Bericht vom 20. Dezember 2018
Attentat im
ostfranzösischen Strasbourg und rechte politische
Manöver
Nicht die allerbeste, wohl aber
die amüsanteste Erklärung für den Ausbruch und den
Fortgang der Proteste, die in Frankreich in den
letzten vier Wochen im Tragen gelber Warnwesten ein
Symbol fanden, fand der Fraktionsvorsitzende der
Regierungspartei La République en marche (LREM) in
der Parise rNationalversammlung. Gilles Le Gendre gab
am Montag, den 17. Dezember 18 in der
Wirtschaftszeitung Les Echos folgende
Selbstkritik aus Sicht des Regierungslagers zum
Besten: „Wir waren zu intelligent. Zu subtil,
zu technisch, bei unseren Maßnahmen zur Kaufkraft.“
Ferner habe man „nicht genug erklärt“.
Es ist ja hinlänglich bekannt, dass die Bevölkerung
zu dumm ist, Wohltaten ohne gute Erklärung zu
verstehen, und die Fehltritte der Regierung deswegen
beim Thema „Pädagogik“ - wie es in anderem
Zusammenhang oft hieß – zu suchen sein müssen.
„Auch
zu bescheiden“ sei man im Kabinett wohl
gewesen, fügte der sozialdemokratische
Fraktionsvorsitzende Olivier Faure am Montag, den
17.12.18 sarkastisch hinzu. Doch seitens der nach wie
vor heterogen zusammengesetzten Protestbewegung auf
der Straße schien man über diese, aber auch andere
Reaktionen des Regierungslagers in Wirklichkeit eher
erzürnt als belustigt. Aufrufe zu einem „Akt Sechs“ -
also einem sechsten protestgefüllten Samstag in Folge
seit dem 17. November d.J. – zirkulieren bereits seit
dem vorigen Wochenende in den sozialen Medien.
105.000 Personen hatten sich am Montag Vormittag
bereits als „interessiert“ angemeldet, ähnlich
viele zu einem vergleichbaren Zeitpunkt bei
vorausgehenden Protesten. Es befinden sich mehrere
Aufrufe im Umlauf, einer davon ist übertitelt:
„Opfern wir Weihnachten!“, gemeint ist:
für den Protest.
Aus Bordeaux berichtete eine
Reportage, die am Montag Nachmittag, den 17.12.18 auf
der Webseite des Magazins Le Point
erschien, von Blockadeteilnehmern, die tatsächlich
ihre Weihnachtsfeiern auf blockierten Verkehrsadern
verbringen möchten. Annehmlicher gestalten könnte
sich das feiertägliche Ausharren dadurch, dass
inzwischen eine Reihe von Facebook- und anderen
Kontaktgruppen zur Parntervermittlung unter
Trägerinnen und Trägern gelber Warnjacken
eingerichtet wurden. Mehrere regionale Gruppen zählen
je um die 3.000 Mitglieder.
Ob es wirklich so kommt, dass der Protest sich auch
über die Feiertage hinzieht, ist jedoch fraglich.
Denn beim „Akt Fünf“ am vorigen Samstag, den 15.12.18
war die Mobilisierung zum ersten Mal erkennbar
rückläufig. Laut Angaben des Innenministeriums, die –
wie bei allen Protestanlässen, welche inhaltliche
Bewertung sie auch immer verdienen mögen –
untertrieben sein mögen, zogen 66.000 Personen über
Straßen, blockierten Verkehrskreisel oder hielten den
Autoverkehr an Mautstellen auf. An den beiden
Samstagen zuvor (01. und 08. Dezember 18) waren es
je, derselben Quelle zufolge, je rund doppelt so viel
gewesen.
Dass die bürgerliche Presse eine „Erschöpfung“ der
Proteste herbeischreibt, ist ebenfalls ein Klassiker,
den man in ähnlicher Form bei anderen sozioökonomisch
motivierten Bewegungen unterschiedlicher Natur – wie
etwa bei den Erwerbslosenprotesten im Winter 1997/98
– antreffen konnte. Wollen die Leitmedien des Landes
doch gerne den Rhythmus bestimmen und durch ihre
Berichterstattung festlege, wann eine Bewegung
interessant wird, wann sie anschwillt und wann sie
wieder abnimmt. Und doch deckt es sich mit eigenen
Beobachtungen des Verf. dieser Zeilen, dass Pariser
Straßenzüge außerhalb der Zone rund um die
Champs-Elysées, an denen es am vorletzten Samstag um
die Mittagszeit noch von gelben Westen wimmelte, eine
Woche später gähnend leer wirkten.
Die begonnene Eiseskälte – mit Glatteis- sowie
Eisregenwarnung am letzten Wochenende -, aber auch
Divergenzen zur Einschätzung der durch Emmanuel
Macron verkündeten ersten Zugeständnisse trugen
sicherlich dazu bei, den Protest zu schwächen. Aber
auch die politischen, gesellschaftlichen und
emotionalen Nachwirkungen des jüngsten jihadistisch
geprägten Attentats auf französischem Boden. Am 11.
Dezember dieses Jahres schoss ein 1989 geborener
Straßburger/Einwohner von Strasbourg, Chérif Chekatt,
im Zentrum der ostfranzösischen Metropole auf mehrere
Menschen. Fünf von ihnen starben bis am Montag an den
Folgen, unter ihnen ein polnischer Künster, ein
italienischer Journalist und ein afghanischer
Flüchtling.
Ziel war offensichtlich der berühmte Weihnachtsmarkt,
auf den bereits im Jahr 2000 Anschlagspläne aus dem
Netzwerk Al-Qaida zielten, die damals jedoch nicht
ausgeführt werden konnten. Chekatt war bis dahin als
Kleinkrimineller aufgefallen, auch durch Einbrüche in
Süddeutschland – zuletzt in eine Apotheke in Engen am
Hohentwiel, in Bodenseenähe -, bei denen er sich
nicht durch Professionalität auszeichnete. Eine
völlige Abwesenheit von Deutschkenntnissen oder
örtlichen Komplizen und eine materiell relativ
geringfügige Beute ließen ihn eher als Dilettanten
erscheinen. Insgesamt war der junge Mann 27 mal
vorbestraft, und er schien vor allem durch seine
problembelastete Jugend in einem chaotischen,
gleichzeitig nicht religiös geprägten Elternhaus
geprägt. Chekatt hatte sich dann jedoch in Haft im
jihadistischen Sinne „radikalisiert“.
Die Regierungsspitze forderte nach
dem Attentat – dessen Urheber am 13. Dezember durch
die Polizei erschossen wurde – die „Gelben Westen“
dazu auf, ihre Straßenproteste nunmehr einzustellen.
Diese erwiderten, es handele sich um eine
„hemmungslose Instrumentalisierung“ seitens
des Regierungslagers, das gerade dadurch die Opfer
entwürdige - ein Vorwurf, den auch linke wie rechte
Opponenten im Parlament aufgriffen. Eventuell hat
aber auch die politische Stimmung in den Tagen nach
einem Attentat, das eher deprimiernd wirkt denn
Optimismus stiftet, demotivierende Wirkung auf manche
Protestwillige entfaltet. Wahrscheinlich
distanzierten sich auch manche Zögernde, nachdem
manche Träger gelber Westen, die freilich nicht für
die Bewegung insgesamt repräsentativ waren, in
sozialen Medien Verschwörungstheorien verbreiteten
und ein false flagg-Attentat der
Regierenden suggerierten. Aber auch Moderatoren auf
diversen „Gelbwesten“-Webseiten blockierten die
Verbreitung solcher Thesen schnell.
Zugleich schwächte das Attentat
die öffentliche Kritik an der Polizei ab, die bis
dahin seit der Massenfestnahme von 151
protestierenden Oberschülern in der Pariser Vorstadt
Mantes-la-Jolie – die sich zum Teil mit erhobenen
Händen an einer Mauer aufreihen mussten, eine
Situation, die seitdem vielerorts bei Protesten
nachgestellt wurde – vorübergehend in breiten Kreisen
negativ betrachtet wurde. Nunmehr beginnt in Kreisen
der französischen Polizei, die erklärt, bislang für
die Regierenden „den Kopf hingehalten“
zu haben und dafür Undank zu ernten, ein eigener
Protest. Am Mittwoch dieser Wochen verweigerten sie
in einer Reihe von Polizeiwachen den Dienst, um mehr
Mittel für ihre eigenen Belange zu fordern. Dazu
forderte unter anderem die etablierte
Polizeigewerkschaft Alliance auf.
In den Reihen der heterogenen „Gelbe Westen“-Bewegung
hat nun eine Strategiedebatte begonnen, ähnlich, wie
man sie auch aus anderen auslaufenden
Protestbewegungen – unabhängig von der Bewertung
ihres Inhalts und ihrer Form – kennt. In Toulouse
diskutiert man etwa darüber, sich in Kommissionen
aufzuteilen, neue Politikfelder zu bearbeiten oder
diverse Boykotte im Alltag etwa gegenüber
Stromkonzernen zu organisieren.
Auf Landesebene kristallisiert
sich unterdessen heraus, dass die Forderung nach
Einführung der Mögloichkeit eines durch
Bürgerbegehren anzustrengenden Referendums (RIC, für
référendum d’initiative citoyenne) -
zur Abschaffung eines bestehenden oder Einführung
eines neuen Gesetzes – für Teile der Bewegung zum
neuen Allheilmittel zu werden scheint. Die Situation
ähnelt dabei ein wenig jener in der Schlussphase der
Platzbesetzerbewegung Nuit debout im
Frühjahr 2016, als nach dem Scheitern der zeitgleich
stattfindenen Streiks gegen die Arbeitsrechtsreform
Teile der Protestierenden ihr Patentrezept darin
fanden, jetzt unbedingt eine neue Verfassung
entwerfen zu wollen. Und zwar am Basteltisch, also
entkoppelt von gesamtgesellschaftlichen
Auseinandersetzungen darum.
Premierminister Edouard Phlippe
beeilte sich am Montag, zu erklären, ein solches
Referendumsgesetz könne die Regierung gerne einführen
- es sei „ein gutes Instrument in einer
Demokratie“, also mit dem bestehenden System
vereinbar.
Zugleich hat die Debatte um eine eventuelle
Betätigung in Parteienform begonnen, einige
Beobachter umzutreiben. Allerdings wird dieser
Vorschlag vor allem vonaußerhalb der Protestbewegung
an sie herangetragen.
Vor allem die Regierungspartei LREM (La République en
marche) träumt öffentlich und lautstark davon, eine
„Gelbe Westen-Liste“ könnte zu den
Europaparlamentswahlen am 26. Mai 19 antreten. Dies
würde, deren Kalkül zufolge, ihren Interessen nutzen.
LREM ließ etwa bei einem Umfrageinstitut eine
Befragung in Auftrage geben – und selbige prompt
veröffentlichen -, in welcher diese Hypothese
getestet wird. Ergebnis: Eine solche Liste würde
demnach vor allem bei Marine Le Pen und Jean-Luc
Mélenchon Wähler abziehen, also die aktivsten
Oppositionsparteien schwächen.
Allerdings
dürfte dies kaum funktionieren, vielmehr würde das
Aufstellen gemeinsamer Listen eine heterogene
Protestbewegung sofort auseinander zu hauen. Nun
richten diverse politische Parteien ihr jeweiliges
Angebot an die „Gelben Westen“. Der designierte
Spitzenkandidat der Französischen KP, Ian Brossat,
möchte welche auf seinen Listen zu den
Europaparlamentswahlen stehen sehen. Der
Linksnationalist und Linkssozialdemokrat Jean-Luc
Mélelchon seinerseits posaunt hinaus, das Auftreten
der Gelbwesten habe ihn voll und ganz „bestätigt“,
diese übernähmen ja sein volles Programm. Und da die
Protestbewegung identisch mit „dem Volk“ sei, könne
es diesem Programm eigentlich nur zustimmen.
Mélenchons
Berater und Abgeordneter Alexis Corbière hingegen
sieht ihre gemeinsame Wahlplattform,
La
France insoumise (LFI, „Das unbeusagem
Frankreich“) dagegen diesbezüglich in einem
„Wettlauf mit der extremen Rechten“ stehen,
erkennt also einen tobenden Hegemoniekampf.
Auch der konservative
Oppositionsführer (auf Landesebene) und
Regionalpräsident in Lyon, Laurent Wauquiez, empfing
an diesem Montag – 17. Dezember 18 – soeben Vertreter
der „Gelben Westen“. uch die Neofaschistin Marine Le
Pen profitiert unterdessen erkennbar von der neuen
innenpolitischen Situation: Fände die französische
Präsidentschaftswahl am kommenden Sonntag statt,
erhielte sie laut einer jüngsten Umfrage 27 % der
Stimmen und den ersten Platz im ersten Durchgang -
statt 21,3 % und den zweiten Platz vor anderthalb
Jahren. Die Umfrageinstitute sehen auch darin eine
Auswirkung der jüngsten Proteste, bei denen sie sich
nicht allein, aber ostentativ als Unterstützerin
aufführte. Auch wenn sie am 07. Dezember dieses
Jahres, also am Vortag eines neuerlichen
Protestsamstags, dann in die staatsmännische und
-frauliche Rolle schlüpfte und darauf hinwies, die
Fünfte Republik gebe dem jeweiligen Präsidenten die
wichtigste Rolle; deswegen solle man nicht den
Rücktritt Emmanuel Macrons fordern. Le Pen glaubt
nicht an eine rechte Machtergreifung von der Straße
aus, wartet aber ansonsten in Ruhe ihre Stunde ab.
Erstveröffentlicht in
der Wochenzeitung Jungle World vom 20. Dezember
2018
|