschwörungstheorien hervor; er verbreitete etwa nach dem jihadistischen Attentat von Strasbourg vom 11. Dezember 18 den (infolge von Kritik wieder gelöschten) Kommentar, es handele sich um eine „false flagg“-Aktion der Regierung. Überdies verbreitete er bei Facebook abstruse Ankündigungen von Plänen für einen „Dritten Weltkrieg“.

Neben Drouet und Nicolle zählt allerdings auch etwa die schwarze Karibikfranzösin Priscillia Ludosky, eine 39jährige Therapeutin, zu den bekannteren Gallionsfiguren der Protestbewegung. Sie war politisch zuvor ein unbeschriebenes Blatt, hat allerdings ein eher progressives und jedenfalls nicht rassistisches Profil. Aufgrund eines 14tägigen USA-Aufenthalts Anfang Dezember verlor sie zwar zeitweilig de faco ihren Status als führende Exponentin der Bewegung, bei der Pariser Demonstration am vergangenen Samstag nahm sie jedoch eine zentrale Position ein und hielt auch eine der Abschlussreden vor dem Rathaus der Hauptstadt. Drouet wiederum war nicht vor Ort.

Die Darstellung der Proteste als insgesamt rechts geprägt – was so nicht zutrifft – entwickelte sich unterdessen, vor allem seit dem Jahreswechsel zum Argument für einen Teil der bürgerlichen Mitte in Medien und im Regierungslager, um die „Gelbe Westen“-Bewegung insgesamt zu diskreditieren. Ein weiterer, mit Bestimmtheit negativer Nebenaspekt dieser Polarisierungsstrategie besteht darin, dass die extreme Rechte dadurch in vieler Menschen Augen zur „wichtigen und für die Regierung gefährlichen Oppositionskraft“ aufgewertet wird.

Erstveröffentlicht  in der Wochenzeitung Jungle World vom 10. Januar 2019