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Septemberstreiks 1969
Materialsammlung zu den Filmveranstaltungen im September 2009
 
  DER FILM KOMMT ZUM ARBEITER

Von Klaus Wiese (1972)

Unser Publikum kann in zwei Gruppen eingeteilt werden:

1. Gewerkschaftliche Schulungsgruppen, Betriebsräte, Vertrauensleute: Sie werden beim Anschauen des Films von bestimmten Fragestellungen geleitet und stehen in einem Arbeitszusammenhang, durch den eine Identität der Interessen gewährleistet ist.

2. Arbeiter und Angestellte, die durch persönliche Kontakte und Flugblätter zu quasiöffentlichen Veranstaltungen eingeladen wurden: Hier ist das Interesse am Film anfangs ein vereinzeltes, privates. Erst in der anschließenden Diskussion werden Gemeinsamkeiten herausgearbeitet.

Die erste Gruppe ist rein äußerlich durch die Lebhaftigkeit gekennzeichnet, mit der die Zuschauer schon während der Vorführung die Vorgänge auf der Leinwand kommentieren, belachen oder beschimpfen. Die private Kommunikation der Gruppenmitglieder bestärkt sie in ihrer öffentlichen Stellungnahme.

Die zweite Gruppe entspricht in ihrem Rezeptionsverhalten eher dem Publikum in einer normalen Kinovorstellung. Allerdings mit dem Unterschied, dass die Arbeiter hier ein Filmgeschehen vorfinden, demgegenüber sie sich als „Fachleute" empfinden. Das wird in der Diskussion sehr schnell deutlich, wenn bei der Überprüfung der gesehenen Vorgänge und bei der Beschreibung der eigenen Arbeitssituation die anfängliche Befangenheit schwindet.

Beide Gruppen verbindet das Bestreben, die aus Film und Gespräch gewonnenen Einsichten auf die Lage anzuwenden, „in der man selber schindert" (so ein Arbeiter). Ein Ausdruck dafür ist der Wunsch vieler Arbeiter, Bekannten und Kollegen den Film vorzuführen. Einige wollen Veranstaltungen in ihrem Betrieb organisieren.

Wir hatten bei der Konzipierung des Films immer wieder Bedenken, dass unser Versuch, die Rolle der Hauptfigur zu reduzieren, den Zuschauer frustrieren könnte, weil der - orientiert an herkömmlichen Geschichten - einen ständig präsenten 'Helden' erwartet. Die ersten Ergebnisse unserer Gespräche haben dieses Misstrauen nicht gerechtfertigt. Die Arbeiter lösten sich ohne Schwierigkeiten von der Mittelpunktsfigur. Sie diskutierten über andere Rollen und über Beziehungen, bei denen diese Mittelpunktsfigur ausgeklammert war. Wenn über den Transportarbeiter Alfred gesprochen wurde, dann hauptsächlich im Hinblick auf die Funktion, die er im betrieblichen Geschehen einnimmt. Wir möchten behaupten, dass gerade unsere Methode, Alfreds Leben nicht bis in psychische Regungen, bis in private, individuelle Verästelungen hinein zu verfolgen, den Zuschauer auf die entscheidenden Linien der Handlung aufmerksam macht.

In welcher Weise unsere Adressaten von Erlebnissen des 'Helden' ausgingen, in welcher Weise sie dahinter übergreifende Prinzipien entdeckten und auf sich selbst bezogen, wurde uns bei einem Gespräch zwischen Jungarbeitern klar. Einer von ihnen sagte: „Alfred kriegt ständig eins auf den Deckel: im Wohnheim vom Heimleiter: in der Kneipe wird er angepöbelt; beim Meister hat er auch nichts zu bestellen; schließlich die Entlassungen. Da bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als entweder in zehn Jahren mit Magengeschwüren ins Jenseits zu marschieren oder sich zu wehren."

Die Arbeiter folgerten, dass sie sich nur durch eigenes Erleben und durch die eigene Praxis weiterentwickelten. So, am unmittelbaren Alltag anknüpfend, müssten sie auch in den Betrieben gegenüber ihren Kollegen argumentieren. Und das sollten wir als Filmmacher uns ebenfalls stets vor Augen halten.

Um über ihre Probleme Aufschluss zu erhalten, schien den Arbeitern gerade die realistische, nichts beschönigende Darstellung der Schwierigkeiten, sich im Betrieb zu organisieren, lehrreich. Selbstbewusst sagten sie: „Wies weitergeht, werden wir schon selbst herausfinden. Erst einmal müssen die Kollegen Einsicht in ihre Lage haben. Darauf kann man dann aufbauen." Als Voraussetzung wurde der Optimismus genannt, den man an manchen Stellen des Films spüren könnte.

Es wäre falsch gewesen, von den Arbeitern explizite Aussagen über die Wirkung formaler Mittel zu erwarten. Die Diskussionen behandelten fast ausschließlich inhaltliche Probleme. Wir mussten versuchen, aus augenscheinlichen Lernerfolgen abzuleiten, welchen Anteil daran die Darstellungsart hatte. Nur ganz sporadisch konnten wir in den Gesprächen selbst Antwort auf diese Frage finden. Ein Beispiel: Über die Entlassungsszene am Schluss des Films, die wir in einer langen, statischen Einstellung aufgenommen hatten und deren Dialog in unnatürlich getragener Weise gesprochen war, äußerte ein Arbeiter: „Wenn ich das Bild ansehe, dann denke ich zugleich an vieles andere. An das, was ich vorher gesehen habe, an das, was ich selbst erlebt habe, und an das, was anders sein müsste. Man merkt: Ihr wollt uns nicht zu was überreden, sondern gebt uns lediglich Stichworte. Der Film ist ein Notizbuch und man macht seine Bemerkungen dazu."

 

Editorische Anmerkungen

Die Scans und der Text wurden dem DVD-Booklet entnommen.

Der Film ist als DVD incl. Booklet erhältlich bei
http://www.basisdvd.de/
nach oben Ein Interview mit Christian Ziewer über "Arbeiterfilme" (1973)

Ziewer: Wir beginnen jetzt mit einem Film über eine Akkordkolonne, die eine gemeinsame Arbeit im Gruppenverband durchführt. Ein Kollektiv von Arbeitern also, das sich nicht durch eine freiwillige Übereinkunft, sondern durch die technische Organisation der Arbeit gebildet hat. In dieser Arbeitsgruppe entwickeln sich ganz bestimmte menschliche Beziehungen, Abhängigkeiten, Konflikte und auch ganz bestimmte Möglichkeiten zur Bewußtseinsänderung. Wir sind im Moment dabei, uns möglichst umfassend zu informieren. Unsere Aufgabe ist es, gemeinsam mit den Kollegen, die da mitarbeiten, festzustellen, wo in solchen Arbeitsformen Elemente enthalten sind, die einen Fortschritt für das . Denken der Arbeiter mit sich bringen.

Wie soll der Film finanziert werden?

Ziewer: Es sind Gespräche mit dem Fernsehen im Gange. Aber inwieweit es tatsächlich zu einer Zusammenarbeit kommt, ist noch nicht abzusehen, weil das Projekt dafür noch nicht weit genug entwickelt worden ist.

Halten Sie das Fernsehen auf die Dauer für eine Institution, die Ihre Form ld von Filmen finanzieren wird?

Ziewer: Das hängt von der politischen Situation ab. Diese Fernsehgre-" mien sind ja auf einer bestimmten Ebene, im Rundfunkrat, politisch zusammengesetzt, und danach richtet sich teilweise auch die Auswahl der Redakteure. Es gibt gewisse liberale Haltungen, die es beispielsweise einem Redakteur erlauben, sich auch dann für ein Projekt einzusetzen, wenn er dessen Intentionen nur mit Einschränkungen begegnet. Sein Selbstverständnis als liberaler Mitarbeiter in einem Massenkommunika-tionsmedium erlaubt es ihm, bestimmte progressive Tendenzen zu fördern. Aber das ist eine zwiespältige Situation. Wir wissen als Filmemacher ja selbst nicht genau, ob das, was wir intendieren, tatsächlich erreicht wird. Wir werden doch vor die Frage gestellt, inwieweit passen wir uns an, werden integriert, inwieweit werden die kritischen Impulse durchdieArtderKommunikation mit den Medien abgeblockt, und inwieweit ist andererseits die Hoffnung berechtigt, daß bestimmte kritische Impulse nicht abgeblockt werden können, weil Wahrheiten drin stecken, die die Leute vor dem Fernsehschirm oder im Kino aufnehmen. Es gibt sicher eine Reihe von Elementen, die leicht integrierbar sind in die herrschende Ideologie. Unsere Schwierigkeit besteht nun darin, abzuschätzen, wie können wir Elemente einbringen, die sich nicht ohne weiteres in das bestehende System einordnen, sondern es durchbrechen. Wenn wir also einen Film machen, so hoffen wir, daß wir das Bestehende damit in Frage stellen. Diejenigen, die ihn mitproduzieren, beispielsweise die Vertreter der Fernsehanstalten, sind der Hoffnung, daß das integrative Moment das stärkere ist. Das Dilemma ist, daß sich kaum prüfen läßt, was wirklich geschieht. Wenn zum Beispiel bei unserem Film ein Arbeiter nach zwanzig Minuten abschaltet, sagt das überhaupt nichts darüber aus, was in diesen zwanzig Minuten passiert ist. Der Redakteur sagt, der Film ist nicht angekommen. Wir haben aber in den zwanzig Minuten möglicherweise zehn Situationen gezeigt, in denen sich im Zuschauer ganz bestimmte Prozesse vollzogen haben - ausbrechende, emanzipa-tive. Die vom Zuschauer vordergründig gezeigte Reaktion gibt somit nur ungenügend Auskunft über die Wirkung des Films. Vielleicht werden wir eines Tages wirklich an dem Punkt sein, an dem die Leute unsere Filme nicht mehr finanzieren. Wir versuchen deshalb, schon jetzt für diesen Tag vorzubeugen, damit wir dann trotzdem weiter Filme machen können. Die Frage der Produktion und Verteilung stellen wir uns unter diesem Gesichtspunkt.

Sie haben an der Berliner Filmakademie gelernt, wie verlief die Ausbildung?

Ziewer: Ich war in einer Studiengruppe unter Anleitung von Egon Monk. Wir hatten einen ziemlich rigiden Arbeitsplan, darin war intensive Beschäftigung mit Fragen der Dramaturgie und der Darstellung, sowohl im Theater als auch im Film, eingeschlossen. Wir erhielten also theoretische Grundlagen. Auch praktische Dinge haben wir uns in Ansätzen da aneignen können, aber viele Bedürfnisse sind später erst deutlich aufgetreten, zum Beispiel, daß wir selbst eine Kamera bedienen können muß-ten. Das war vorher in unserem Berufsbild gar nicht enthalten, wir hatten das also auch gar nicht genügend gelernt, obwohl die Möglichkeit bestanden hätte. Später mußten wir dann bei unserer Dokumentarfilmarbeit erst viele Fehler machen, bis wir das ansatzweise im Griff hatten. Unsere praktische Arbeit hat uns gezwungen, das zu lernen.

Welche Bedeutung hatte für Sie die im ersten Jahrgang doch sehr starke politische Auseinandersetzung an der Berliner Filmakademie?

Ziewer: Die Politisierung war sehr wichtig, weil sie ja nicht nur bedeutete, daß man sich abstrakt politische Theorien zueigen machte, sondern weil J£ sie unsere Filmarbeit beeinflußte. Wir lernten, den Film unter politischen ; Gesichtspunkten zu betrachten, nicht nur die Politik unter filmischen Gesichtspunkten. Das hat ja auch zu den Konflikten an der Akademie geführt, daß Film nun plötzlich in einer Weise eingesetzt wurde, die dem herkömmlichen Ausbildungsbegriff nicht entsprach und die auch zur Konfrontation mit der Öffentlichkeit führte.

Wurde dadurch nicht die Kreativität in eine politische Zielrichtung eingeengt?

Ziewer: Sie wurde in eine Richtung erweitert, in der sie bisher nicht ge-j; fördert worden ist, nämlich dahin, sich auf gesellschaftliche Fragestel-; lungen zu beziehen und sich daran zu entwickeln. Wir mußten uns als ge-sellschaftbezogene Filmemacher begreifen lernen, nicht mehr als einzelne rein subjektiv empfindende Künstler. Ich sehe das nicht als Einengung. Sicher gab es zu bestimmten Zeiten ein Primat politischer Fragen, die ein Übergewicht gegenüber rein filmästhetischen Fragen gehabt haben. Aber durch die Auseinandersetzung mit politischen Fragen haben wir eine Grundlage erhalten, die es uns heute ermöglicht, die dramaturgischen und ästhetischen Schemata viel kritischer zu sehen, weil wir sie nicht mehr in einem wertfreien und unverbindlichen Raum behandeln. Primitiv gesagt: wenn ich mir heute über eine Einstellung Gedanken mache oder über den Einsatz einer bestimmten Farbe, dann spielen da auch psychologische, soziologische, also gesellschaftliche Erwägungen eine Rolle, denn die Rezeption des Zuschauers ist ja geprägt von seinem gesellschaftlichen Leben.

Sie sind, im Laufe der öffentlichen Auseinandersetzung um die Politisierung der Akademie, zusammen mit 18 Studienkollegen relegiert worden. Was kam danach?

Ziewer. Ein großer Teil derer, die relegiert wurden, hat sich zusammengesetzt und erst mal überlegt, ob und wie man gemeinsam Filmarbeit machen könnte. Aber die fehlende materielle Basis hat dazu geführt, daß wir nur in kleinen Kollektiven zusammenblieben, in Arbeitsgruppen, die voneinander verhältnismäßig isoliert waren. Erst heute entstehen ganz tiefe Bedürfnisse, wieder mit anderen zusammenzuarbeiten, weil wir bestimmte Erfahrungen mit Film gesammelt haben, auch schon bestimmte Ergebnisse haben, was zu machen ist, wie zum Beispiel die Problematik unserer sogenannten Zielgruppen zu behandeln ist. Wir stellen jetzt eben fest, daß sich die Filmmacher, die versuchen, gesellschaftskritisch und auch aktiv eingreifend sich zu bewegen, unbedingt zusammenschließen müssen, damit das alles nicht wieder abgewürgt wird unter dem Zwang der Ökonomie. Langfristig gesehen wird ja eine Vertriebsmöglichkeit geschaffen werden müssen, die es gewährleistet, daß unabhängige Filme produziert werden können, also unabhängig von öffentlichen Geldern, von Förderungssummen, vom Fernsehen. Es müßte ein System sein, das sich allein durch die Arbeit mit den angesprochenen Gruppen trägt. Aber das ist ein Ziel, das man auf Jahrzehnte sehen muß, und es geht nur, wenn sehr viele Leute zusammenarbeiten.

Aber auf der Basis der gelegentlichen Kinotermine und der Auswertung in nichtgewerblichen Abspielstellen ist eine solche Finanz-Grundlage doch nicht zu schaffen.

Ziewer: Nicht, wenn man davon ausgeht, daß alle Leute so bezahlt werden, daß sie davon leben können für die Zeit, die sie zur Herstellung eines solchen Films brauchen. Es ist unter Opfern möglich, die aber langfristig keine Perspektive sind. Deshalb ist unser Ziel ja, zusammen mit anderen das Netz der Abspielstellen so zu erweitern, daß es tragfähiger wird. Aber Filme, die bestimmte pädagogische Implikationen enthalten und die auch ganz bestimmte Mittel anwenden müssen, die nicht dem herkömmlichen Spielfilm entsprechen, können sich gegenwärtig nicht selbst tragen. Es müßte in Zukunft in einer organisierten Weise geschehen. Beispielsweise könnte die Gewerkschaft eines Tages feststellen, daß es für sie von großer Bedeutung ist, für solche Projekte Mittel zur Verfügung zu stellen. Mit den schwachen Kräften, wie wir sie in den nächsten zehn Jahren entwickeln können, werden wirdieSummen, die man zur Herstellung und Verbreitung eines Films braucht, nie zusammen kriegen. Es wird dann immer nur so sein, daß wir andere Arbeiten machen, um zu leben, und dann vielleicht mal alle vier Jahre einen Film. Es ist also gegenwärtig schon so, daß wir auf Förderung, sei es durchs Fernsehen, sei es durch möglichst unabhängige Gremien wie das Kuratorium, angewiesen sind. Wobei natürlich die Frage ist, ob sich der bürgerliche Staat auf lange Sicht bereit erklärt, antibürgerliche Filme zu fördern.

Haben Sie nach dem »Rausschmiß« aus der Akademie mit den Zielgruppenfilmen begonnen?

Ziewer: Wir haben im Märkischen Viertel, zusammen mit der Pädagogischen Hochschule, als Filmmacher an einem Forschungsprojekt teilgenommen, das sich mit der Bildung und Initiierung von Bürgerinitiativoder Selbsthilfe-Gruppen befaßte. Wir haben Filmmaterial über die Prozesse, die innerhalb dieser Gruppen stattfanden, hergestellt. Das waren teils Agitationsfilme, teils Informationsfilme oder einfach Dokumentar-material, und wir haben versucht, durch diese Filme die Vorgänge zu reflektieren und für die Bewohner dieses Stadtteils, zu denen wir selber zählten, Klarheit zu schaffen.

Haben Sie damals schon daran gedacht, einen Spielfilm zu machen?

Ziewer: Wir gehen davon aus, daß die verschiedenen Formen von Film an bestimmten Stellen alle ihre Notwendigkeit erweisen können. Ein kurzer Agitationsspot kann in einer bestimmten Situation angebracht sein, wo ein dokumentarisch-analytischer Film oder ein Spielfilm völlig unangebracht ist. Auf der anderen Seite ist ein Agitationsfilm nicht in der Lage, bestimmte Problembereiche darzustellen und bestimmte Lernprozesse auszulösen, die im Spiel- oder Dokumentarfilm zu bewältigen wären. Aber damals war an einen Spielfilm noch nicht zu denken, weil dazu ja doch erhebliche Mittel notwendig sind, die wir nicht hatten. Es gab auch eine bestimmte Zeit, da war es für uns fast blasphemisch, einen Spielfilm zu machen, da hieß es nur: Zielgruppenfilm. Agitationsfilm. Es gab zunächst die Notwendigkeit, in plakativer, stark verkürzter Weise Probleme an die Öffentlichkeit zu bringen. Jetzt hat sich aber ein bestimmtes kritisches Bewußtsein sowohl bei Teilen der Arbeiterklasse als auch bei Intellektuellen durchgesetzt. Wir stehen nicht mehr nur vor der Aufgabe, Probleme überspitzt und aggressiv in die Diskussion zu tragen, sondern können auch das, was inzwischen Pädagogik und Didaktik erarbeitet haben, in komplexere Medien, wie beispielsweise den Spielfilm, einbringen. Das gibt die Möglichkeit, bestimmte Tatbestände wesentlich umfassender darzustellen, als es im »Zielgruppenfilm« möglich wäre, der sich auf wenige, verkürzte Aussagen beschränkt. Durch die fortschreitende Entwicklung von Selbstverständnis und Klassenbewußtsein, die bei vielen Arbeitern zu beobachten ist, ist es möglich geworden, ganz differenziert die Schwierigkeiten und Widersprüche zu zeigen, die heutzutage bei Politisierungsprozessen auftreten.

Wie wurde Ihr erster Spielfilm »Liebe Mutter, mir geht es gut« finanziert?

Ziewer: Wir haben vorzwei Jahren das Buch beim Kuratorium eingereicht und hatten dann sehr lange mit den Vorarbeiten zu tun. Die Bearbeitung des Stoffes war noch nicht abgeschlossen, als das erste Drehbuch fertig war, für das wir 200000 Mark vom Kuratorium bekamen. Etwa im Frühjahr 1971 haben wir uns den Termin gesetzt für den Beginn der Dreharbeiten und hatten alles schon angekurbelt, als wir dann den Kontakt zum Fernsehen aufnahmen. Das Fernsehen ist also erst sehr kurz vor Drehbeginn mit 150000 Mark eingestiegen, was bedeutete, daß die Eingriffsmöglichkeiten des Fernsehens sehr reduziert waren.

Weshalb haben Sie die Fernsehbeteiligung noch dazugenommen, reichte das Kuratoriumsgeld für die Herstellung des Films nicht aus?

Ziewer: Doch, aber wir mußten für die Auswertung des Films eine Grundlage haben. Wir haben nicht einfach den Film gedreht und geschnitten und abgeliefert, sondern bei der Herstellung schon an die Auswertung gedacht - die war finanziell in die Produktion mit eingeplant. Das war notwendig, wenn wir nicht auf unserem fertigen Film sitzen bleiben wollten, weil wir keine Mittel mehr hatten, an die Leute ranzukommen, für die dieser Film gemacht war. Die fanden wir ja nicht primär im Kino, sondern das waren Arbeitergruppen, Gewerkschaftsgruppen und politische Organisationen. Um für die Auswertung in diesen Gruppen eine Grundlage zu haben, Kontakte anzubahnen, Kopien herzustellen, sind eine ganze Reihe von Mitteln erforderlich. Wir gingen von vornherein davon aus, daß mit Abschluß der Filmherstellung noch nicht das Ziel erreicht ist, sondern daß die Ergebnisse eigentlich erst in der Auswertung selbst festzustellen sind.

Was heißt das konkret, in den Herstellungsprozeß die Auswertung mi, einzubeziehen ?

Ziewer: Dieser Film istfurein Publikum bestimmt, das sich durch die herkömmlichen Auswertungsformen übers Kino oder allein übers Fernsehen nicht effektiv genug erreichen läßt. Wir hatten im Märkischen Viertel Erfahrungen gesammelt und auch durch Studien über den pädagogischen Einsatz von Medien gelernt, daß die Auswertung in Arbeitsgruppen eine viel größere Effektivität mit sich bringt. Wenn wir auf eine optimale Auswertung unseres Films abzielen wollten, mußten wir von vornherein darauf hinarbeiten, solche Gruppenarbeit zu ermöglichen. Das bedeutet aber, daß wir überlegen mußten, welche Gruppen können wir ansprechen, wie können wir die Gruppen ansprechen und mit welchen filmischen Mitteln. Dabei war wichtig, die Arbeiter selber am Herstellungsprozeß zu beteiligen. Deshalb haben wir während der Herstellung des Drehbuchs ständig Kontakt mit Arbeitern gehabt, mit ihnen darüber diskutiert. Auch bei den Proben haben wir versucht, ihnen einen Freiraum zu geben, in den sie ihre spontane Phantasie einbringen konnten. Das hat dazu geführt, daß die Figuren unseres Films von den Angesprochenen verstanden werden und daß denen klar wird: Das sind nicht irgendwelche Leute vom Fernsehen oder irgendwelche bürgerlichen Filmkünstler, die uns da mal was vorspielen, wie es angeblich bei uns sein soll. Die Kollegen, die unseren Film sehen, bescheinigen uns immer wieder, daß ihre Lage mit äußerster Präzision getroffen ist und daß sie die Möglichkeit haben, mitdem Film zu arbeiten, darüberzu diskutieren und nicht nur dazusitzen, zu glotzen und anschließend unberührt nach Hause zu gehen. In der Konfrontation mit dem Film, der Diskussion darüber, entstehen offensichtlich eine ganze Reihe von Gedanken, die sich von den festgefahrenen, bisherigen Gedanken unterscheiden, die mithelfen, Ansätze zu Initiativen der Arbeiter zu vertiefen. Dieser zwischenmenschliche Bereich, der sich in einem Diskussions- oder Arbeitskollektiv eröffnet, das angeregt wird durch solch einen Film, das ist der eigentliche Produzent neuer Ideen, der Film ist dafür nur Auslöser, Hilfsmittel.

Als Sie den Film produzierten, wußten Sie ja noch nicht, daß Sie eine Vertriebsförderung von 60000 Mark bekommen würden, wie hatten Sie den Vertrieb da geplant?

Ziewer: Wir wären dann wohl nicht, so wie wir es jetzt tun, mit dem Film zu so vielen Diskussionen gereist. Aber wir hätten über die Kontakte, die sich jetzt auch bilden, mit Gewerkschaften, mit politischen Organisationen, mit Volkshochschulen, den Film ausgewertet. Die Kinoebene, die jetzt möglich ist, hätten wir sicherlich schwer zustande gebracht, denn der Film bietet sich ja nicht als ein Kassenschlager an.

Wie wichtig war Ihnen, abgesehen von den politischen Absichten Ihres Films, der sogenannte Unterhaltungswert?

Ziewer: Wir sahen uns veranlaßt, die Darstellungsmittel des modernen Films zwar in Erwägung zu ziehen, mußten uns ihnen gegenüber aber sehr kritisch verhalten in bezug darauf, ob diese Darstellungsmittel gegenüber unserem Publikum angebracht sind. Zum Beispiel das Vorhandensein einer Hauptfigur: Es gibt zwar eine Tendenz in der modernen Literatur und auch im Film, vom herkömmlichen Bild eines Helden abzukommen, aber das Fernsehen hat in seiner Dramaturgie nur wenig dazu beigetragen, diese Tendenz zu unterstützen. Die Erwartung des Zuschauers ist immer noch sehr stark auf Einzelpersonen fixiert. Unser Ziel war, uns weitgehend von einer Hauptfigurzu lösen, aber wir mußten in gewissen Punkten ein Schicksal doch individuell formulieren, wenn auch als Reflex gesellschaftlicher Bedingungen. In den Diskussionen später haben wir festgestellt, daß in dem Moment, in dem das Interesse der Zuschauer durch die Konfliktstellung angesprochen ist, die Frage der Hauptfigur nicht mehr so entscheidend ist. Viel entscheidender wird, wie die Konflikte im Film gelöst oder nicht gelöst werden und ob sich für den Zuschauer Möglichkeiten bieten, sich selbst in der Anschauung, im Nachdenken weiterzuentwickeln, oder ob er stehenbleibt, resigniert oder pessimistisch werden muß.'Es war unsere Hauptaufgabe festzustellen, wie können wireinerseits Optimismus rechtfertigen über die Möglichkeiten des Arbeiters, seine Lage zu verändern, ohne ihm andererseits aber Träume vorzugaukeln, die mit seiner Realität nichts mehr gemein haben. Wenn Film dem Arbeiter ein Bedürfnis werden soll, müssen wir ganz andere Sachen machen als das bestehende Kino, als die bestehenden kommerziellen Verleihe überhaupt gewillt sind zu machen. Wir müssen dabei jedoch auch an die Erwartungshaltung denken, mit der der Arbeiter ins Kino geht, und die ist ja vordergründig auf den Genuß einer Situation angelegt, ob der Genuß nun trügerisch ist oder nicht, subjektiv wird er erst mal als Entspannung empfunden. Die Entscheidung, unseren Film in Farbe zu machen, ist davon beeinflußt, daß wir sagten: die Kollegen sehen die tollsten Schinken im Kino und finden das gut, und wenn Filme für sie gemacht werden, dann sind die arm lieh in Schwarzweiß. Wir haben gesagt: wenn wir was machen, dann nur das Beste. Vielleicht haben wir ' nicht das Beste gemacht, aber in der Tendenz gingen wir dahin, die fortgeschrittensten Mittel des Kinos einzusetzen, dazu gehört auch die Farbe ' und eben eine gewisse Sorgfalt in der technischen Arbeit.

Hätten Sie mit mehr Produktionskapital auch auf 35 mm gedreht?

Ziewer: Nein. Wir wären bei 16 mm geblieben, weil das technische Verfahren bei den Dreharbeiten mit 35 mm viel aufwendiger ist, der Stab wird größer, es wird komplizierter, und das konnten wir uns bei den Drehver-hältnissen in den Fabriken und auch bei der Arbeit mit den Laien nicht leisten, die zum Beispiel lange Wartezeiten nicht in der Weise gewohnt sind wie Schauspieler. Mitdenenmuß man immer produktiv arbeiten, die müssen sehen: da kommt etwas heraus. Wenn ich aber zwei Stunden eine Kamera umbaue, weil das so ein Riesenapparat ist, und eine Stunde das richtige Licht setze, damit das dann so schön ist wie bei Louis Malle, dann bekomme ich nicht mehr das Ergebnis der Arbeit mit den Darstellern, dann hab' ich vielleicht ein schönes Bild, aber das hat dann eine falsche Schönheit. Ein Film, in dem man sehr deutlich angehalten wird zum Nachdenken oder zum Überlegen der Situation und zur Nichtidentifikation, so wie es bei unserem Film der Fall ist, ist kein Film für den vordergründigen Genuß. Der Genuß stellt sich auf ganz andere Weise ein. Zum Beispiel dadurch, daß die Zuschauer in Arbeitsgruppen an Hand der Diskussion über den Film feststellen, wie sie ihre eigene Situation in den Griff bekommen, daß sie feststellen, es macht Spaß, den Film zu sehen, weil er auf eine andere Art spannend ist.

Wo liegen für Sie die Befriedigungsmöglichkeiten Ihrer schöpferischen Eitelkeit? Oder gibt es das bei Ihnen nicht?

Ziewer: Es wäre vermessen, Eitelkeit ausschließen zu wollen. Die Triebfedern unserer Arbeit, die psychischen, wo die überall verankert sind. Natürlich spielen auch Motive privater Natur eine Rolle, die gar nicht so selbstlos sein mögen, wie das vielleicht auf Anhieb scheint. Aber eins können wir wohl sagen: wir wissen ganz genau, daß die Anerkennung unserer Arbeit, die wir von der bürgerlichen Öffentlichkeit erhalten, völlig bedeutungslos ist, außer in dem Sinne, daß sie uns bei der Auswertung des Films nützt. Dagegen die Anerkennung, die wir von Kollegen erhalten, ob wir einen Film richtig gemacht haben, ob er ihnen was nützt, bedeutet wesentlich mehr. Das ist unser Ziel. Sicher steckt da auch was drin von Eitelkeit und Koketterie. Man kann vielleicht sagen: dadurch, daß Wiese selber Facharbeiter war und ich auch sehr viel Erfahrung in Betrieben gesammelt habe, sind unsere persönlichen Haltungen etwas anders gelagert als bei anderen Filmmachern.

Welche Beziehung haben Sie zu den Produkten Ihrer Spielfilmkollegen?

Ziewer: Wir wollen die Errungenschaften des modernen Films alle ganz raffgierig für unsere Zwecke benutzen. Wenn der Godard oder der Kluge oder Fassbinder dem Film ästhetische und technische Möglichkeiten zur Verfügung stellen, die in der Entwicklung des Films einen Fortschritt bedeuten,dann nehmen wirdie bewundernd auf, mit aller Kritik, die wir haben an dem, was sie da betreiben. Die politische Auseinandersetzung ist etwas ganz anderes. Wenn wir andere Filmmacher kritisieren, dann vielleicht in der Richtung, daß wir sagen: ihr bleibt mit dem, was ihr mit den Mitteln macht, weit hinter dem Fortschritt eurer Mittel zurück. Aber man sollte mit Abgrenzungen vorsichtig sein, denn es gibt ja neben den politischen Differenzen bei den jüngeren Filmmachern auch gemeinsame Interessen, beispielsweise die Forderung nach Öffentlichkeit und Kontrolle der Mittelvergabe. Wenn wir als Filmmacher einigermaßen unabhängig sein wollen, können wir gar nicht darauf verzichten, eine möglichstumfassende Verbindung unteruns herzustellen. Im gegenwärtigen Stadium dürfen unterschiedliche politische Anschauungen kein Hinderungsgrund sein, die für alle unerträglichen Produktionsbedingungen solidarisch zu verändern. Daß das bisher nicht ausreichend geschieht, erklärt sich aus den materiellen Bedingungen der Filmproduktion. Man ist eben völlig abhängig von Mitteln, die einem nicht gehören. Für alle ist nicht genügend da, beziehungsweise es ist in solchen Händen, daß wir als Filmmacher von der Verfügung darüber ausgeschlossen sind. Keiner von uns hat die Mittel, die er braucht, und so biedert sich jeder bei denen an, die die Mittel haben. Wenn die Filmmacher nicht daraus lernen, daß sie immer wieder eingeengt, zensiert, bevormundet werden, dann wird sich an diesem Zustand nichts ändern. In der Auseinandersetzung um die Verteilung der vorhandenen Mittel haben wir nur eine Chance, wenn wir uns organisieren. Auch die Unterstützung in der bürgerlichen Öffentlichkeit ist von Bedeutung. Aber wir geben uns keinen Illusionen hin: Die Situation des Filmmachers wird sich nicht grundsätzlich ändern, solange der Kapitalismus bestehen bleibt.

Editorische Anmerkungen
Das Interview führte Corinna Brocher. Es erschien in dem Buch: Bronnen, Barbara & Corinna, Die Filmemacher, 1973

Filmographie bis zu LIEBE MUTTER, MIR GEHT ES GUT

Kurzfilme: KARL MOLL, JAHRGANG 30 (1967); EINSAMKEIT IN DER GROSSTADT (1968, gemeinsam mit Klaus Wiese); NUN KANN ICH ENDLICH GLÜCKLICH UND ZUFRIEDEN LEBEN (1970, gemeinsam mit Klaus Wiese und Max D. Willutzki); KINOGRAMM l und KINOGRAMM II (1970, Gemeinsam mit Max. D. Willutzki).