B. Schmid: "Gelbwesten-Chronik"

Versuch einer vorläufigen Analyse zur „Gelbwesten“-Bewegung

Bericht vom 13. Dezember 2018

Nun hat die Bewegung auch ihr Maskottchen gefunden: „Gilles et John“ lautet der Kosenamen für die Bewegung der „Gelben Westen“ (französisch gilets jaunes), den seit dem vergangenen Wochenende viele Graffitys und Wandsprüche verbreiten. Anders als Marionetten oder Puppen lässt sich die Bewegung allerdings nicht so einfach steuern – weder durch die Staatsmacht noch, angesichts ihres zunehmenden Patchwork-Charakters, durch den Protest unterstützende Organisationen.

Was die Staatsspitze betrifft, so entfalteten ihre bisherigen Ankündigungen jedenfalls keine beruhigende Wirkung auf die Unzufriedenen. Am Montag Abend (10.12.18) trat Staatsoberhaupt Emmanuel Macron im französischen Fernsehen auf und verkündete seine Beschlüsse, die als viel erwartete Antwort auf die Protest angekündigt waren.

Noch in der Nacht sprachen die Teilnehmer am Protest jedoch – dort, wo Kameras oder Mikrophone zugegen waren - überwiegend von „Mogelpackungen“ und einer „Maskerade“. Auch in der politisch-parlamentarischen Sphäre überwog die Kritik. Der Linkssozialdemokrat und Linksnationalist Jean-Luc Mélenchon kündigte bereits fast zeitgleich zur präsidialen Ansprache für einen „Akt Fünf“,, also einen erneuten Protesttag am kommenden Samstag (15. Dezember), an.

Auch auf der extremen Rechten setzt man weiterhin auf Opposition, versucht das Thema Sozialprotest allerdings wieder einmal mit der Thematik Einwanderung zu verknüpfen. Konkret versuchen der Rassemblement national (RN) und außerparlamentarische rechte Gruppen, den dämonisierten und zur gigantischen Verschwörung gegen die Nationen aufgebauten „Migrationspakt“ der Vereinten Nationen – den eine internationale Konferenz am Montag in Marrakesch annahm – als Protestgegenstand in die Bewegung zu tragen.

An den Blockadepunkten und bei Straßenprotesten spielt dies keine Rolle. Allerdings enthält eine „Charta der Gelben Westen“, die am vorigen Sonntag plötzlich im Internet auftauchte, deren Repräsentativcharakter allerdings sehr fraglich ist, neben einer Reihe sozialer und ökologischer Forderungen sowie mehreren populistischen Leerformeln auch einen Punkt 24, der sich gegen Zuwanderung richtet. Dort heißt, angesichts „der Zivilisationskrise, die wir erleben“, seien „Migrationsströme nicht integrierbar“ und müssten aufgehalten werden. Dies widerspiegelt die Tatsache, dass auch rechte Kräfte jedenfalls in einer der Komponenten der Bewegung, also bei den mittelständisch geprägten Anti-Steuer-Rebellen – die ihren Unmut oft zusätzlich auch etwa gegen Radargeräte gegen Geschwindigkeitsüberschreitungen richten -, ein gewisses Gehör finden, ohne dass sie die Protestbewegung kontrollieren könnten.

Durch den wachsenden Aktivitätsgrad von Gewerkschaften, die nun den Moment gekommen sehen, ebenfalls für ihre Forderungen aktiv zu werden, und durch das Aufkommen der Oberschülerproteste in der vorigen Woche intervenieren nun aber auch massiv sozial progressive Kräfte in die Proteste. In einer Talkshow kündigte Mélenchon vor einigen Tagen bereits an, in Zukunft, für die Zeit nach dem „Macronismus“, werde das Rennen um politische Hegemonie „zwischen ihnen und uns ausgetragen“, es gebe also einen Wettlauf zwischen der extremen Rechten und den Linkspopulisten um künfige Machtteilhabe.

Die CGT – der älteste Gewerkschaftsdachverband in Frankreich – versuchte zunächst, eine eigene Spur parallel zu und neben der „Gelbe Westen“-Bewegung zu ziehen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass man einerseits zu den auch präsenten rechten Kräften Abstand halten wollte, andererseits aber auch generell Skepsis gegen außerhalb bürokratischer Apparate entstehende Protestbewegungen hegt. Am 1. Dezember versuchte die CGT, zu eigenen Demonstrationen zu mobilisieren, die jedoch nur eine geringe Dynamik aufwiesen. Nun ruft der Dachverband für kommenden Freitag zu einem Aktionstag vor allem für die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns SMIC auf. Dabei sind auch Streikaufrufe für die Transportunternehmen, bei der französischen Bahn und den Pariser Nahverkehr, gesetzt. Rechts von der CGT reagiert etwa der rechtssozialdemokratisch geleitete Dachverband CFDT vor allem mit Abgrenzung von den Protesten und dem Wunsch, endlich in Verhandlungen mit der Regierung zu treten. In einer Stellungnahme von sechs Gewerkschaftszusammenschlüsen, den maßgeblich die CFDT inspirierte, in deren Zentrale das gemeinsame Treffen am vergangenen Donnerstag stattfand, überwiegt diese Orientierung. Ferner wird „die Gewalt, mit denen Forderungen zum Ausdruck gebracht werden“, explizit verurteilt, jedoch zur ebenfalls sehr massiven Polizeigewalt vollständig geschwiegen.

Der Zusammenschluss linker Basisgewerkschaften – Solidaires – seinerseits reagierte zunächst auf dieses Verhalten, indem er sich zugunsten einer Teilnahme an den Protesten von den behäbigeren, bürokratisierten Dachverbänden abgrenzten. Am Samstag, den 08. Dezember 18 war Solidaires auf den Straßen vertreten, versuchte jedoch auch, eine Verbindung zwischen den sozioökonomisch motivierten Protesten und den zeitgleich stattfindenden Demonstrationen für Klimaschutz herzustellen. Zu Wochenanfang überlegten die Solidaires angehörenden SUD-Gewerkschaften jedoch auch, den einseitig durch die CGT ausgerufenen Aktionstag am Freitag zu unterstützen, jedenfalls bei den Bahnbeschäftigten.

Was aber nun kündigte Emmanuel Macron inhaltlich an? Bereits 24 Stunden vor seiner Ansprache hatte seine amtierende Arbeitsministerin Muriel Pénicaud ihrerseits eine wichtige Weichenstellung signalisiert, indem sie erklärte,dass die aus der Bewegung heraus unter anderem geforderte Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns (SMIC) abgelehnt werde. Denn dies sei arbeitsplatzgefährdend und beschäftigungsfeindlich. Der SMIC beträgt derzeit gut 1.150 Euro netto monatlich. Jedenfalls im Raum Paris kann man damit schwerlich überleben.

Nun überraschte Präsident Macron – jedenfalls im ersten Augenblick - mit der Ankündigung, er solle nun doch erhöht werden, und zwar um 100 Euro im Monat, allerdings noch nicht im Jahr 2019. Sieht man genauer hin, dann fügte Macron jedoch sofort hinzu, dies solle die Arbeitgeber „keinen Euro mehr kosten“. Der abhängig beschäftigten Arbeit mehr geben, ohne dass das Kapital mehr zahlt – wie soll das nun gehen? In den Augen von Emmanuel Macron ist es einfach: Entweder wird aus den Sozialkassen genommen, indem die Beiträge nochmals rückgebaut werden (in den letzten Monaten baute die Regierung Sozialbeiträge in den Unternehmen ab und verlagerte sie auf eine nicht progressive Steuer auf Einkommen, die CSG oder den „Allgemeinen Sozialbeitrag“). Oder aber die Erhöhung wird, durch eine Art indirekter staatlicher Prämie, aus Steuereinnahmen finanziert. Es scheint auf die zweitere Lösung hinauszulaufen, da, wie oben zitiert, nunmehr bereits für 2019 und 2020 angekündigte Steuerkredite für Geringverdienende als „Erhöhung des Mindestlohns“ verkauft werden sollen.

Emmanuel Macron kündigte ebenfalls an, jene Unternehmen, „die können“, sollten ihre abhängig Beschäftigten eine Jahresprämie auszahlen, und sie würden dafür dann steuerlich entlastet. Dies appelliert allerdings vollständig an die Freiwilligkeit von Unternehmen – das Handelsunternehmen Publicis jedenfalls kündigte unmittelbar nach der TV-Rede Macrons nun an, es werde dem Aufruf folgen.

Das einzige echte Zugeständnis Emmanuel Macrons auf sozialem Gebiet dürfte darin liegen, dass viele Rentnerinnen und Rentner nun von der de facto wie eine Kopfsteuer wirkenden Sozialabgabe CSG – diese beträgt derzeit gut 9 Prozent der zu besteuernden Einkünfte - ausgenommen werden. Im Wahlkampf 2016/17 hatte der damalige Präsidentschaftskandidat Macron angekündigt, „reiche Rentner“ würden künftig stärker zur Kasse gebeten, um die Sozialbeiträge in Unternehmen zu senken. In der Praxis setzte seine Regierung die Schwelle dann im Jahr 2017 bei 1.200 Euro Monatseinkommen für Rentenbezieher/innen an. Diese Entscheidung wird, neben jener der damals ebenfalls (nur drei Wochen nach Antritt der bestehenden Regierung) beschlossenen Abschaffung der Vermögenssteuer ISF, sehr oft als besonderer Ausdruck sozialer Ungerechtigkeit unter dem „Freund der Schwerreichen“ Emmanuel Macron zitiert. Nun wird die Schwelle von 1.200 auf 2.000 Euro monatlicher Einkünfte für Pensionierte angehoben; darunter wird die CSG künftig nicht fällig.

Erstveröffentlicht in der  Wochenzeitung Jungle World vom 13. Dezember 2018