B. Schmid: "Gelbwesten-Chronik"

Protestmobilisierung ist am Samstag, den 15. Dezember 2018 erstmals rückläufig

Bericht vom 17. Dezember 2018

Mehrere Faktoren spielten dabei eine Rolle – Unterdessen beginnt die Debatte um politische „Angebote“ [aus und für Parteien oder Listen zur Europaparlementswahl 2019] an die Gelbwesten-Bewegung

Einige Träger/innen „gelber Westen“, zumindest, haben in den vergangenen Wochen tatsächlich durch diese Bewegung ihr Glück gefunden. Eine Reihe von Facebookgruppen haben sich mittlerweile zum Zwecke der Partner/innen/suche speziell unter „Gelben Westen“ herausgebildet. Mehrere von ihnen zählen rund 3.000 Mitglieder. „Schnauze voll davon, allein zu demonstrieren? Auf dieser Seite können Sie die Liebe für das Leben oder für eine Nacht finden, mit einem gemeinsamen Interesse für soziale Gerechtigkeit und den Respekt des Volkes“, verkündet etwa eine entsprechende Gruppe für die ostfranzösischen Départements Savoyen und Hochsavoyen. Es sei den Betreffenden wohl gegönnt.

Auch ansonsten passiert in dieser derzeitigen Protestbewegung so manches, was auch in früheren sozialen Bewegungen (unabhängig von ihren konkreten Inhalten) passierte, doch in neuen Formen.

Eine Feststellung, die – vergleichbar dem Gravitationsgesetz, wonach sich die Erdanziehung auf jeden Körper mit Gewicht auswirkt – jede soziale Bewegung früher oder später betrifft, findet nun auch auf die „Gelben Westen“ Anwendung: Nach circa drei oder (oft) vier Wochen findet ein gewisser Rückgang der Mobilisierung statt. Denn dann treten die ersten, unvermeidlichen Ermüdungs- und Abnutzungserscheinungen ein: Leute mit familiärem Anhang, Unterhaltspflichten, Job oder geregeltem Erwerbsleben können über einen gewissen Zeitraum hinaus nur mehr begrenzt einen Hauptteil ihrer Lebenszeit der Mobilisierung widmen. Es kristallisiert sich ein härterer Kern von „Aktivist/inn/en“ heraus. Diese trifft man dann oft (je nach Form und Inhalt der Bewegung) entweder wenige Monate später in neuen Mobilisierungsschüben derselben sozialen Bewegung wieder, oder – für einen Teil unter ihnen – in Gewerkschaften, Parteien oder Sozialvereinigungen, die (tatsächlich oder vermeintlich) dieselben Ziele in einem weitergesteckten Rahmen verfolgen.

Nun war auch die Mobilisierung der „Gelben Westen“ erstmals zahlenmäßig rückläufig, und dies nach fünf Samstagen hintereinander, an denen intensiv mobilisiert wurde: 17. November (eher dezentral), 24. November (ab diesem Datum mit einem Aufruf zum zentralen Zusammenkommen in Paris neben dezentralen Aktivitäten), 1. Dezember, 8. Dezember und nun 15. Dezember. Dies schien kaum vermeidlich. Unabhängig von Methode, Form und Inhalt des jeweiligen Inhalts gingen sowohl Streikbewegungen – wie die Massenstreiks in Frankreichs öffentlichen Diensten vom 24. November bis 21./22. Dezember 1995 – als auch städteübergreifende Riots in den Banlieues (vom 27. Oktober bis Mitte November 2005) nach einem vergleichbaren Zeitraum zahlenmäßig zurück.

Konkret wurden an diesem Samstag, den 15. Dezember d.J.laut innenministeriellen Angaben 66.000 Teilnehmer/innen an Protestaktionen (Verkehrsblockaden oder Straßenversammlungen/Demonstrationen/Kundgebungen verzeichnet ( vgl. http://www.leparisien.fr/ ); am Samstag zuvor, 08. Dezember 18 war von 125.000 bzw. 136.000 die Rede. ( Vgl. auch https://www.europe1.fr/) In Paris lautete die Beobachtung, dass jedenfalls viele Straßen außerhalb des Großraums Champs-Elysées, wo sich genau sieben Tagen zuvor um die Mittagszeit „Gelbe Westen“ tummelten – wie etwa zwischen Ostbahnhof und place de la République – dieses Mal gähnende Leere anzeigten.

Zu den Erklärungsfaktoren zählen in diesem Falle:

  • der durch das Attentat in Strasbourg vom 11. Dezember 2018 (mittlerweile starben fünf Menschen an den Folgen) geprägte Kontext, der es manchen unangebracht scheinen lässt, gerade jetzt einen „heißen“ Konflikt auszutragen;  
    und dies, obwohl es auch sehr viele Vorwürfe gab, das Regierungslager (aus dem heraus wiederholt die Absage aller Proteste infolge des Attentats gefordert wurde) instrumentalisiere die Situation schamlos (vgl. bspw.
    https://www.20minutes.fr ), aber auch veritable Verschwörungstheorien aus Teilen des „Gelbe Westen“-Umfelds mitsamt dem heutzutage unvermeidlichen Unfug über false flag-Anschuldigungen und angeblich nur inszenierte Attentate (vgl. etwa https://actu.orange.fr/ );
     

  • die Teilzugeständnisse von Emmanuel Macron in seinem TV-Auftritt vom Montag, den 10. Dezember 18 (wir berichteten ausführlich);
    zwar ging Macron nur scheinbar auf Grundforderungen wie die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns SMIC ein (die Maßnahme umfasst in Wirklichkeit hauptsächlich einen durch die öffentliche Hand finanzierten Steuerkredit, welcher ohnehin bis 2020 geplant war, dennoch erhält er nun Zunder u.a. von der EU-Kommission in Brüssel (vgl.
    https://finance.orange.fr/), da die Herkunft der nunmehr eingeplanten zehn Milliarden Euro Mehrausgaben der öffentlichen Hand ungeklärt ist – zumal das Kapital ja nicht stärker zur Kasse gebeten werden soll; (vgl. zu Reaktionen von Beschäftigten- und Arbeit„geber“seite auch: https://actu.orange.fr/ );
    und dennoch entfalten erste „Zugeständnisse“ irgendwelcher Art immer auch spaltende Wirkungen auf Bewegungen, deren Protagonisten sich zwischen „halbwegs Zufriedengestellten“ und „Unzufriedenen“ aufteilen (vgl. zu einer frühen Vorreiterin der „Gelbe Westen“-Bewegung, die seit Oktober d.J. in massenhaft verbreiteten Videos zu Protesten aufrief, doch nach Macrons Rede nun << gut is‘ >> verkündete:
    https://www.lci.fr/ oder https://www.francetvinfo.fr/);
     

  • hinzu kommen Eisregen, Kälte und Wintereinbruch!
     

  • Hinzu kommt eventuell, dass auch Vorfeldkontrollen auf den Autobahnen und Zufahrten in Richtung Paris eine gewisse Rolle dabei spielten, dass ein Teil der Protestwilligen dort nicht frühzeitig eintraf. Dies wird jedenfalls in Whatsapp-Gruppen von die Proteste unterstützenden Milieus seit Samstag, den 15.12.18 immer wieder als Argument angeführt. Zwar hat es unzweifelhaft eine Reihe stringenter Kontrollen gegeben (vgl. http://www.leparisien.fr)
    Allerdings wurden keine präzisen Informationen dazu publik, dass Menschen tatsächlich stundenlang (oder gar darüber hinaus) unterwegs festgehalten worden wären. Es dürfte sich eher um Fahrzeug- und Taschenkontrollen gehandelt haben, um Atemschutzmasken, andere Formen von Tränengasschutz (oder auch Schlagwerkzeuge) aufzuspüren. Möglicherweise hat sich manche Anreise dadurch verzögert, wohl aber auch nicht tagelang.

Insgesamt kam es an diesem Samstag, den 15. Dezember im Vergleich zu den beiden vorausgehenden (1. und 08. Dezember 18) zu relativ, relativ wenigen Festnahmen zwecks Personalienfeststellung und In-Polizeigewahrsam-Nahmen. Im Raum Paris wird ihre Gesamtzahl am 15.12.18 derzeit auf 179 vorläufige Festnahmen, von denen 144 in Polizeigewahrsam verlängert wurden, beziffert. (Vgl. https://www.cnews.fr)

Bezogen auf ganz Frankreich sind die Angaben ein wenig schwieriger zu finden. Der russische Propagandasender Sputnik, welcher gerne die Finger auf die sozialen Widersprüche in Westeuropa legt (etwas weniger auf jene zu Hause bei Väterchen Wladimir) und dabei manchmal auch nützliche Informationen liefert – was die staatlichen Auftraggeber nicht besser macht -, beziffert sie auf 351 in ganz Frankreich, darunter 242 mit Verlängerung durch 24- bis 48stündigen Polizeigewahrsam. ( Vgl. https://fr.sputniknews. ) Letztlich findet man dieselbe Information, sucht man etwas genauer, dann auch beim französischen bürgerlichen Propaganda-, Manipulations- und Beriesel-Sender BFM TV. ( Vgl. https://www.bfmtv.com/

Alleine für sich genommen, erklärt die Repression wohl sicherlich nicht den relativen Rückgang der Mobilisierung.

Derzeit beginnt nun auch die Strategiediskussion, wie man es auch in der Ausgangsphase anderer sozialer Bewegungen (unabhängig vom Inhalt ihrer jeweiligen Anliegen und dessen Bewertung) kennt. Im Raum Toulouse etwa berieten die „Gelben Westen“ nunmehr am Sonntag, den 16.12.18 über Fragen wie Strukturierung in Kommissionen, andere Aktionsformen (vorübergehender Boykott von Stromzahlungen und anderen Rechnungen?) und ähnliche Belange. (Vgl. https://www.ladepeche.fr)

Auf Landesebene kristallisiert sich heraus, dass die Forderung nach Einführung der Mögloichkeit eines durch Bürgerbegehren anzustrengenden Referendums (RIC, für référendum d’initiative citoyenne) - zur Abschaffung eines bestehenden oder Einführung eines neuen Gesetzes – für Teile der Bewegung zum neuen Allheilmittel zu werden scheint. (Vgl. https://actu.orange.fr/ und https://www.youtube.com/ ) In Einzelfällen mag dies – im arbeits- oder sozialpolitischen Bereich – ein hypothetischer Hebel für progressive Anliegen sein, allerdings sei davor gewarnt, was im Falle von durch die Rechte oder extreme Rechte angestrengten Volksbegehren blühen könnte.. Auch die Schweiz, wo solche Volksbegehren alltäglich existieren, ist kein progressives Paradies.

Zugleich hat die Debatte um eine eventuelle Betätigung in Parteienform begonnen, einige Beobachter/innen und Betroffene umzutreiben. Ein paar Protagonisten scheint es in den Fingern zu jucken, doch andererseits wird dieser Vorschlag – sich auf der Bühne der Parteienpolitik zu betätigen – oftmals auch von außerhalb der Protestbewegung an sie herangetragen.

Die Regierungspartei LREM (La République en marche) ließ etwa bei einem Umfrageinstitut eine Befragung in Auftrage geben – und selbige prompt veröffentlichen -, in welcher die Hypothese des Antretens einer „Gelbe Westen“-Liste zu den Europaparlamentswahlen vom 26.05.19 in Frankreich getestet wird. Diese würde demnach vor allem bei Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon Wähler/innen abziehen. (Vgl. hier https://www.lejdd.fr/ ) Nur dürfte dies kaum derart funktionieren, vielmehr würde das Aufstellen gemeinsamer Listen eine heterogene Protestbewegung sofort auseinander zu hauen. Nun richten diverse politische Parteien ihr jeweiliges Angebot an die „Gelben Westen“. Der designierte Spitzenkandidat der Französischen KP möchte welche auf seinen Listen zu den Europaparlamentswahlen stehen sehen. (Vgl. http://www.lefigaro.fr ) Der Linksnationalist und Linkssozialdemokrat Jean-Luc Mélelchon seinerseits posaunt hinaus, das Auftreten der Gelbwesten habe ihn voll und ganz „bestätigt“, diese übernähmen ja sein volles Programm. ( Vgl. https://actu.orange.fr/ ) Mélenchons Berater und Abgeordneter Alexis Corbière hingegen sieht ihre gemeinsame Wahlplattform, La France insoumise (LFI, „Das unbeusagem Frankreich“) dagegen diesbezüglich in einem „Wettlauf mit der extremen Rechten“ stehen, erkennt also einen tobenden Hegemoniekampf. ( Vgl. https://actu.orange.fr/ ) Auch der konservative Oppositionsführer (auf Landesebene) und Regionalpräsident in Lyon, Laurent Wauquiez, empfing an diesem Montag – 17. Dezmber 18 – soeben Vertreter der „Gelben Westen“. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/ ) Auch die Neofaschistin Marine Le Pen profitiert unterdessen erkennbar von der neuen innenpolitischen Situation: Fände die französische Präsidentschaftswahl am kommenden Sonntag statt, erhielte sie laut einer jüngsten Umfrage 27 % der Stimmen und den ersten Platz im ersten Durchgang (statt 21,3 % und den zweiten Platz vor anderthalb Jahren); vgl. https://actu.orange.fr)

Wohin die Reise also gehen wird, das steht zum jetzigen Zeitpunkt gewiss noch nicht fest…

Hingegen steht fest, dass die Regierung allmählich ungeduldig wird; Innenminister Christopher Castaner wollte an diesem Montag den Verkehrsblockaden nun ein definitives Ende gesetzt wissen.. (Vgl. https://actu.orange.fr )