zurück Septemberstreiks 1969
Materialsammlung zu den Filmveranstaltungen im September 2009
 


Kapital und Arbeit in der Bundesrepublik
Leseauszug aus dem Abschnitt: Reform oder Revolution

von Urs Jaeggi

Angesichts der Entwicklung der Gewerkschaftspolitik nach 1945 und der angeblich weitgehenden Entpolitisierung der Arbeiterklasse kommt den Septemberstreiks - mit über 140000 Beteiligten der größte Streik seit Bestehen der Bundesrepublik - eine wichtige Bedeutung zu, obwohl es in der Bundesrepublik schon immer spontane Streiks in größerem Umfang gegeben hat. Allein auf die besonderen Umstände des Jahres 1969 (Wahlkampf, Auseinandersetzungen über die Wirtschaftspolitik, Aufwertung und drohende Preissteigerungen) können die Septemberstreiks dabei nicht zurückgeführt werden. Es lag auch und vorab an den Bedingungen, deren deutlicher und spektakulärer Ausdruck die Konzertierte Aktion war. Um sich der Loyalität der Mehrzahl zu versichern, muß die staatliche Einkommenspolitik auf Normen sozialer Gerechtigkeit zurückgreifen. Dies erzeugt bei den Lohnabhängigen Erwartungen und legitimiert Forderungen, die rasch die Grenzen einer wachstumskonformen Einkommenspolitik überschreiten.(17) Die Gewerkschaftspolitik gerät dadurch in ein schwer lösbares Dilemma: sie muß mit dem (kapitalistischen) System kooperieren; andererseits darf und kann sie die Erwartungen der Arbeiterschaft nicht restlos enttäuschen.

Werden diese Erwartungen enttäuscht (und sie wurden enttäuscht), dann wächst unter den Gewerkschaftern und in der gesamten Arbeiterschaft die Unzufriedenheit. Die offizielle Interessenvertretung gerät, wie dies 1969 geschah, in ein Handlungsdefizit. Die Unzufriedenheit drängt zur Selbsthilfe. So wurden die Septemberstreiks primär nicht von der Gewerkschaft getragen; die Massenmedien stempelten sie denn auch sofort zu >illegalen< und >wilden< Streiks.

Die gewählte Konfliktform war effizient; man feierte nicht zu Hause >Streik<, sondern blieb in den Betrieben selbst; mit dem Erfolg, daß ein sehr hohes Maß an Solidarität, aber auch an direkter Blockade erreicht wurde. Man sprach im nachhinein von >faktischer Betriebsbesetzung<, obwohl Betriebsbesetzung in diesem Zusammenhang ein unscharfer Ausdruck ist. Wohl handelte es sich um streikende Belegschaften, die sich die >Kontrolle< über die Betriebe insofern sicherten, als sie verhinderten, daß die Produktionsmittel in Gang gehalten werden konnten. Keineswegs aber handelte es sich um eine Form >aktiver< Fabrikbesetzung; nicht wurden also, auch nur kurzfristig oder symbolisch, Produktionsanlagen usw. in Gang gehalten, um auf diese Art die Stillegung zu verhindern oder gar um zu zeigen, daß man selbst die Produktion leiten könnte.(18) Es handelte sich vorab um Kampfmaßnahmen gegen die von Staats wegen geführte >Stillhaltepolitik<, die von den Gewerkschaften nicht bloß toleriert, sondern gefördert wurde. Insofern stellt sich die Frage, ob diese Streiks sich nicht eher gegen die Gewerkschaftspolitik als gegen das Kapital richteten. Zwar hatten die Gewerkschaftsführer für ihre Politik ein gutes Alibi. Die Konzertierte Aktion brachte ihr teilweise eine Verbesserung der Verhandlungsposition, da jetzt die staatliche Wirtschaftspolitik die Berechtigung und Notwendigkeit von Lohnerhöhungen anerkannte. Auf der anderen Seite: für die mittleren und unteren Funktionäre vertrug sich die Mitarbeit in der Konzertierten Aktion nicht mit ihrem Selbstverständnis als Gewerkschafter und ihrem Verständnis von den gewerkschaftlichen Aufgaben. Vertrauensleute und Betriebsräte bildeten denn auch das organisatorische Rückgrat der Septemberstreiks. (19)

Nun wurden die Septemberstreiks in ihrer Bedeutung insofern überschätzt, als man glaubte, in ihnen eine neue politische Zielrichtung der Arbeiterschaft erkennen zu können. Tatsächlich wurden zu keinem Zeitpunkt transökonomische Forderungen aufgestellt, Forderungen gar, die auf eine Negation des kapitalistischen Systems hinausliefen. Vielmehr besaßen die Forderungen rein lohnpolitischen Charakter. Auch wurden nur in Ausnahmefällen die bestehenden Gewerkschaften in Frage gestellt; attackiert wurden, ganz konkret und pragmatisch, die Tarifpolitik und die undemokratische Struktur der Gewerkschaften. Das war wichtig genug. Überschätzt allerdings wurde, verständlicherweise, die Wirksamkeit der eigenen Spontaneität. Die Ansätze einer neuen Aktivität an der Mitgliederbasis erzwingen nicht von vornherein eine Organisationskorrektur. Zwar können sich die Gewerkschaftsspitzen dem Druck der Mitglieder auf die Dauer nicht entziehen, und dies um so weniger, je stärker auch die mittleren und unteren Funktionäre beteiligt sind. Dieser Druck indes läuft sich leicht wieder tot; Lohnmilitanz läßt sich, ohne langfristige (antikapitalistische) Strategie, nicht durchhalten. Lohnkämpfe werden unterlaufen durch die Inflationsraten, und vor allem: bei steigender Gefährdung der Arbeitsplätze gerät die Militanz leicht in Verruf. Daran, daß es sich vorab um Lohnkämpfe handelte, besteht kein Zweifel. In einer vom Institut für Sozialforschung (Frankfurt) durchgeführten Befragung antworteten auf die Frage nach den Ursachen der spontanen Streiks im September 1969 etwa ein Viertel der Vertrauensleute und Betriebsräte mit dem Hinweis auf den konjunkturellen Lohnrückstand; ein weiteres knappes Viertel verwies darauf, daß die Löhne hinter den gestiegenen Gewinnen zurückgeblieben seien; 14 Prozent gaben Preissteigerungen an. Auf die Frage nach dem Zusammenhang von Tarifpolitik und den spontanen Streiks meinten fast zwei Drittel (63%), die Lohnpolitik sei im Konjunkturaufschwung zu vorsichtig gewesen.(20) Es zeigte sich, daß das Problem des >gerechten< Lohnwachstums im Vergleich zum Wirtschaftswachstum als zentraler Konfliktpunkt gesehen wurde; mehr als die Hälfte aller Befragten würde bei einer Gefährdung der Konkurrenzfähigkeit der Industrie auf Lohnforderungen verzichten; nur eine kleine Gruppe (15%) äußerte sich im Sinne einer militanten Interessenvertretung auch in Krisenzeiten. Das heißt: auch die mittleren und unteren Funktionäre akzeptieren die Spielregeln des kapitalistischen Systems<; auch auf dieser Ebene waren politische Motive und Zielsetzungen im engeren Sinne unwichtig.

Nicht bestätigt wurde in diesen Streiks auch die in der Wissenschaft propagierte führende Rolle der >neuen Arbeiterklasse< in Arbeitskämpfen. Obwohl in Einzelfällen Angestellte an den Streiks beteiligt waren und obwohl hochqualifizierte Facharbeiergruppen zu den tragenden und aktiven Kräften gehörten, handelte es sich insgesamt um einen >traditionalen< Arbeiterstreik. Gerade deswegen reagierten die Betroffenen sowohl schockiert als auch scharf.

Im Jahresbericht des Unternehmerverbandes Ruhr-Niederrhein von 1969 steht: »Der 3. September 1969 war für unsere rechtsstaatliche Ordnung ein rabenschwarzer Tag, war er doch der Auftakt für eine Welle wilder Streiks, die die den Sozialpartnern anvertraute Tarifautonomie aufs schwerste erschütterte.«

Zugegeben wurde, daß die lange Laufzeit der Tarifverträge eine entscheidende Ursache für die Streiks war und daß man daher regelmäßige Konsultationen mit den Gewerkschaften vereinbaren müsse, um so flexibler auf eine ungleichmäßige Entwicklung von Gewinnraten und Löhnen reagieren zu können.(21) Freilich zog man auch ganz andere Konsequenzen, vor allem die, in Zukunft den >wilden< Streiks härter und geschlossener zu begegnen. Nochmals ist darauf hinzuweisen: spontane Streiks gab es in der Bundesrepublik auch vor 1969 keineswegs selten. Rechnet man die Streiks der letzten zwanzig Jahre zusammen, dann entfallen über 50 Prozent auf spontane arbeitsrechtliche Streiks gegen die Arbeitgeber.(22) Lediglich die Zahl der Streiktage und der Beteiligten waren 1969 ungewöhnlich (und ungewöhnlich war auch die öffentliche >Anteilnahme<). Präziser: seit 1965 ist in der Bundesrepublik die Zahl der spontanen Streiks stetig steigend; beginnend 1965 mit 14 registrierten spontanen Streiks, steigt die Streikziffer über 21 Streiks im Jahre 1966 auf 61 spontane Arbeitsniederlegungen im Jahre 1967. Die Zahl der spontanen Streiks hat sich dabei seit 1949/53 verdoppelt; die Zahl der beteiligten Betriebe im selben Zeitraum verzweieinhalbfacht und der Anteil der Streikbeteiligten versechsfacht.(23)

Die September-Streiks als >Wende< zu interpretieren, die einen einschneidenden und entscheidenden Umbruch fixierte, bedeutet deshalb eine Überinterpretation und Isolierung einer weit kontinuierlicheren Entwicklung. Neu war die öffentliche Aufmerksamkeit, die diese spontanen Aktionen erregten. Sie wurden nicht bloß als Krise der Gesellschaft, sondern vor allem als >Krise der Gewerkschaften interpretiert. Tatsächlich signalisieren spontane >Aufstände< der Mitglieder eine Reaktion auch gegen die offizielle Gewerkschaftspolitik. Intern werden sie als Vertrauensabbau und als Kommunikationsdefizit zwischen unten und oben bewertet. Von >außen< wird den Gewerkschaften angelastet, ihre >Ordnungsfunktion< nicht oder unzureichend erfüllt zu haben. Kritische Sozialwissenschaftler und progressive Politiker sehen in den spontanen Streiks ein Argument dafür, daß die Integration der Lohnabhängigen in das bestehende System deutliche Grenzen aufweisen, ein Argument, das insofern an Bedeutung gewinnt, als die spontanen Streiks besonders in den >Arbeiterhochburgen< stattfinden. 44 Prozent aller Streiks fanden in Nordrhein-Westfalen statt; die Zahl der spontanen Streiks ist in dieser Region dabei doppelt so groß wie die der gewerkschaftlich legitimierten Konfliktfälle, eine Relation, die kein anderes Bundesland auch nur annähernd erreicht.(24) Als Gründe kann man nennen: im Ruhrgebiet existieren sowohl innerhalb der Betriebe als auch innerhalb der Gewerkschaften intakte Oppositionsgruppen, die sich gegen die offizielle Politik der Gewerkschaftsvorstände richten.(25) Keine der großen Gewerkschaften führte denn auch in der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen einen gezielten Arbeitskampf: »für den Fall gewerkschaftlich organisierter Lohnstreiks von längerer Dauer müßten die Gewerkschaftskader hier damit rechnen, daß ihnen die Organisation und Kontrolle des Arbeitskampfes aus der Hand genommen würde«(26).

 

Fußnoten

17) Bergmann, Neues Lohnbewußtsein, a. a. O., S. 178
18) Siehe Jung/Schuster/Steinhaus, Kampfaktionen, a. a. O., S. 882.
19) Bergmann, Neues Lohnbewußtsein, a. a. O., S. 179.
20) Ebd., S. 172.

21) So Horst Knapp, Stellvertr. Vorsitzender der Metallarbeitgeber, Referat auf der Mitgliederversammlung der BDA, München 1969.
22)
Kalbitz, Die Arbeitskämpfe in der BRD, a. a. O., S. 44 f
23) Ebd. S. 187

24)
Ebd., S. 60.
25) Ebd., S. 64.
26) Ebd., S. 64.
 

 

Editorische Anmerkungen

Urs Jaeggi
Kapital und Arbeit in der Bundesrepublik
Frankfurt/Main 1973
Seite: 336-340

OCR-San by red. trend 

nach oben