Der Krieg in Algerien
Unsere Mitverantwortung für Algerien

von Reimar Lenz (1960)

Man stelle sich vor: 1954 wäre in der ,DDR" ein Partisanenaufstand ausgebrochen, der bis heute Hunderttausende von Menschenleben gefordert hätte. Anderthalb Millionen Menschen säßen in Umsiedlungs- und Konzentrationslagern bei Hungerrationen. Das Land stände unter Militärdiktatur, es gäbe keine deutsche Zeitung, keine deutsche Inschrift, einzig die Sprache der Besatzer würde gelten. Nach jedem Überfall der Partisanenarmee würden Vergeltungsaktionen ganze Landstriche entvölkern, Dörfer einäschern, häufig genug würde die verbleibende Bevölkerung in Lager abtransportiert.

Man versuche, sich dieses Unvorstellbare vorzustellen. Was würde geschehen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß in Algerien heute tatsächlich eine ähnliche Lage herrscht. Schon im Februar 1958 appellierte der tunesische Staatspräsident Bourgiba an die Welt: „Es gibt gegenwärtig eine unglaubliche französische Entscheidung, einen breiten und sehr tiefen Streifen algerischen Gebietes völlig zu entvölkern. Die Folgen sind ungeheuer und für mehrere Hunderttausend Menschen von unerhörtem Schmerz und Leid . . . Wir stehen vor einem Projekt und einer täglichen Wirklichkeit, die uns die Erinnerung an die großen planmäßigen, von Stalin befohlenen Ausweisungen aus den Ländern des Baltikums und Südrußlands zurückruft."

Die Zahlenangaben über die Opfer des nun über 60 Monate währenden erbitterten Kampfes schwanken. Nach Angaben der französischen Nachrichtenagentur Agence Francepresse sind bisher 250 000 Menschen durch die „Feindseligkeiten" getötet, verwundet worden oder vermißt. Der Chef der algerischen Exilregierung, Ferhat Abbas, spricht von 800 000 Opfern. Aus den verschiedensten dokumentarischen Veröffentlichungen wurde der Welt bekannt, daß unter menschenunwürdigen Lebensbedingungen ganze Teile der acht Millionen zählenden algerischen Bevölkerung in Lagern der französischen Armee gehalten werden; ebenso belegt ist die alarmierende Tatsache, daß die Folter von französischen Einheiten in großem Umfang angewendet wird, wobei es sich keineswegs nur um Übergriffe einzelner Unterführer handelt.

Der bisher umfassendste Bericht über Unmenschlichkeiten, begangen von Fremdenlegionären, französischem Militär und Polizei, stammt vom Internationalen Roten Kreuz; er wurde Mitte Dezember 1959 der französischen Regierung überreicht, gelangte durch eine Indiskretion in die Öffentlichkeit. Photokopien erhielten alle französischen Zeitungsredaktionen, aber nur 'Le Monde' und ,Liberation' haben Auszüge veröffentlicht (,Le Monde' am 5. l. 1960, 'Liberation' wurde anschließend in ganz Frankreich beschlagnahmt, 'Le Monde' in Algerien). Die aus vier Personen bestehende Kommission des IRK berichtete von Schweigelagern, die sie zufällig entdeckt hatte und die ihr nicht genannt worden waren; sie fand total überbelegte Gefängnisse und Zellen, Verwundete, die auf nacktem Fußboden liegen gelassen, Gefangene, die nachts mit eisernen Ketten oder Fußeisen angeschlossen werden. Immer wieder haben sich Gefangene bei der Kommission darüber beklagt, daß sie mit elektrischem Strom oder Wasser gefoltert worden seien. Im Lager Bordj Menaiel allerdings wurden die Delegierten von den Häftlingen gebeten, kein Protokoll von solchen Aussagen anzufertigen - aus Angst vor Repressalien. Schon im Dezember 1958 war von einer IRK-Kommission von unerträglichen Lebensbedingungen in Bordj Menaiel berichtet worden (die Männer schlafen auf dem Fußboden, die Wohnbedingungen werden als .grauenhaft' bezeichnet): in dem einen Jahr hatte sich nichts gebessert. In einer Einzelzelle fanden die Delegierten des IRK einen Schwerverwundeten, der aussagte, daß ihm die Verletzungen bei einem ,Verhör' zugefügt worden sind. ,Ungefähr 60 Internierte mit schlechtem Gesundheitszustand' heißt es außerdem in dem Bericht, .sollen vor unserer Ankunft plötzlich aus dem Lager entfernt worden sein. ,Die Offiziere in Bordj Menaiel waren für alle Bitten der IRK-Kommission taub. In anderen Lagern hörten sie immer wieder von Todesfällen, die auf .Fluchtversuche während des Transports zum Verhör durch den Nachrichtenoffizier' zurückgeführt werden. Insgesamt seien in einem Drittel der Durchgangslager die Verhältnisse ,äußerst schlecht'. Die FAZ meinte, das Gesamtergebnis der Untersuchung lasse die Schlußfolgerung zu, daß sich die Verhältnisse im großen und ganzen im letzten Jahr etwas gebessert hätten, und bekannte sich zu diesem rohen Resümee mit folgender Überschrift „Die Verhältnisse in den algerischen Lagern haben sich gebessert".

Die IRK-Kommission fand auch Henri Alleg im Gefängnis Bar-berousse (1044 Häftlinge) und Djamila Bouhired im Gefängnis Maison-Carree (1471 Häftlinge). (Insgesamt soll es 150000 Gefängnisinsassen geben in Algerien).

Henri Alleg, der von 1950 bis 1955 Herausgeber des ,Alger Republicain' gewesen war, hatte als erster im Frühjahr 1958 von den Foltern berichtet, die er nach seiner Verhaftung im Gefängnis von Algier erduldet hat. Damals schrieb Jean Paul Sartre dem Dokument ein Vorwort, mit dem er das Weltgewissen aufrütteln wollte, mit dem er Rassendünkel und Haß als die Ursachen der planvoll-absurden Folterverbrechen anprangerte. Sein Kampfruf, in Frankreich verboten wie später die Aussagensammlung gefolterter algerischer Studenten ,La Grangene', erschien im Londoner ,0bserver', später, zusammen mit einem Aufsatz von Eugen Kogon, im Desch-Verlag. Die Tatsachen ließen sich nicht länger verschweigen.

Aber das ,Weltgewissen' hat offenbar eine lange Reaktionszeit. Wir alle legten die Berichte aus Algerien immer wieder auf die Seite, in der Hoffnung, es werde sich dort ,von allein' bessern oder mit der resignierten Entschuldigung, man könne ja doch nichts tun.

Konzentrationslager heute

Seit April 1959, also seitdem eine vom Leiter der französischen Zivilverwaltung in Algerien, Paul Delouvrier, eingesetzte Untersuchungskommission ihren Bericht veröffentlicht hat, weiß die Welt, daß in Algerien Hunderttausende von Menschen bei Hungerration, teilweise schon seit 1957, in sogenannten Umgruppierungslagern leben müssen. Offenbar herrschte im April 1959 bei der Verwaltung immer noch Ungewißheit über die Gesamtzahl der Lager, die von der Armee eingerichtet wurden, denn es heißt in dem Bericht, daß die ,Zahl der Insassen schwerlich unter einer Million angegeben werden kann'. Weiter wurde bekannt, daß mindestens 200 000 Menschen ganz auf die Versorgung durch die französische Armee angewiesen sind - in manchen Fällen seien Lebensmittel aber gänzlich ausgeblieben. Der Bericht spricht von einer erschreckend hohen Kindersterblichkeit. Nach den Beispielen, öie er anführt, liegt sie bei 40 °/o aller Kinder im Jahr. Der IRK-Bericht bezieht sich nicht auf die Verhältnisse in den sogenannten Umgruppierungslagern, in denen die Algerier untergebracht sind, die von der französischen Truppe aus den umstrittenen Gebieten abtransportiert wurden. Den letzten Bericht aus diesen Lagern gaben die Leiter christlicher Wohlfahrtsorganisationen in Frankreich, Monsignore Rodhain (der die Zahl der Lagerinsassen auf mindestens l 450 000 schätzt, außerdem seien 300 000 Nomaden vertrieben worden und 400 000 Algerier in die Städte geflüchtet) und Pastor Beaumond. Beaumond berichtete Anfang Januar 1960:

„In einem Lager sah ich fünf Kinder, die buchstäblich vor Hunger starben. In einem anderen gab es Kinder, die so ausgemergelt waren, daß man die Knochen durch die Haut an den Beinen schimmern sah. Es gab rachitische Kinder und Kinder, die sich, von der Malaria geschüttelt, am Boden wälzten, aber kein Chinin, um ihre Schmerzen zu lindern, keine Decke, um sie vor der Kälte zu schützen.

Ich sah Lager, in denen es keine einzige Decke gab. Hier und da teilten sich 13 Menschen in einem Zelt eine einzige Decke. Ich fuhr durch Gebiete, in denen kein Stück Vieh, kein Huhn, übrig geblieben war. Alles hatten sie aufgegessen. Einmal sah ich, wie Kartoffeln verteilt wurden. Die Menschen waren so hungrig, daß sie nicht einmal abwarteten, bis die Kartoffeln gekocht waren. Das war kaum 60 Kilometer von Algier entfernt."

Mehr als die Hälfte der Bevölkerung Algeriens ist jünger als achtzehn Jahre. Kinder, die der Krieg heimatlos gemacht hat und die ohne festen Wohnsitz leben, zählen zu den beklagenswertesten Opfern des Krieges - im Gebiet von Oran sind es mehr als 200 000 nach einer Schätzung einer französischen Parlamentarierdelegation. Die Delegation, die vor kurzem Algerien bereist hat, bringt ihre Genugtuung darüber zum Ausdruck, daß die französische Armee solche Kinder in Jugendzentren unterbringt, wo sie erzogen würden. (Nach 'L'ouvrier Algerien, ,Les maisons de l'enfant de l'U. G. T. A.'.) Nach diesem Aufsatz in der Zeitschrift der algerischen Gewerkschaft sieht die „Erziehung" in den französischen 'Jugendzentren' dann z. B. so aus, daß in den Lagern Bordj Menaiel und Oued Aissi Kinder hinter Stacheldraht eingesperrt sind und einer eisernen Disziplin unterworfen werden; gegen Ende des Jahres 1958 seien hier mehrere junge Algerier von 15 bis 17 Jahren wegen ihrer .unverbesserlich schlechten Gesinnung' zur Abschreckung erschossen worden.

Wir müssen damit rechnen, daß im Winter 1959/60 ein Massensterben algerischer Kinder eingesetzt hat, in den Umgruppierungslagern, auf der Flucht, am Rande der Städte, wo die Heimatlosen Zuflucht suchen. Alle Welt hat es sich ausrechnen können, aber man hat nichts dagegen getan. - In den ,Umsiedlungslagern' hat jedes algerische Kind (und in einigen Lagern beträgt der Anteil der Kinder bis zu 60 %) nach einer neuen Verordnung Recht auf einen Liter Milch wöchentlich - aber nicht einmal diese Menge steht überall zur Verfügung.

Der Präsident des DRK hat vor einigen Monaten die deutsche Jugend zu einer .Aktion Milchflasche' aufgefordert, bei der Jugendliche in der Bundesrepublik Geld vor allem für die Beschaffung von Milch sammeln sollen; denn nach einer Mitteilung des Roten Kreuzes sind 90 000 algerische Flüchtlingskinder in Tunesien und Marokko vom Hunger bedroht. Aber bitter wenig ist bisher geschehen. Dabei ist die Hilfe für algerische Flüchtlinge, die sich in Tunesien und Marokko wenigstens in Sicherheit befinden, technisch das Einfachste von der Welt, während den Insassen der französischen Umgruppierungslager natürlich viel schwerer beizustehen ist. Doch auch hier müßte sich ein Weg finden lassen. Seit Monaten ist in der Welt bekannt, wie es in diesen .Konzentrationslagern' aussieht - oder hat es sich noch immer nicht herumgesprochen? Schon im Juli 1959 schilderte Pierre Macaigne im ,Figaro' die Zustände im .Umgruppierungslager' Bessombourg: „123 Zelte stehen eng beieinander unter den Pinien, 57 strohbedeckte Holzhütten und 47 feste Häuser. Auf gut Glück zu 15 Personen zusammengepfercht, leben dort seit Juni 1957 die Familien in einem unbeschreiblichen Durcheinander ... Es herrschte gerade eine Hitze von weit über 40°, was bedeutet, daß das Leben in so einem Zelt unerträglich ist." Der Berichterstatter mußte weiter notieren, die Bevölkerung ernähre sich von Grieß, der von der Verwaltung zugeteilt werde. Jeder Umsiedler bekomme davon etwa 120 g am Tag. Milch werde zweimal wöchentlich verteilt, anderthalb Liter je Kind. Seit acht Monaten habe es keine Zuteilung von Fett gegeben, seit einem Jahr keine Zuckerzuteilung ...

Schon am 5. 6. 1959 hatte die französische Zeitschrift ,Temoignage Chretien' eine erste Übersicht über die Verhältnisse in Lagern gebracht, die auf Untersuchungen Monsignore Rodhains vom katholischen Hilfsverband basierte. Rodhain hatte viele Lager besuchen können und berichtet, daß in zahlreichen Zentren der Hunger herrsche; infolge der Unterernährung habe die Tuberkulose sprunghaft zugenommen.

Auch in Frankreich selbst existieren Lager für .verdächtige' Algerier. Der protestantische Pfarrer Beaumont, der das Lager Larzac besichtigen konnte, in dem fast 2 000 Internierte leben, mußte später erzählen, daß dort die Baracken praktisch unheizbar sind.

Zur de Gaulleschen .Totalen Pazifikation', von der er in seiner Fernsehrede zur Bekämpfung des Putsches sprach, gehört offenbar auch, nach wie vor, die Beschlagnahme unerwünschter Veröffentlichungen. So wurde verboten das letzte Heft von Sartres Zeitschrift ,Temps modernes', weil es einen Brief eines algerischen Mädchens gebracht hatte, außerdem die neueste Ausgabe der linkskatholischen Wochenzeitschrift ,Temoignage Chretien' (mit dem IRK-Bericht).

Die algerischen Lager sind zwar keine perfekten Vernichtungslager im Sinne der späteren Nazi-KZs, dennoch leben ihre Insassen unter .herabgesetzten Lebensbedingungen'. Auch die Existenz solcher Umgruppierungslager bedeutet ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit - zu schweigen von jenen Konzentrationslagern im engeren Sinne, in denen hunderttausend Algerier gefangen sein sollen. (Die Gefängnisse in Algerien sollen 150 000 Insassen zählen).

Die katholische und protestantische Kirche Frankreichs haben in einem gemeinsamen Appell die Öffentlichkeit zur Hilfe für die „Umgruppierten" aufgerufen; der letzte gemeinsame Aufruf beider Konfessionen erfolgte im Jahre 1942. Es war ein Protest gegen die Verschleppung von Juden. Und wir hätten keinen Anlaß, am algerischen Krieg intensiv Anteil zu nehmen?! Ein erster Schritt wären karitative Hilfsaktionen größeren Ausmaßes.

Verbrannte Erde

Im Zusammenhang mit den ,Umgruppierungen' stehen die ,Vergeltungs- und Säuberungsaktionen' der französischen Armee gegen zahllose algerische Dörfer, die im Verlauf des Krieges ausradiert worden sind. Die Zerstörung der Wohnstätten findet entweder langsam planmäßig oder ,spontan', d. h. während militärischer Operationen mit Luftbombardements statt, so wie sie von Zeit zu Zeit als .Offensiven' der französischen Armee gemeldet werden. Die Natur solcher Aktionen hat z. B. in einer Rede vor dem Pariser Parlament am 13. 5. 58 der Abgeordnete Pierre Clostermann, selbst Luftwaffen-Offizier und aktiver Algerienkämpfer, beschrieben: ,So kam es zum Beispiel, daß wir gezwungen waren, eine Säuberungsaktion von der Luft aus in den Dörfern dieser Region durchzuführen, damit nicht die Fellaghas dort auf dem Durchzug Unterschlupf fänden. Ich selbst habe als fliegender Befehlsstand und Zieleinlenker an einer gewissen Anzahl solcher Operationen teilgenommen. Glauben Sie mir, es hat mir das Herz gebrochen, mir und allen meinen Kameraden, die teilgenommen haben.!

Ein Korrespondent des .Observer' berichtete am l. März 1959:

,Ende Januar wurde ich Zeuge einer Schlacht . . . Massiertes Artilleriefeuer, unterstützt durch Bombardement aus der Luft, ging nieder auf ein Gebiet, das innerhalb von wenigstens 12 Stunden total verwüstet wurde.' -

„Man setzt Napalm-Bomben in Algerien ein." .France Observateur' brachte am 2. April 1958 ein Interview mit Pater Berenguer, das folgende Sätze enthält: ,Sie sprechen von Gefangenen, die erschossen werden. Handelt es sich um Nationalisten, die im Zuge des Gefechts gefangen genommen wurden?' Antwort: ,Nein. Es handelt sich um ,Verdächtige', die bei einer Razzia aufgebracht wurden und denunziert worden sind. Sie werden der ordnungsgemäßen Justiz entzogen . . .'

Andre Louis, außenpolitischer Kommentator der Brüsseler Zeitung ,La Cite', verbrachte drei Wochen in Algerien und berichtete anschließend in der belgischen Zeitung u. a. davon, daß im Zuge französischer Vergeltungs- und Umsiedlungsaktionen Brunnen zugemauert, Quellen verstopft oder ungenießbar gemacht wurden.

Im schwedischen ,Vecko Journalen' vom 21. März 1958 hieß es über eine solche Vergeltungsaktion: ,Väter und Söhne wurden erstochen, als die französischen Soldaten die Dörfer besetzten. Mütter und Töchter wurden vergewaltigt und dann getötet. Junge Mädchen wurden zusammengetrieben und dann weggebracht, niemand weiß wohin ... Das Dorf wurde von Panzern umstellt . . .'

Christina Lilliestierna berichtete in derselben Zeitung vom Eindruck, welchen Flüchtlingszüge hinterlassen, die solchen Greuel entkommen: ,Ich sah mehrere in ihrem Beruf hart gewordene Journalisten, die Kriege und Revolution mitgemacht hatten, ihre Fassung verlieren und sagen, daß sie noch mehr zu hören und zu sehen nicht ertragen würden. Als wir eine neue Gruppe geisterhaft herannahender Flüchtlinge über die sandigen Flächen heranwanken sahen, gebeugte Frauen, die ihre Kinder auf dem Rücken trugen, kleine Mädchen mühsam sich fortbewegend auf nackten Sohlen, da nahmen wir Journalisten Reißaus vor diesen neuen Zeugen der Unmenschlichkeit.'

Von der Praxis der Vergeltungsaktion legten Anfang April 1959 35 katholische Geistliche, die als Reserveoffiziere in der Französischen Algerienarmee Dienst taten, Zeugnis ab: ,Summarische Exekutionen von Soldaten und Zivilisten sind keine Ausnahmefälle - beschlossen von juristisch unzuständigen Behörden, ausgegeben meist als angebliche Fluchtversuche, und gedeckt von offiziellen Berichten. Schließlich kommt es auch nicht selten vor, daß im Verlauf der Operationen Verwundete niedergemacht werden. Wir müssen hinzufügen, daß diese Praktiken weit verbreitet sind.' Auch das Amt der katholischen Militärgeistlichkeit hat sich gegen solche Methoden zur Wehr zu setzen versucht.

Aber werden solche Ermahnungen viel Erfolg haben, solange die französische Armee den Befehl befolgen muß, mit allen Mitteln die Kader der algerischen Unabhängigkeitsbewegung zu vernichten, d. h. praktisch einen wesentlichen Prozentsatz der männlichen Bevölkerung Algeriens?

Man muß sich einmal vergegenwärtigen, welche Maßnahmen zur .Befriedung' eingesetzt werden: man hat in den großen Städten die Algerier in Ghettos verbannt, die Städte vom flachen Land isoliert, die Grenzen nach Marokko und Tunesien durch riesige Anlagen, elektrische Sperren abgesichert, 365 000 Menschen mußten aus dem Niemandsland längs der Grenzsperren fliehen.

Werden die Stacheldrahtzäune durchbrochen, setzt automatisch Artilleriefeuer ein. (Der Erfinder dieser .großartigen Anlage', Morice, war maßgeblich beteiligt beim Bau des Atlantikwalls für Hitler. Überhaupt sind häufig Petain-Franzosen die erbittertsten Feinde der Algerier, so Tixier-Vignancourt, .Minister für Jugendfragen' bei Petain, heute einer der anti-algerischen Scharfmacher).

Das Schlimmste: Die Folter

Leider wissen wir unwiderlegbar Genaues über die ebenfalls weite Verbreitung der Folter im algerischen Krieg. Damit kommen wir wohl zum entsetzlichsten und folgenschwersten Kapitel in der algerischen Auseinandersetzung. Es ist hier nicht der Ort, auf die ekelhaften und entwürdigenden Einzeltatbestände einzugehen; vor Augen halten müssen wir uns nicht nur die Schrecklichkeit des individuellen Falles, sondern auch die übergroß gewordene Zahl solcher .einzelner Fälle', deren jeder schrecklich genug ist, und die uns insgesamt drängen, weitgehende Konsequenzen zu ziehen.

Ende 1957 erschien in der Zeitung ,Le Monde' eine Artikelserie von Serge Adour, in der es hieß: ,Weshalb es leugnen, die Folter wird laufend angewendet, und jedermann weiß es. Die Aufständischen, welche die Operationen überleben - diejenigen, die nicht im Kampfe getötet worden sind oder in der ihm nachfolgenden Wut - und die aufgegriffenen Verdächtigen werden gefoltert. Wo und durch wen? In den Gendarmerien, in Polizeistationen und in den Räumen der Auskunftsdienste der Armee. Gleichermaßen beschäftigen sich damit einige ,SAS' (Zivilverwaltungsoffiziere der französischen Armee).' Es folgte eine eingehende Aufzählung aller Fälle, in denen Foltern angewandt werden (oder jedenfalls damals wurden): sowohl im Zusammenhang mit Kampfhandlungen wie auch gegenüber Häftlingen, die der Justiz durch die Armee entzogen werden.

Im April 1957 hatte der General de Bollardiere, Abschnittskommandeur in Algerien, aus Protest gegen diese Methoden um seine Versetzung gebeten! Die radikalsozialistische Algerien-Kommission vom April 1957, die solche Vorwürfe überprüfen wollte, hatte aber ihre Reise nicht antreten können, da anzunehmen war, daß die radikalen Algerien-Franzosen ihre Mitglieder nicht unbeschädigt an die Untersuchungsarbeit gehen lassen würden! Ja, es haben sich Fanatiker, auch ein Feldprediger der X. Militärregion gefunden, die ausdrücklich für .verschärfte Methoden' eingetreten sind. Sie und ihresgleichen reden von einer .Pariser Psychose' und meinen, die ,Armee, das Gewissen der Nation', habe sich nichts vorzuwerfen, sondern wähle schon die rechten Methoden. Massu: ,Die elementare Bedingung unserer Tätigkeit in Algerien liegt darin, daß diese Methoden in unserer Seele und in unserem Gewissen als notwendig und moralisch gültig anerkannt werden. Die Entfesselung einer gewissen Pariser Presse soll uns nicht rühren. Sie bestätigt nur die Rechtmäßigkeit und Wirksamkeit unserer Schläge.'

Ministerpräsident Debre zu den Berichten gefolterter algerischer Studenten, die in dem Buch ,La Grangrene' veröffentlicht und 24 Stunden danach beschlagnahmt wurden: ,. . . von A bis Z erlogen ... verfaßt von zwei gemieteten kommunistischen Lohnschreibern.'

Leider spricht erdrückendes Tatsachenmaterial gegen die Verharm-losungsversuche aller Interessierten.

Der Erzbischof von Lyon, Kardinal Gerlier, sah sich im Oktober 1958 veranlaßt, französische Polizeibeamte aus Lyon zu beschuldigen, verhaftete Algerier durch .Brutalität schwerster Art' mißhandelt zu haben. Das Internationale Komitee gegen das Regime der Konzentrationslager stellte (laut ,Le Monde' vom 17. 8. 57) fest, daß viele Algerier tage-, wochen-, ja monatelang in den Händen der Polizei oder des Militärs blieben, ohne daß irgendeiner Behörde davon Mitteilung gemacht werde; ja, es komme vor, daß das Verhör so grausam betrieben werde, daß das Opfer danach sterbe. Das Amt der französischen Armeegeistlichen hat im April 1959 gegen die Folterungen gefangener Algerier in Nordafrika protestiert und sie als Auswüchse bezeichnet, die ,die Ehre der Armee und der Nation schwer beflecken'! Auf ihrem 30. Kongreß wandten sich die Christlichen Gewerkschaften Frankreichs am 21. 7. 1959 gegen ,die Duldung der Folter und der Zustände in den Konzentrationslagern'.

Die ,Research and Information Commission' der internationalen (vornehmlich westlichen) Studentenkonferenz (ISC) mußte in einem Untersuchungsbericht vom Januar 1959 aufdecken, daß zahlreiche algerische Studenten und Studentenvertreter ermordet oder gefoltert oder ohne Rechtschutz gefangen gehalten worden sind. Der Verband der französischen Studenten, UNEF, erklärte am 8. Januar 1959, die französische Studentenschaft sei tief bewegt von den Beschuldigungen, die wegen der Folterung zweier algerischer Studenten erhoben worden seien, und der Verband forderte eine sofortige Untersuchung. Der im Zusammenhang mit Folterungen belastete Polizeichef Wybot ist inzwischen zur Interpol versetzt worden. Großes Aufsehen erregte der Fall der algerischen Studentin Djamila Bouhired, die nach mehrtägigen Elektrofoltern zum Tode verurteilt, später .begnadigt' wurde. (Vgl. Literaturverzeichnis.) Besonders niederschmetternd waren die Enthüllungen, die M. Farrugia, ehemals Häftling Nr. 77721 in Dachau, am 8. 10. 1959 in der Zeitung ,L'Express' veröffentlichte. Farrugia schildert die Zustände im französischen Gefängnis von Berrouaghia, die sich von denen in Dachau nur ungenügend unterscheiden. Der SPIEGEL berichtete am 2. 11. 59 von Massenfolgerungen von Algeriern, die in Verdacht gestanden haben sollen, an der Abwerbung von Fremdenlegionären beteiligt gewesen zu sein. Diese Reihe von Veröffentlichungen, die im wesentlichen unwiderlegt geblieben sind, ließe sich weiter fortsetzen; erinnert sei noch an den Fall des Gewerkschaftlers Idir, und andere algerische Gewerkschaftler, an die Bücher von Jean-Jacques Servan-Schreiber, ,Als Leutnant in Algerien' und Paul-Henri Simon ,Contre la Torture'.

Dort finden sich z. B. Aussagen französischer Militärs über Folter mit elektrischem Strom, Wasser, Messerstichen.

Zuletzt hat die französische Liga für Menschenrechte unter dem Vorsitz des ehemaligen Ministers Daniel Mayer zu den Nachrichten des IRK-Berichtes vom Januar 1960 Stellung genommen. Dieser Bericht, so erklärte die Liga, liefere den Beweis dafür, daß Folterungen und Gewaltakte, über die man schon seit 1955 viele Klagen vernommen habe, heute noch nicht abgeschafft seien und daß alle Dementis nicht mit der Wahrheit übereinstimmen.

Aus dem Material, das über französische Folter-Verbrechen vorliegt, zieht die ,Research and Information Commission' des ISC folgende Konsequenz: .Entweder die höchsten Instanzen sind unfähig, ihre Verbote gegen Übergriffe auch durchzusetzen und untergeordnete Polizei- und Armee-Offiziere haben tatsächlich völlig freie Hand, oder die höchsten Stellen haben es versäumt, ihre Autorität einzusetzen, um den Folterungen ein Ende zu machen.' Man bedenke, was ein solches Urteil über unsere Gesellschaft und »europäische Kultur' aussagt, wie katastrophal amtlich verkündete Idealität und konkrete Verbrechens- und Leidenspraxis divergieren.

Nobelpreisträger Mauriac: „De Gaulle, Debre, Michelet empören sich schon bei dem Gedanken an eine Folterung, genauso wie sich die Spezialisten, die Radikalen und die MRP's der vierten Republik empört hatten; aber Regierungen wechseln, während die Polizei bestehen bleibt, und alle Regierungen haben eines gemeinsam: nicht ohne Polizei auskommen zu können, und fürchten deshalb, ihr zu mißfallen."

Grausamkeit auf beiden Seiten

Offenbar hat auch die FLN die Regeln des Kriegsrechts schwer verletzt (diese einmal als anwendbar unterstellt, womit der Krieg in Algerien nicht länger als Partisanen-Scharmützel gewertet würde, das er de facto seit langem ja auch nicht mehr ist). Die FLN hat sich auf ihrem Kongreß vom 20. 8. 56 in Soummam zu den Regeln der internationalen Landkriegsordnung bekannt. (Darüber Werner Plum in FH, S. 118).

Verläßliches Material darüber zu bekommen, wird solange schwer möglich sein, als nicht von algerischer Seite eine Selbstkritik einsetzt. Nach französischen Berichten hat etwa die FLN am 28. 5. 1957 dreihundert Algerier, die der rivalisierenden algerischen Gruppe MNA unterstanden, bei Melouza niedergemacht. Die FLN beschuldigt ihrerseits die Franzosen, für das Massaker verantwortlich zu sein. Einen ähnlichen Massenmord sollen ALN-Einheiten 1958 in der Nähe von Akfadou in Groß-Kabylien begangen haben, um sich an Verrätern zu rächen. Eine .Gegenrechnung' mit Vorfällen solcher Art hat die Regierung in Algier aufgemacht. (Auszüge in ,Le Monde' vom 14. 12. 57).

Die gemäßigte algerische Opposition MNA wirft der FLN zahlreiche Morde vor, unter anderem an den algerischen Arbeiterführern Mohammed Nadji und Abdellah Fillali.

Die algerische Armee ist eine im Partisanenkrieg großgewordene Organisation, die ihre Leute zu Attentaten und Sabotageakten anhält. Krim Belkassem, der algerische Kriegsminister, schreibt darüber selbst (in: .Internationale Politik', Belgrad, 10. Jahrgang, Heft 232):

,Um in die Reihen der Nationalen Befreiungsarmee aufgenommen zu werden, muß der Kandidat wenigstens einen Kolonialisten oder einen bekannten Verräter getötet haben. Die Verübung eines Attentats bedeutet die Beendigung der Kandidatenzeit für die Nat. Befreiungsarmee.' Und über die Fidajins: ,Es ist dies eine richtige Geheimorganisation, deren Aufgabe darin besteht, jeden bekannten Kolonialisten oder Verräter, der ihnen vom Informationsdienst der Nat. Befreiungsarmee genannt wird, zu liquidieren.'

Diese Tatsachen, so ernst sie sind, sollten uns nicht dazu verleiten, in scheinbarer .Objektivität' jeder der kämpfenden Seiten Schuld zuzumessen und unsere Hände dann weiter in Unschuld zu baden.

Bedenken wir, was Sartre in seiner Einleitung zu Alleggs ,Question' sagt:

,In Algerien ist unsere Armee auf das ganze Territorium verteilt, wir haben die überlegene Zahl, das Geld, die Waffen. Die Aufständischen haben nichts, außer dem Vertrauen und der Unterstützung eines großen Teiles der Bevölkerung: wir haben, uns selbst zum Trotz, die Grundzüge dieses Bruderkrieges bestimmt . .. Das Verhältnis ihrer Kräfte zu den unseren zwingt sie, aus dem Hinterhalt anzugreifen.'

Der Algerienexperte Oppermann, der in dem Konflikt eine wissenschaftlich-neutrale Haltung einnimmt und sich scheut, etwas vorschnell Vorwürfe gegen die französische Armee zu erheben, stellt zu dieser Frage fest, die Mißhandlungen und Folterungen, die im algerischen Krieg auf beiden Seiten bisher bekannt geworden seien, dienten offenbar verschiedenen Zwecken. Während es sich seitens der Aufständischen um Rache- oder Terrorakte handele, benutzten französische Einheiten diese Methoden zumeist, um Auskünfte über den geheim operierenden Gegner zu erpressen. (Opp., ,Die algerische Frage', S. 104).

Seien wir froh, daß wir die Frage, ob ein Partisanenkrieg zur Erreichung der nationalen Unabhängigkeit und menschenwürdiger Lebensumstände moralisch gerechtfertigt ist, nicht entscheiden müssen. Unsere Aufgabe als Deutsche ist es nicht, für die FLN bedingungslos Partei zu ergreifen. Aber es ist Aufgabe der Weltöffentlichkeit, endlich entschieden darauf zu dringen, daß dieser fürchterliche Krieg, die Unterdrückung der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, aufhört. Schon aus Gründen der Menschlichkeit ist die algerische Frage eine internationale geworden: und solange die Machtpolitiker noch meinen, sich neutral verhalten zu können, sind private Vereinigungen umso mehr aufgefordert, der Stimme des Gewissens Ausdruck zu verleihen.

Insgesamt kann man aus dem Unfaßbaren, was über Exzesse des militärischen Kampfes um Algerien uns bekannt wurde, nur einen Schluß ziehen: daß alle verantwortlich Denkenden ihren ganzen Einfluß aufbieten müssen, um einer solchen Auseinandersetzung ein Ende zu machen. Unser aller unverbindlich-pseudoobjektive Haltung ist es, die dazu beiträgt, daß dieser Kolonialkrieg weitergeht, anstatt daß auf den moralischen Druck der Weltöffentlichkeit hin endlich über Form und Garantien' der bereits zugestandenen algerischen Selbstbestimmung verhandelt wird, auf daß man daran gehen kann, die Leiden des Krieges zu lindern und menschenwürdige Lebensverhältnisse für die Algerier und die Franzosen in Algerien zu schaffen.

Solange KZ und Folter regieren, kann es nur eine permanente Revolution der Herzen geben, die dagegen protestiert, daß ein ganzes Volk in diesem Kampf langsam verblutet. Was nützt die Berufung auf das hohe Gut der Freiheit, solange im Namen des Abendlands in Algerien eine Militärdiktatur die Menschenrechte mißachtet, eine Diktatur, die Zustände zu verantworten hat, welche bereits an die schlimmsten Zeiten des zweiten Weltkrieges erinnern.

Der Friede wird in Algerien nicht einkehren, bevor nicht das Recht auf Selbstbestimmung nach Art. l und 55 der UNO-Carta den Algeriern wirklich gewährt wird und eine internationale Kontrolle seine Verwirklichung überwacht.

Algerien und Bundesrepublik

Das Algerien-Problem ist de facto längst eine internationale Frage, obwohl Frankreich sich noch immer hinter dem rein formalen Argument verschanzt, es handle sich um eine rein innerfranzösische Angelegenheit.

Von Frankreich wird immer wieder eingewandt, Algerien gehöre völkerrechtlich zu Frankreich, und daher sei jede Befassung mit der Algerien-Frage eine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten. Mit der Einheit zwischen Frankreich und Algerien ist es allerdings nicht so gut bestellt, wie dieses formal-juristische Argument glauben machen möchte. Ein besonderes, diskriminierendes Wahlsystem für Algerien., Zölle zwischen Algerien und Frankreich und vieles andere mehr deuten fundamentale Unterschiede an. Die völkerrechtliche Stellung Algeriens bleibt umstritten; immerhin ist zu bedenken, daß 1830 Algerien ein Völkerrechtsubjekt gewesen ist, das Verträge mit zahlreichen Staaten abgeschlossen hat. Und auch die nationale Souveränität Polens konnte nach einer langen Zeit der Unterdrückung wieder aufleben! Angesichts der Emanzipationsbewegungen zahlreicher Völker wird man nicht im Ernst behaupten wollen, daß das Recht auf Unabhängigkeit verjähre. Die enge Verflechtung zwischen Frankreich und der Bundesrepublik hat uns Deutsche besonders eng mit dem algerischen Krieg in Verbindung gebracht. Wir können nicht einerseits für eine enge Zusammenarbeit mit Westeuropa, besonders Frankreich, eintreten und andererseits so tun, als ginge uns das Schicksalsproblem des wichtigsten Partners der kleineuropäischen Organisation nichts an.

Man lasse doch die Streitigkeiten mit Frankreich sein - so wird argumentiert, jetzt, nachdem eine jahrhundertlange Erbfeindschaft im Zeichen Europas endlich überwunden sei, man bewältige erst einmal die eigene Vergangenheit, bevor man mit dem Finger auf Frankreich zeige, das seine eigenen Dinge ohne deutsche Einmischung erledigen müsse. So oberflächlich wird die deutsch-französische Freundschaft von jenen verstanden, die nicht nur eine wirkliche Bewältigung unserer eigenen Vergangenheit unmöglich machen, sondern im Begriff sind, den Geboten der Menschlichkeit in der Gegenwart durch moralische Apathie, ja indirektes Einverständnis mit heutigem Unrecht zuwiderzuhandeln. Denn die Fallschirm-Obersten mit dem SS-Geist sind nicht Frankreich, und wir überwinden unsere Vergangenheit nicht dadurch, daß wir ihre Taten mit wohlwollendem Stillschweigen übergehen. Frankreich sollte uns mehr bedeuten als ein Partner in einem politischen Zweckbündnis, das auf Kosten der Freiheit geht. Auch wenn ein hundertprozentiges politisches Engagement für die algerische Unabhängigkeitsbewegung von der Bundesrepublik wegen ihrer Interessenlage vielleicht nicht zu verlangen ist, so können wir doch einer moralischen Entscheidung nicht dadurch ausweichen, daß wir dem ungeheuerlichen Geschehen in Nordafrika zuschauen, als seien wir unbeteiligt. Gerade im rechtverstandenen dauernden Interesse Frankreichs dürfte es liegen, wenn wir jenen französischen Kräften taktvoll Beistand zu leisten versuchen, die es nicht zulassen wollen, daß Frankreich sich vor der ganzen Welt auf die Dauer ins Unrecht setzt.

Frankreich ist für uns nicht allein dadurch definiert, daß es Partner der Bundesrepublik in der WEU, Montanunion, EWG und in der Nato ist. Frankreich selbst ist in der Algerienfrage gespalten. Juin, Lacoste, Debre, Bidault stehen Persönlichkeiten wie Kardinal Feltin, Francois Mauriac, J. P. Sartre, Mendes-France gegenüber, die der Stimme des Gewissens gegen nationalistische Hysterie Ausdruck verleihen. Noch gibt es in Frankreich Zeitungen wie „Le Monde", „France-Observateur", „Temoignage Chretien" und „Express", die die Exzesse der „Befriedungsaktion" anprangern oder überhaupt auf eine gerechte Lösung des Konflikts drängen.

General de Gaulle hat im letzten Augenblick die Machtergreifung der Kolonialfaschisten von Algier verhindern können; aber noch ist ihre Zielsetzung nicht voll entlarvt, ihr Einfluß nicht endgültig gebannt worden. Ihr Anliegen, bedingungslose Verteidigung der französischen Privilegien in Algerien spukt weiter durch die französische Politik. Noch immer haftet de Gaulles Versprechung vom 16. 9. 59 etwas Verschwommenes an, denn unmittelbar nach der Erklärung des Staatschefs erläuterte Ministerpräsident Debre sie in .Direktiven', in denen es folgendermaßen heißt:

,Das bedeutet, daß es zwischen der Regierung und der Organisation der Rebellen keine politischen Verhandlungen geben, daß es keine freundschaftliche Einmischung von außen geben kann; und etwas weiter: ,Das Wesentliche ist also . . . alles ins Werk zu setzen, damit die freie Wahl der Geister gegen die Sezession getroffen wird, damit der engen Verbundenheit mit Frankreich zum Erfolg verholten wird.'

Kommunistische Einflüsse?

An einer solchen Definition der französischen Algerien-Politik die z. B. bis heute eine Uno-Kontrolle der .freien' algerischen Wahl ablehnt, diese Wahl dafür aber der französischen Armee zur Überwachung anvertrauen will, hat die Bundesregierung nichts auszusetzen gehabt.

Weiterhin wird die wohlwollende Duldung, ja Unterstützung der französischen Algerienpolitik durch die Bundesregierung damit begründet, daß es Nordafrika vor dem Kommunismus zu retten gelte. Diese These, von den Propaganda-Offizieren der französischen Algerien-Armee aufgebracht und von Bundeskanzler Adenauer übernommen, ist nichtsdestoweniger falsch. Im Gegenteil, es ist geradezu erstaunlich, wie sehr sich die algerische Unabhängigkeitsbewegung hat von kommunistischem Einfluß freihalten können. Sie kämpft für die ursprünglich französischen Ideen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Demokratie, getreu dem Gedankengut der Französischen Revolution, das auf dem Umweg über ihre kolonialen Herren zu ihnen gekommen ist. Es geht wirklich nicht an, die Thesen der „Action psychologique", die Propaganda des „5. Büros", nach der Christentum und westliche Zivilisation in Nordafrika gegen den Marxismus zu verteidigen seien, zu übernehmen.

„Die FLN ist weder faschistisch noch kommunistisch, weder antidemokratisch noch antisemitisch. Kreise, die solche Tendenzen bei uns suchen, werden keine Resonanz finden", erklärte Ait Ahcene, der FLN-Vertreter in Bonn, am 7. 12. 58, nachdem er am 5. 11. auf deutschem Boden das Opfer eines Anschlages der ,Roten Hand' geworden war, an dessen Folgen er inzwischen verstorben ist.

Der Präsident der gemäßigten algerischen Opposition, M. N. A. Messali Hadj, sagt dazu: ,Bis jetzt war der kommunistische Einfluß in der algerischen Revolution so gut wie Null. Wenn es uns bis jetzt gelungen ist, jede Hypothek, Bedingung oder Kontrolle unserer Zukunft durch irgendwelche Mächte oder Gruppen unter sowjetischem oder anderem Einfluß zu verhindern, so heißt das aber nicht, daß man ewig auf den Widerstand des algerischen Volkes gegen kommunistische Einflüsse zählen kann.' (Real. Alg. Heft l).

Peter Blachstein, der vor einigen Monaten eine Studienreise durch Nordafrika unternommen hat, berichtete, er habe dort niemand getroffen, der eine Neigung zum Kommunismus oder eine kommunistische Ideologie vertreten hätte. Auch die Bundesregierung weiß sehr wohl, daß die Nationalbewegung der mohammedanischen Algerier alles andere als kommunistisch inspiriert ist. Wenn der kommunistische Einfluß zunehmen sollte, wäre das einzig und allein dem Westen zuzuschreiben, der seiner eigenen Freiheitsidee im Falle Algeriens untreu geworden ist.

Die algerische KP hat auch vor ihrem Verbot durch die Franzosen nie nennenswerten Einfluß besessen. Wie wenig die FLN von der Unterstützung etwa durch Rot-China hält, wurde deutlich, als jener Flügel der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, der in Erwägung gezogen hatte, chinesische Freiwillige nach Algerien zu rufen, auf dem letzten Kongreß der FLN von Mitte Januar 1960 ausgebootet wurde.

Leider tritt Chruschtschow, mit dem die französische KP in der Algerienfrage gegenwärtig kurz und hofiert de Gaulle, von dem er sich offenbar Zugeständnisse in bezug auf die Oder-Neisse-Linie erhofft und dessen Mißhelligkeiten mit den Angelsachsen er sich zunutze zu machen sucht. Aber die internationale Aktivität der FLN ruht derweilen nicht, sondern erzielt Erfolge in Afrika, Asien und Lateinamerika.

Eine groteske Kehrtwendung leistete sich die französische KP nach jener Chruschtschow-Rede von Anfang November 1959, in der sich Chruschtschow für jene Selbstbestimmung ausgesprochen hat, die de Gaulle den Algeriern vorschlug.

Die NATO schweigt

Der Algerien-Krieg ist zur Zeit der einzige Krieg, in dem die Waffen der Nato eingesetzt werden.

Das Interesse der französischen Armee ist ganz auf Nordafrika gerichtet, und man hat bei dieser Armee das Gefühl, durch deutsche Freunde im Rücken abgeschirmt zu sein.

Zum 10. Jahrestag der Nato hielt Admiral Auboyenau, Befehlshaber der französischen Marine im Mittelmeer und interalliierter Kommandant im westlichen Mittelmeer, eine Rede, in der er behauptete, die französische Armee in Algerien erfülle ,die traditionelle Mission der Beschützung von Bevölkerungen', indem sie .unter großen Opfern seit 4 Jahren das gefährlichste Unternehmen der Subversion' bekämpfe, ,das jemals gegen die Nato unternommen wurde.'

Schon hat die arabische Welt den Eindruck, der algerische Krieg werde auf französischer Seite mit deutschem Geld, amerikanischen Waffen und den Nato-Divisionen Frankreichs geführt, die eigentlich und angeblich zur Verteidigung Westeuropas bestimmt sind. Der französische Ministerpräsident Debre zum Beispiel fordert immer wieder ,volles Verständnis' von den Natopartnern für Frankreichs algerischen Krieg; am 4. 6. 59 drohte er gar, die französische Mitgliedschaft in der Nato müsse überprüft werden, wenn die Verbündeten nicht den französischen Standpunkt unterstützten.

„Die Vertragsparteien sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker zu schützen, die auf die Prinzipien der Demokratie, der individuellen Freiheit und der Rechtsherrschaft gegründet sind. Sie trachten danach, Stabilität und Wohlergehen im nordatlantischen Gebiet zu fördern." So heißt es in der Präambel des Nordatlantik-Paktes. Daß alle diese Verpflichtungen durch die französische Algerien-Politik verletzt werden, spricht sich in Skandinavien, England und den USA langsam herum. So konnten französische Forderungen nach einer aktiven Unterstützung Frankreichs im algerischen Krieg von den Bündnispartnern des Nordatlantik-Paktes nicht erfüllt werden. (Dies verlangte vor allen der frühere Ministerpräsident Bidault, der jetzt als christlich-demokratischer Politiker Vorsitzender der weit rechts stehenden Bewegung für ein französisches Algerien ist).

Am unverhohlensten wird der französische Standpunkt in der Algerienfrage unter allen Natopartnern von der Bundesregierung gebilligt. So hat Bundeskanzler Adenauer ausdrücklich das französische Vorgehen in Algerien gebilligt mit der Begründung, es gelte, den Kommunismus von Nordafrika fernzuhalten. Einigkeit mit Frankreich bezeichnet er als dringendes Anliegen, ja als seine .Lebensaufgabe', ohne Einschränkungen in bezug auf den französischen Kolonialkrieg zu machen (am 29. 11. 59).

Kampf gegen Untermenschen?

Als Indiz für die Haltung der Bundesregierung muß es angesehen werden, daß ein Oberstleutnant namens Schwerdtfeger in der offiziösen Zeitschrift „Wehrkunde", ohne desavouiert zu werden, schreiben konnte, es handle sich bei der algerischen Befreiungsarmee nicht um einen Volksaufstand gegen einen Unterdrücker, sondern um einen von außen gesteuerten subversiven Krieg. Er zeigte sich erfreut über die ,sehr gute infanteristische Ausbildung', die bei den Operationen in Algerien die französischen Soldaten erführen, und berichtete vom französischen Wunsch, daß die „Erfahrungen auf dem Gebiet des subversiven Krieges und der psychologischen Kampfführung auch den Alliierten zugute kommen müßten". Zu allem Überfluß garnierte er seinen Kriegsbericht mit rassenideologischen Bemerkungen („Der Araber, der nichts Schöpferisches an sich hat . . ."), ebenso wie Oberstleutnant Miksche aus dem französischen Generalstab in einem Tübinger Vortrag (1958) die Notwendigkeit westeuropäischer Vorherrschaft über Nordafrika und den Nahen Osten damit begründete, daß die Araber „nicht die richtige Gehirnstruktur" hätten, eine moderne Zivilisation aufzubauen.

Welche Verkennung: - erst enthält man alten Kulturvölkern die Möglichkeit vor, eine moderne Zivilisation aufzubauen, - und dann wundert man sich, daß sie mit dem industrialisierten Westeuropa nicht konkurrieren können! Die französische Algerienkennerin Germaine Tillion schilderte im „Monat" (Juni 1958) die Algerier von heute: „Es ist möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß sich unter ihnen der Typ des wilden, haßerfüllten und bornierten Fanatikers befindet, den man uns so eifrig hingestellt hat. Was mich anlangt, so zweifle ich nicht an seiner Existenz, aber ich bin ihm nie persönlich begegnet. Die Algerier, die ich kenne, sind zergrübelte und kummervolle Männer, hin- und hergerissen zwischen den widersprüchlichsten Empfindungen, mißtrauisch gegenüber allem, was von den Franzosen kommt, aber noch mißtrauischer gegenüber allem, was nicht von den Franzosen kommt."

Über die entstehende junge Nationalliteratur Algeriens, die europäisches Freiheitsethos und einheimische Unmittelbarkeit verbindet, berichtet die neu erschienene Anthologie von Werner Plum (vgl. Lit. Verzeichnis).

Aber wer interessiert sich schon in Westdeutschland für Kultur und Selbstverständnis des alten (und heute, wenngleich unter furchtbaren Leiden, in seine Zukunft aufbrechenden) Algerien?

Schwerdtfeger, der sich auf seine psychologischen Kenntnisse etwas zugute hält, sollte wissen, wie sehr die algerische Armee auf heimliche Hilfe von Seiten der algerischen Bevölkerung angewiesen ist. Nur durch das Zusammenwirken von Soldaten und bewaffneten Zivilisten, von FLN und der Bevölkerung in zahllosen Dörfern ist es zu erklären, daß Frankreich eine Armee von über 500 000 Mann zur „Befriedung" der Algerier entsenden muß - ohne daß dem hochentwickelten modernen Industriestaat Frankreich diese gelingt. Wie peinlich erinnert Schwerdtfegers Argumentation in der „Wehrkunde", einer Zeitschrift, die schließlich auch von Generalleutnant Kammhuber und Vizeadmiral Rüge herausgegeben wird, an den sowjetischen Standpunkt in der Ungarnfrage: ein Volksaufstand im eigenen Machtbereich wird wegdiskutiert und zum Produkt von Agenten aus dem anderen Weltlager umgefälscht.

Moralische Schizophrenie

Ähnlich paradox liegt die Problematik in bezug auf „freie Wahlen". Einerseits fordert diese die Bundesregierung absolut und als Voraussetzung der Wiedervereinigung; andererseits schweigt sie dazu, wenn ihr Bündnispartner Frankreich in Algerien nur Einheitslisten aus Algeriern und Franzosen zuläßt, wenn dort Widerstrebende mit Lastwagen, notfalls mit Tränengas zur „Wahl" geholt werden, französische SAS-Verwaltungsoffiziere sich zu Treuhändern der Wahlkarten von Mohammedanern aufwerfen.

Wie sehr man in der Bundesrepublik die algerische Wirklichkeit verdrängt und einer Schizophrenie des politischen Urteils huldigt, wird zum Beispiel schon klar aus der Tatsache, daß es unter dem Eindruck der antistalinistischen Revolution in Ungarn möglich war, 7 500 ungarische Studenten im Westen unterzubringen, davon über l 000 in der Bundesrepublik, während es bis heute nicht gelungen ist, auch nur ein paar Dutzend Stipendien an Algerier zu vergeben, an einen Teil jener Hunderte von algerischen Studenten, die in Frankreich nach dem Verbot ihres Verbandes, der UGEMA, ohne Interessenvertretung dastanden, Razzien, Willkür, Verfolgung, ja Foltern ausgesetzt.

Das internationale Echo

Es mag sein, daß die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik sich langsam darüber klar wird, daß der algerische Krieg ein schmutziger Krieg ist. Aber diese Erkenntnis bleibt praktisch so gut wie folgenlos. Es gehört Mut dazu, in der Bundesrepublik darauf hinzuweisen, daß das Algerienproblem unsere eigene Stellung in der Welt durchaus tangiert, oder jene Politik der Bundesregierung zu kritisieren, die deutlich gegen die algerische Freiheitsbewegung gerichtet ist, während das Volk dies de facto hinnimmt. Wie soll beispielsweise die Bundesregierung je hoffen, im Weltforum der Vereinten Nationen Resonanz zu finden, wenn sie „keinerlei Einwendungen" gegen die geplanten französischen Atomversuche in der Sahara hat, während die Vereinten Nationen diese in der letzten Vollversammlung einhellig abgelehnt haben. Wie soll man Verständnis für den Wunsch des deutschen Volkes nach Freiheit und Einheit erwarten, wenn man nicht zu erkennen gibt, daß einem Freiheit und Einheit in der europäischen Nachbarschaft irgendetwas bedeutet? Wird es in Bonn nicht bekannt, daß Ferhat Abbas auch von Leuten wie Nehru aufmerksam angehört wird? Kann nach allem die antialgerische Politik der Bundesregierung in ihrem Interesse liegen - so wie sie selbst diese Interesse versteht? Im nächsten Jahr werden bereits 14 afrikanische Staaten in der UNO-Vollversammlung Sitz und Stimme haben, und ihre Zahl wird weiter wachsen. Schon haben die in Bonn vertretenen arabischen Staaten eine Demarche im Auswärtigen Amt unternommen, die sich gegen die diskriminierende Behandlung der in der Bundesrepublik lebenden Algerier durch westdeutsche Polizei richtet. Ist man sich nicht darüber klar, daß die Einstellung der Entwicklungsländer zu Westeuropa vom Fortgang des Algerienkrieges entscheidend geprägt sein wird?

Jetzt, nachdem eine internationale Brigade für Algerien aufgestellt werden soll, ist die internationale Bedeutung des Algerienproblems weiter gestiegen. (General de Gaulle vor 1945, im Widerstand: ,Wer kämpft, ist frei').

Man kann die Uhr in Algerien nicht mehr zurückdrehen. Die Verwaltungsoffiziere der französischen Armee können nicht ewig das Land regieren. ,Das Algerien-Problem' wird uns auf Jahre hinaus nicht mehr verlassen, und wenn endlich der Friede wieder einkehrt im Land, beginnt erst die Aufbauarbeit und der Versuch, den Opfern dieses mörderischen Krieges zu helfen. Es wird sich um großzügige internationale Hilfe handeln müssen. Und eigentlich müßte sie heute einsetzen!

Leider ist die Aktivität der UNO, gehindert von machtpolitischen Erwägungen, noch nicht sehr groß gewesen. Immerhin wurde schon 1958 von den Vereinten Nationen bei nur 18 Gegenstimmen eine Resolution des afro-asiatischen Staatenblocks gebilligt, die das Recht des algerischen Volkes auf Unabhängigkeit anerkannte. 1959 entschieden sich 39 Staaten in der UNO für die Aufnahme informeller Gespräche zwischen Frankreich und Algerien auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes.

29 afro-asiatische Staaten werden sich neuerlich an die UNO wenden, um gegen Mißachtung der Menschenrechte in Lagern der französischen Armee zu protestieren. - Leider haben nicht alle Vorschläge, die zur Einschaltung der UNO vorgebracht wurden, ein entsprechendes Echo gefunden. Schon im Juli hat z. B. die gemäßigte algerische Opposition, MNA, John Forster Dulles vorgeschlagen, die französischen Truppen in Algerien sollten durch UNO-Truppen ersetzt werden.

Das Internationale Arbeitsamt bereitet eine Studie über die Frage vor, wie Massendeportationen aus politischen Gründen durch eine internationale Institution verhindert werden können; diese Initiative dürfte sich insbesondere auf die französischen Massenumsiedlungen von Algerien beziehen. Sehr wohl zu prüfen wäre, ob die UNO-Kon-vention gegen den Gruppen- und Völkermord, der auch durch die französische Kriegführung in Algerien und ihre großangelegten Vergeltungsaktionen verletzt worden ist. - Obwohl Frankreich 1949 der europäischen Menschenrechte gewesen ist, hat es als einziger Mitgliedstaat des Europarats die Konvention bis heute nicht ratifiziert.

Papst Johannes XXIII richtete einen aufmunternden Brief an die ,Soziale Woche der Französischen Katholiken', die 1959 in Angers stattfand und auf der namhafte Katholiken sich für die Unabhängigkeit der Algerier und eine schnelle Beendigung des Krieges einsetzten.

In der beratenden Versammlung des Europarats dagegen unternahm Frankreich seinerseits Vorstöße in der Algerienfrage. So forderte der französische Abgeordnete Abdesselam die Mitgliedstaaten zur Unterstützung der Pariser Algerienpolitik mit folgender These auf: „Algerien ist genauso wichtig wie Berlin." (Er erzielte einen Abstimmungserfolg).

Das klingt so absurd wie die Auslassungen des Algerien-Franzosen Martel, der zum Kreis um die Putschisten Ortiz und Lagaillarde gehörte: ,Der 13. Mai (Datum des ersten Putsches von Algier - d. R.) war die logische Fortsetzung der Gegenrevolutionen von Berlin, Posen und Budapest.'

Ähnlich zynisch ließ sich Graf Coudenhove von der ,Pan-Europa-Union' in einem Leserbrief an die ,Welt' vernehmen, in dem er ausführte, die französische Armee habe Algerien für Frankreich bewahrt, ,und damit für Europa' (wobei sich die Pan-Europa-Union heute nicht mehr sehr viel mehr unter Europa vorstellt als das Zweckbündnis Adenauer-de Gaulle).

Geld spielt eine Rolle

Was aber sind nun die Gründe der Bundesregierung, Frankreich in seinem Algerienkrieg auf mannigfaltige Weise zu unterstützen? Abgesehen von der übergroßen Bedeutung, die man gerade dem politischen Bündnis mit Frankreich de Gaulles zumißt (so daß selbst das Verhältnis zu den USA und England darunter zu leiden beginnt), dürften es handfeste wirtschaftliche Absichten sein, die das bundes-republikanische Engagement bedingen. In westdeutschen Kreisen besteht, starkes Interesse an Investitionen in Algerien, weil diese von der französischen Regierung stark begünstigt werden. Wie die .Deutsche Zeitung' am 2. 12. 59 meldete, bereiten mehrere westdeutsche Großfirmen nach gründlicher Fühlungsnahme in Algerien bedeutende Projekte vor, so u. a. die Farbwerke Hoechst AG, die Mannesmann AG und die Salamander AG, die beiden ersten über französische Tochtergesellschaften, die letzte direkt. Der Französische Generaldelegierte in Algerien hat in den Ländern des Gemeinsamen Marktes mit Werbefirmen Fühlung aufgenommen. Sobald es das politische Klima gestattet, soll eine Frankfurter Werbegesellschaft zugunsten einer deutschen Beteiligung an der Industrialisierung Algeriens (viermal so groß wie das ehemalige deutsche Reich) in die Öffentlichkeit treten. Eine westdeutsche Privatfirma bohrt bereits öl in Algerien. Bedeutsamer ist, daß wir uns generell verpflichtet haben, im Rahmen der EWG Hunderte von Millionen DM in einen gemeinsamen ,Fonds für die überseeischen Gebiete der Mitgliedsländer' zu zahlen.

Man muß etwas von der algerischen Wirtschaft wissen, die ein Naturschutzgebiet für französische Interessen darstellt, um ermessen zu können, wie wenig diese Mittel zur Hilfe für ein verarmtes, verwüstetes, wahrhaft .unterentwickeltes' Land unmittelbar beitragen, und wie sehr die französische Gesamtwirtschaft von ihnen profitiert. Von den 32 000 Industrie- und Handelsunternehmen Algeriens sind 25 000 mit über 300 000 Beschäftigten in französischem Besitz. Die restlichen 7 000 haben zwar muselmanische Inhaber, beschäftigen aber nur 23 000 Menschen. Mindestens eine Million Algerier sind arbeitslos.

90 % des Sozialprodukts in Algerien kommen 10 % der Bevölkerung zugute (dem französischen Teil) - während sich 90 % der Bevölkerung mit 10 % abfinden sollen. Das mittlere persönliche Einkommen in Frankreich ist dabei durchschnittlich viermal so groß wie das Durchschnittseinkommen in Algerien (auf Algerien-Franzosen und Muselmanen gerechnet!).

Das mittlere durchschnittliche Einkommen der europäischen Arbeitnehmer in der Landwirtschaft Algeriens beträgt etwa l 000 000 Franc jährlich (da die meisten Algerier-Franzosen die leitenden Posten besetzt halten), während das Einkommen der muselmanischen Arbeiter sich nur auf 39 000 Francs im Jahr beläuft. Von den Muselmanen arbeiten 88 % in der Landwirtschaft, von den Europäern nur 14 %.

Die kulturellen und sozialen Verhältnisse sind natürlich entsprechend. Die Kindersterblichkeit ist in den Städten Algeriens bei den Muselmanen dreimal so hoch wie bei den Kolonial-Franzosen. 94 "% der Algerier haben weder lesen noch schreiben gelernt. (Anfang dieses Jahrhunderts hat sich ein französischer Siedlerkongreß .wegen der damit verbundenen wirtschaftlichen Gefahren' gegen den Volksschulunterricht für algerische Kinder gewandt).

Kein Wunder, daß seit Beginn der französischen Besetzung Algeriens immer wieder Aufstände die fremde Vorherrschaft zu erschüttern suchten. Auch vor dem Ausbruch größerer Feindseligkeiten im Jahre 54 verzeichnen wir zahlreiche französische Unterdrückungsoperationen gegen algerischen Widerstand, so in den Jahren 1945, 47, 48, 52. Bekannt ist das schreckliche Blutbad, das 1945 in Setif unter algerischen Teilnehmern einer Siegesfeier angerichtet wurde, als die Algerier die Feiern benutzten, um für ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren. Diesem allem liegt zugrunde der Kolonialstatus der Ungerechtigkeit, der auf Rassenunterschieden Klassenunterschiede begründet.

In den unterschiedlichsten Wirtschaftsunternehmungen Algeriens trifft man immer wieder auf die großen Namen des französischen Kapitals Henri Borgeaud, Georges Blachette, Laurent Schiaffino - das sind Namen der französischen Wirtschaftsgewaltigen in Algerien, die an unzähligen Unternehmungen beteiligt sind und, gestützt auf ihre wirtschaftliche Macht, gewaltigen politischen Einfluß ausüben (alle drei Genannten waren oder sind z. B. für Algerier Abgeordnete im Senat oder Parlament).

Es wird gesagt, Algerien sei heute wirtschaftlich so abhängig von Frankreich, daß es sich politisch gar nicht lösen könne. In diesem Zusammenhang ist immerhin daran zu erinnern, daß diese Abhängigkeit systematisch erzeugt worden ist. Ein Wirtschaftskolonialismus ist jedenfalls nicht der Weg, der in die Zukunft einer vernünftigen französisch-arabischen Partnerschaft führt.

,Der Plan des Jahrhunderts' soll nun die Ausbeutung der Ölquellen in der Sahara werden. Frankreich erwartet Milliarden von DM an Gewinn für die nächsten Jahre, an Devisenersparnissen und Prozenten, die die ausländischen Gesellschaften an Frankreich abzuführen haben.

Frankreich fordert von der EWG, das Öl der Sahara in den neuen gemeinsamen Zolltarif einzufügen, es zu privilegieren gegenüber dem öl aus dem Nahen Osten.

Im Februar 58 beschrieb die FAZ die Vorbereitungen für die Erschließung der Sahara-Bodenschätze folgendermaßen: .Blitzschnell und ohne viel Aufsehen wurde vom französischen Parlament jene staatliche Organisation genehmigt, die es Frankreich ermöglicht, über alle juristischen und politischen Probleme hinweg durch Tatsachen eine nur schwer angreifbare Stellung zu sichern. ,Aber ist wirklich die französische Stellung in Nordafrika, bei der herrschenden Ungewißheit über den Ausgang des Algerienkrieges so unangreifbar, daß die westdeutschen Firmen gut beraten sind, wenn sie auf das französische Wirtschaftssystem in Algerien setzen? Natürlich verlangen die deutschen Firmen politische Garantien für ihre Investitionen, d. h. sie erwarten von der westdeutschen und französischen Regierung, daß sich am jetzigen Wirtschaftssystem in Französisch-Algerien nichts ändert. Aber ist es für die westdeutsche Exportwirtschaft gut, wenn sie sich in Nordafrika mit einem Regime liiert, das nur mit militärischer Gewalt aufrechterhalten werden kann? Werden nicht dadurch Zukunftschancen in den Beziehungen zu vielen Entwicklungsländern aufs Spiel gesetzt? Schon heute urteilt Ferhat Abbas, der Ministerpräsident der algerischen Exilregierung folgendermaßen hart: ,Wenn deutsche Finanzgruppen unter dem Schutz kolonialistischer Gesetze Geld in Algerien investieren, kämpfen sie gegen uns.' (SPIEGEL-Interview mit Abbas). Über alle Unternehmungen dagegen, die in irgendeiner Form sich geneigt zeigen, der algerischen Freiheitsbewegung zu helfen - so verkündete der französische Ministerpräsident Debre - führe die französische Regierung schwarze Listen - und sie droht mit 'scharfer Vergeltung'. Solange der algerische Kolonialkrieg andauert, ist an eine sinnvolle und gerechte Erschließung der wirtschaftlichen Möglichkeiten Algeriens nicht zu denken. Da hilft nicht einmal ein Besuch von General Speidel, der kürzlich mit 40 Nato-Offizieren die französische Erdölförderung in der Sahara besichtigte ...

Algerien und wir

Verständlich schon, diese Neuauflage einer heiligen Allianz: de Gaulle ist am Status Quo in Deutschland interessiert, den die Adenauersche Außenpolitik mitverbürgt; Adenauer seinerseits honoriert de Gaulle dafür, daß dieser seine starre außenpolitische Position stützt: durch Billigung des Algerien-Krieges. Nur leider liefert eine Bundesregierung, die de facto einen Kolonialkrieg absichert, dem Kommunismus, den sie eigentlich bekämpfen möchte, durchschlagende Argumente an die Hand. Moralisch gesehen: wer in der Algerienfrage indolent bleibt, hat das Recht verwirkt, die Freilassung von politischen Gefangenen in der ,DDR' zu fordern, gegen Terror Justiz aufzutreten. Wenn wir zu Algerien schweigen, können wir nicht hoffen, selbst gegen den Totalitarismus von links und rechts gefeit zu sein. Wenn auch die Bundesregierung uns mit schlechtem Beispiel vorangeht, so dürfen wir nicht so tun, als sei der französisch-algerische Krieg Luft für uns, als hätten wir genug getan, wenn wir uns gelegentlich über Auswüchse des Kampfes auf beiden Seiten entrüsten und im übrigen auf die gemeinsamen deutsch-französischen Interessen hinweisen.

Erstaunlicherweise wird von den Parteigängern der französischen Politik in der Bundesrepublik nicht der Vorschlag gemacht, die französischen Truppen durch Freiwillige zu stützen oder den Algerienkrieg zur Nato-Angelegenheit zu erklären. Zu genau spürt man wohl selbst, daß politisches Recht und geschichtliche Vernunft nicht auf Seiten der Franzosen sind, und so begnügt man sich denn mit der opportunistischen Haltung. Im Grunde kann man sich wohl auch nicht vorstellen, daß zu einer Zeit, da Hunderte von Millionen Menschen die politische Selbständigkeit erringen, China aufsteigt zur dritten Weltmacht, westeuropäische Herrschaft in einem anderen Kontinent mit Waffengewalt aufrechterhalten werden kann. Dien Bien Phu war nicht das letzte Stalingrad des Kolonialismus. Aber vermutlich gerade weil sie ahnen, daß ihr Kampf letztlich vergeblich ist, führen die Feinde der algerischen Unabhängigkeitsbewegung ihren Krieg so verbittert, ohne Rücksicht auf zahllose Oradours, - eben weil sie spüren, daß der Traum von Westeuropas Gloire und Größe ausgeträumt ist.

Mag man über den weltpolitischen Rahmen des Algerienproblems noch unterschiedlicher Meinung sein, die politische Akzente verschieden setzen: dem menschlichen Problem Algerien kann sich kein Anständiger entziehen. Ein volles politisches Engagement ist vielleicht vom Bundesbürger nicht zu erwarten, wohl aber menschliche Anteilnahme an einem furchtbaren Geschehen, in das wir de facto viel mehr verwickelt sind, als vielen bewußt wurde.

Heißes Eisen Fremdenlegion

Ein Problemkomplex, an dem besonders deutlich wird, daß wir in der Bundesrepublik durchaus unseren Teil Mitverantwortung an der algerischen Tragödie tragen, ist die Fremdenlegion, um die es leider still geworden ist in den letzten Monaten, nachdem bereits sehr viel Bemerkenswertes zu diesem Thema klar geworden war. So die Tatsache, daß schätzungsweise 15 000 Deutsche zur Zeit in der Fremdenlegion dienen, daß davon rund die Hälfte Jugendliche unter 21 Jahren sind, daß bereits fast 2 000 junge deutsche Fremdenlegionäre vom algerischen Rückführungsdienst in die Heimat geschickt werden konnten (viele fliehen, weil sie Skrupel bekommen bei der SS-Taktik der verbrannten Erde), endlich daß bis vor kurzem auf deutschem Boden rund 100 junge Deutsche, viele zwischen 17 und 20, wöchentlich für die Fremdenlegion angeworben wurden. Wie es damit heute steht, ist nicht bekannt.

Der Bundestagsabgeordnete Wischnewski hat einmal versucht, das Parlament damit aufzuschrecken, daß er berichtete, wie in der Fremdenlegion junge Deutsche als ,Adenauer-Lümmel' empfangen werden. Auch diese Episode brachte die Öffentlichkeit nicht zum Nachdenken.

Verhandlungen zwischen Bonn und Paris über die Notwendigkeit, daß die Erziehungsberechtigten der Aufnahme von Jugendlichen unter 21 Jahren in die Fremdenlegion zustimmen müßten, sind gescheitert. (Nach Angaben des sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten Wischnewski werden sogar Jugendliche unter 18 Jahren aufgenommen, die dann teils aus eigenem Antrieb, teils auf Anraten der Offiziere ihre Geburtsdaten fälschen). Das auswärtige Amt erklärte nach dem Scheitern der Verhandlungen verständnisvoll, daß sich der größte Teil der Legion aus Männern dieser Altersgruppe zusammensetze und ihr Ausscheiden praktisch zum Zusammenbruch der Fremdenlegion führen müsse. (FAZ vom 3. 9. 59).

Natürlich sind die Jugendlichen sich nicht klar darüber, was sie in der Fremdenlegion erwartet, daß es kein Zurück gibt und wie grausam wieder eingefangene „Deserteure" bestraft werden. Was weiß ein abenteuerlustiger Junge schon davon, daß in den fast fünf Jahren des algerischen Krieges Hunderttausende von Algeriern umgekommen sind, davon nur ein kleiner Teil bei militärischen Operationen, der größte Teil bei Vergeltungsaktionen, denen fast ausschließlich Zivilisten zum Opfer fallen, was davon, daß vor allem Fremdenlegionäre zu solchen „schmutzigen Arbeiten" herangezogen werden (vgl. SPIEGEL vom 2. 11. 1959 und Martin Chauffier in „Le Monde" vom 17. 8. 57).

Wer hat schon die Berichte im .Berner Bund' gelesen, wo geschildert wird, wie Fremdenlegionäre mißhandelt und zu Mißhandlungen angestiftet werden (Ausgabe vom 19. 2. 59).

In manchen französischen Kreisen ist es sogar üblich geworden, den in der Fremdenlegion dienenden Deutschen alle Schuld an Übergriffen gegen Algerier zuzuschieben; so brachte „L' Express" am 7. 6. 57 belastendes Material über Deutsche vom 1. Legions-Fallschirmjägerregiment.

In der Schweiz wurde mit staatlicher Unterstützung ein Aufklärungsfeldzug gegen die Werbung für die Fremdenlegion gestartet.

Zwar sollten Franz Ripsy, dem Autor der Broschüre „Sie klagen an - Tatsachenberichte geflohener Fremdenlegionäre", Riza-Verlag Zürich, auf Verlangen des französischen Generalkonsulats in Zürich Aufklärungsvorträge untersagt werden, doch die Schweizer boten Ripsy die Gelegenheit, öffentlich den Beweis für die Notwendigkeit seiner Warnungen anzutreten.

Den Legionären wird eingetrichtert, sie unterstünden dem Oberkommando der NATO; den Deutschen unter ihnen will man weismachen, sie würden in der Bundesrepublik vor Standgerichte gestellt, falls sie desertieren sollten, denn die BRD sei ja Mitglied der NATO. Am unglaublichsten ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß man eine größere Anzahl ungarischer Flüchtlinge in die Legion gelockt hat, wo sie gegen ihren Willen festgehalten werden. Erst als acht Ungarn aus der Fremdenlegion fliehen konnten - es war im Juli 1957 -, wurde der Tatbestand offenkundig (vgl. Deutsche Studentenzeitung vom 20. 2. 58 u. S. 60 des Weissbuches der FLN, das im vorigen Jahr bei der Auerdruck GmbH in Hamburg hergestellt worden ist).

„Rote Hand" und Kaperfahrer

Aber das Problem Fremdenlegion ist nicht das einzige das uns an unser Verflochtensein mit dem Algerienkrieg peinlich erinnert. Unvergessen sind die französischen Übergriffe gegen die „Bilbao" und den deutschen Frachter „Valencia" sowie nun schon sechs Anschläge der „Roten Hand" auf westdeutschem Boden. Nur ein paar Wochen ist es her, daß eine Bonner Lokalzeitung den Verdacht äußerte, ein französischer Diplomat in Bonn sei Mittelsmann der „Roten Hand" (der Diplomat hat inzwischen Strafantrag gestellt).

Der SPIEGEL berichtete am 4. 11. 59, die Kölner Polizei habe im September 1959 einen Algerier den Franzosen ausgeliefert, ohne daß ein Auslieferungsverfahren stattgefunden hätte. Stellt dann aber einmal einer ernsthafte Nachforschungen an, wie der Frankfurter Oberstaatsanwalt Wolf im Falle der „Roten Hand", des rechtsextremistischen, gemeingefährlichen französischen Ku-Klux-Klan, so sieht er sich ungnädiger Kritik aus dem Bundeskanzleramt ausgesetzt und „findet bei den Kollegen der Sicherungsgruppe Bonn alles andere als kollegiales Wohlwollen" (SPIEGEL vom 14. 10. 59).

,Die Welt' mutmaßte in einem Kommentar vom 30. 11. 1959, daß in der Bundesrepublik die eventuellen Opfer französischen Terrors stärker überwacht werden als mögliche Täter. Zur genauen Kontrolle aller algerischen Flüchtlinge in der Bundesrepublik sind .Zählkarten' angeführt worden. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums ist es sicher ,daß die Zählkarten nicht ausreichen um eine politische Aktivität von Algeriern zugunsten der algerischen Exilregierung zu unterbinden'. (,Die Welt' vom 29. l. 60). Ob man es ebenso ungern sieht, wenn ungarische Flüchtlinge für die Freiheit ihres Heimatlandes eintreten?

Unsere algerischen Kommilitonen

Ein trauriges Kapitel ist die Frage der Stipendien für algerische Studenten in der Bundesrepublik. Im vergangenen Winter zeigten sich die verschiedensten Verbände bereit, Stipendien für Algerier zu gewähren. Jedoch das Auswärtige Amt war dagegen, und alle Beteiligten, vorweg der Bundesverband der Deutschen Industrie, bekamen kalte Füße. Das geschah, als der Vertreter der algerischen Exilregierung, Ait Ahcene, in Bonn durch Terroristen zusammengeschossen worden war. Vielleicht unterschätzt man den psychologischen Effekt, den auch zahlenmäßig schwache französische Terrorgruppen in der Bundesrepublik auf alle jene Bürger machen, die mehr als um ihr gutes Gewissen um ihre Sicherheit besorgt sind. Nun, einige Dutzend algerische Studenten befanden sich bereits, vom Verband Deutscher Studentenschaften eingeladen, in Westdeutschland - der VDS konnte sie plötzlich nicht unterbringen. Heute befinden sich die betroffenen Algerier bereits seit langem in der ,DDR'. In ihrer Not blieb ihnen wohl nichts anders übrig, als Stipendien für fünf bis sechs Jahre vom Osten anzunehmen, die auch einen einjährigen Sprachkursus einschlössen. „Obwohl die UGEMA (Vereinigung der algerischen Studenten) ursprünglich versucht hatte, von Stipendien der Ostblockstaaten möglichst abzusehen, besteht durch die - nicht ohne unser Verschulden geschaffene - Zwangslage die Gefahr, daß in wachsendem Maße algerische Studenten in Ländern unter kommunistischem Einfluß ausgebildet werden." So heißt es in einer Denkschrift des VDS über die Lage der algerischen Studenten vom letzten Jahr. Von ihnen leben heute 137 in der BRD, von denen aber nur sieben ein Stipendium erhalten. Das ist umso unverständlicher, als im Sommersemester 1959 aus der ,DDR' und Ungarn geflüchtete Studenten mit insgesamt 2,4 Millionen DM unterstützt werden konnten. (Die ,DDR' selbst hat demgegenüber 150 Stipendien für Algerier zur Verfügung gestellt).

Wenn man bedenkt, daß die jungen Akademiker des Entwicklungslandes Algerien bald in die Führungsschicht ihres Landes aufrücken dürften, ja, in der arabischen Politik überhaupt Einfluß erringen könnten, kann man unsere offizielle Politik wohl nur als kurzsichtig bezeichnen.

In diesen Monaten wird viel von der Entwicklungshilfe für Afrika gesprochen; die afrikanische Problematik aber kulminiert in der Algerien-Frage. Die Bundesrepublik, eine der reichsten Länder der Welt, durch Kolonialpolitik nicht kompromittiert, hat große Aufgaben bei der Entwicklungshilfe zu bewältigen, und zu diesen Aufgaben zählen natürlich auch Ausbildungsgehilfen für Lehrer, Beamte, Ärzte, Ingenieure etc.

Wenn heute Studenten in Kiel, Tübingen und Göttingen (in Bonn wurde eine Demonstration arabischer Studenten von der Polizei verboten) spontan für algerische Kommilitonen Geld sammeln, dann zeigen sie, daß sie besser begriffen haben, worum es geht; nur können alle privaten Ansätze nicht staatliche Maßnahmen ersetzen. Leider sind die sehr weitgehenden Beschlüsse der 11. ordentlichen Mitgliederversammlung des VDS zur Unterstützung ihrer algerischen Kommilitonen bis heute nicht durchgeführt worden. Daß diese bei uns die Gelegenheit wahrnehmen, für die Freiheit ihres Heimatlandes zu wirken, sollte nicht verwundern; auch der Beitrag ungarischer Flüchtlingsstudenten zur Meinungsbildung an unseren Universitäten wird ja begrüßt.

Die internationale (westliche) Studentenkonferenz - ISC - hat 1958 einstimmig gegen die Auflösung des algerischen Studentenverbandes in Frankreich protestiert, die aufgrund eines Ausnahmegesetzes vom Jahre 1936 erfolgte. In einer Sondersitzung machten die Delegierten des ISC, einschließlich der französischen Studentenvertreter, auf die Verfolgung algerischer Studenten aufmerksam und baten u. a. die Menschenrechtskommission der UNO um ihr Eingreifen. Der Untersuchungsbericht der Studentenkonferenz belegt die Ermordung und Folterung algerischer Studenten in Frankreich. (Vgl. auch Temoignages et Documents, Janur 1959).

Die Konferenz rief die nationalen Studentenschaften zur Hilfe für die algerischen Flüchtlingsstudenten in Tunesien und Marokko auf.

Wir müssen helfen

Bei einer vergangenen Sammlung für algerische Flüchtlinge stand die Bundesrepublik mit ihrem Aufkommen an zweitletzter Stelle auf der Weltliste - vor Haiti! (vgl. DIE WELT vom 15. 4. 59). Ferner gingen Sendungen des Deutschen Roten Kreuzes nach Nordafrika, wenngleich geringere als vom Roten Kreuz der ,DDR'. Bis vor nicht allzulanger Zeit mußten oft schwere Operationen von den Ärzten und Sanitätern der algerischen Freiheitsarmee ohne Narkotika durchgeführt werden. Langsam regt sich internationale Hilfe, aus der Schweiz, Skandinavien, England; Solidarität wird spürbar bis nach China, Indien und Lateinamerika. Doch die Hilfe wird erschwert, weil Frankreich gegen die Anerkennung der algerischen Rot-Kreuz-Organisation Einspruch erhebt.

Im vergangenen Jahr haben die französischen Kirchen zur Hilfe * für die Algerier in den Umsiedlungslagern, hat das Internationale Rote Kreuz zur Unterstützung der etwa 200 000 algerischen Flüchtlinge in Tunesien und Marokko aufgerufen. Neuerdings gibt es auch ein Hilfskomitee für algerische Häftlinge in Frankreich, das von dem Schriftsteller Georges Arnaud geleitet wird: 18, Rue Saint-Ferdinand, Paris 17.

,Cimade', die Dachorganisation aller französischen Wohlfahrtsverbände, hat eine Algerienhilfe eingerichtet.

Der Bundeskongreß des DGB, der vom 7. bis 12. 9. 1959 in Stuttgart tagte, setzte sich für die gewerkschaftliche Unterstützung algerischer Arbeiter in der Bundesrepublik ein. (Es gibt zur Zeit 2 000 bis 3 000 Algerier bei uns).

Auf der Linken bahnt sich Verständnis an für die politische und menschliche Bedeutung des Algerienproblems - warum nicht in weiteren Kreisen, auch und vor allem bei den Kirchen?

Warum muß die Polizei in Köln eine Gedenkveranstaltung der „Falken" für die Opfer des Algerienkrieges abbrechen (2. 11. 59)?

Warum muß der Rektor einer deutschen Hochschule eine Sammlung für algerische Flüchtlingskinder verbieten mit der Begründung, ,sowas schade dem deutsch-französischen Verhältnis'?

Oder was soll man davon halten, daß auf Anweisung der Bundesregierung der Chef der algerischen Exilregierung, Ferhat Abbas, auf dem Flughafen Frankfurt am Main daran gehindert wurde, das Flugzeug zu verlassen (Abbas wollte sich in einem deutschen Thermalbad einer Kur unterziehen)? (Nach Hbg. vom 29. 8. 59). - Nicht einmal den Generalsekretär der gemäßigten algerischen Opposition M. N. A., Moulay Merbah, ließ man am Vorabend der letzten Genfer Konferenz in Bonn seine geplante Pressekonferenz abhalten. - Warum muß dagegen ausgerechnet Marschall Juin, dessen Standpunkt in der Algerienfrage von Präsident de Gaulle als extremistisch verworfen wird, in Stuttgart sprechen? Auch in internationalen Fragen macht der Ton die Musik. Es ist unbegreiflich, warum man in der Bundesrepublik ein um seine Freiheit kämpfendes Volk auch noch ausdrücklich brüskiert. Vernünftig wäre demgegenüber, was der Bundestagsabgeordnete Blachstein nach einer Nordafrikareise vorgeschlagen hat: humanitäre, soziale, technische und wirtschaftliche Hilfe für die dortigen Notstandsgebiete. „Nordafrika ist nicht mit Worten zu helfen, auch nicht mit Solidaritätsadressen, davon hat es genug. Die Enttäuschung und Verbitterung über uns ist sehr ausgeprägt." Blachstein hat eine ganze Reihe praktischer Vorschläge zu machen: „Warum helfen unsere privaten und öffentlichen Einrichtungen nicht bei der Errichtung von Kinderheimen für algerische Flüchtlingskinder? Warum überlassen wir die Hilfe selbst für Kinder den Gewerkschaftsorganisationen des Ostblocks? Haben wir in unseren entwickelten Industriestaaten mit starken freien Gewerkschaften nicht alle Voraussetzungen zu der gewünschten solidarischen Unterstützung?"

In London hat sich ein „Hilfskomitee für Algerienflüchtlinge" gebildet, wie der Vorsitzende der „Christlichen Aktion", Canon Collins, bekannt gab. In Kopenhagen ist eine Vereinigung „Freunde des Freien Algerien" gegründet worden, um die dänische Öffentlichkeit über „den Kampf des algerischen Volkes gegen die französische Unterdrückung" zu informieren.

Das algerische Rote Kreuz hat Konten in London, New York, Tunis, Stockholm, Tanger, Zürich - warum nicht bei uns?

Aber begrüßenswerte private Aktivität im einzelnen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir im Westen, insbesondere in Westdeutschland „unter dem scheinheiligen Vorwand", uns „nicht in die sogenannten innerfranzösischen Angelegenheiten einmischen zu wollen ..., ein Schweigen des Einverständnisses wahren", das sich schon lange nicht mehr vertreten läßt - so formulierte es die algerische „Nationale Befreiungsfront" in einem Brief an die Mehrheitspartei der Bundesrepublik.

Wir scheinen noch weit entfernt von der Einsicht in die wirklichen Zusammenhänge, wenn (nach allem Gegenteiligen, was inzwischen bekannt geworden ist) noch die Behauptung veröffentlicht werden kann, die französische Algerienpolitik stimme „mit den Grundsätzen der bei uns so hoch angesehenen Menschenrechte überein" (so ein gewisser Peter Braun in der Aachener Studentenzeitschrift „Prisma".

Wir dürfen nicht untätig zusehen, wie in Algerien ein ganzes Volk, das sich gewaltsam gegen das ausklingende, aber noch immer nicht zu Ende gelittene koloniale Zeitalter auflehnen muß, langsam ausgerottet wird. Es scheint wirklich nicht zuviel verlangt, wenn Ferhat Abbas, trotzdem gegenteiliger Meldungen noch Ministerpräsident der algerischen Exilregierung, folgende Forderungen an uns richtet:

„Holt unsere Studenten mit Stipendien nach Deutschland, bildet unsere Facharbeiter aus, gewinnt junge Generation des freien Algeriens für Deutschlands Kultur, Sprache und Wirtschaft. Gebt unseren Arbeitern Beschäftigung, sie wollen in steigender Zahl aus Frankreich weg. Und vor allem, laßt die Mörder nicht herein, die unsere Leute bei euch ermorden. Hört auf, diesen Krieg des Massenmords zu unterstützen."

Bibliographie

Quelle:  Das Argument 15, 2. Jg., März 1960, OCR_Scan by Red. trend