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Septemberstreiks 1969
Materialsammlung zu den Filmveranstaltungen im September 2009
 
 

„ARBEITERFILM"
EIN BLICK IN DIE VERGANGENHEIT
von Christian Ziewer
(Ausschnitt, 2. Fassung, 2007)

 

... Die Zeitmaschine hat uns nun 30 Jahre vorangetrieben. Statt Kohle und Stahl: High Tech. Das Zeichen der Zeit ist nicht mehr die Walzstraße, sondern der Computer. Aber nicht nur Drehorte sind dem Kino verloren gegangen, sondern durch die völlig veränderte ökonomische, technische, politische und psychologische Situation auch die Protagonisten. Niederlagen in großen Streiks, Änderung des Grundgesetzes, Berufsverbote, Terrorismus und Deutscher Herbst, Stress und Konkurrenzdenken in den Schulen, Jugendarbeitslosigkeit, Roll-Back an den Universitäten, Raketen, Kriege, Umweltkatastrophen: Für die einen geht die Zukunft verloren, während sie sich für die anderen mächtig aufbaut: Globalisierung, Neoliberalismus, Kommunikations- und Informationsgesellschaft, Erlebniskultur und Ereignisräume, Ende der Geschichte, Ende der Utopien. Diese Bezeichnungen geben dem Neuen nicht nur Namen, sondern schaffen ihrerseits Tatsachen. Sie machen Politik, indem sie Zwänge, die auf den Menschen liegen, in bestimmter Weise interpretieren und Deutungsmuster abgeben. Die Talk-Show wird zum Parlament erklärt, die Love-Parade zur lockeren Staatskultur, Politiker sehen nur noch als coole Entertainer gut aus, ansonsten ist man ihrer überdrüssig angesichts der Seilschaften, der Abzockereien, der Zynismen und Räubereien in Rathäusern und Parlamenten. Und spätestens mit den - sorgfältig gesteuerten und platzierten - Einsichten in die Praxis des Realsozialismus scheinen die Versprechen der Aufklärung, Fortschrittsglaube und Hoffnung auf Gerechtigkeit im öffentlichen Bewußtsein nicht nur ihren Glanz, sondern auch ihre Berechtigung verloren zu haben.

 

Ist es da verwunderlich, wenn auch im Kino die Visionen, Mythen und Symbole des politischen Widerstandes zu Grabe getragen werden? „Ein Arbeitskampf paßt nicht mehr in unsere Zeit" erklärte kürzlich Arbeitgeberpräsident Hundt. Zwar sagten solches die Arbeitgeberpräsidenten auch schon vor 30 Jahren, aber damals war es nur ihr frommer Wunsch. Heute ist es eine Tatsache. Die Flüchtigkeit des Kapitals erweist jetzt, 150 Jahre, nachdem Marx sie mit so feurigen Worten beschrieben hat, die wahre Bedeutung der Drohung, die in ihr steckt: Schneller als ein Arbeitnehmerhirn überhaupt einen Protestgedanken fassen kann, ist die mögliche Investition schon davongeflogen, und kein Arbeitsplatz ist mehr da, an dem man sich verweigern könnte. So bleibt offensichtlich dem Kino nur noch übrig, mit Katastrophen- und Gewaltfilmen seinem Publikum Ausdruck zu geben oder es mit Zirkus, Metaphysik und Spaßen sich hinweg träumen und hinweg lachen zu lassen.

 

Unsere Filme waren entstanden im Vertrauen, daß sie etwas bewirken könnten, und das Umfeld, in dem sie entstanden und aufgeführt wurden, bestätigte dieses Vertrauen durch Engagement und Zustimmung. Diese Erwartung von Veränderungen ist dem Gefühl der Vergeblichkeit und Folgenlosigkeit gewichen. Damit verstummte, was immer als das Hauptsächliche der Filme gesehen worden war: ihre Botschaft, ihre Bilder von politischen und sozialen Kämpfen, ihre Strategievorschläge und Solidaritätsappelle. Ihre Ärgernisse sind keine Ärgernisse mehr, ihre Ermutigungen sind nicht mehr gefragt, die aufgeregte Agitation von damals ist einer Abgeklärtheit bürgerlicher Existenz gewichen, und wenn auch allerorts Arbeitsplätze massenhaft untergehen, so läßt sich doch das eigene Gärtchen recht gut bestellen: Da sind „Tatorte" herzurichten, Filmstudios oder -akademien auf den Weg zu bringen, TV-Sender zu leiten, Opern zu inszenieren, Industrieprodukte lustvoll und kreativ ins Bild zu setzen, man kann aber auch rechtzeitig zur Stelle sein, wenn eine Professur oder ein Dozentenposten die Angst vorm Altern human zu mindern verspricht. (Nur der Ausländer Sergej Eisenstein hat erneut steile Karriere gemacht, indem er an den Prinzipien seiner Vergangenheit festhielt: Er stellte seine bewunderungswürdigen Montage-Prinzipien der Film- und Werbebranche zur Verfügung und wurde so zum Erfolgsgaranten von Musik-Clips und Blockbustern.) Bedrängt von Multiplexen und Einkaufszentren haben die Programmkinos, soweit sie überleben konnten, die Zeichen der Zeit erkannt und uns mit unseren anachronistischen Polit-Filmen aufs Archiv verwiesen. Zur Endlagerung ins Museum, Ersatz ist nicht im Fahrpreis Inbegriffen. Kein Wünschen mehr und kein Wollen. Wirklich? Warum denn aus Frust das Kind mit dem Bade ausschütten! Es werden doch bewegende, uns umtreibende Spielfilme gedreht, die von Menschen unserer Zeit erzählen, von ihrem Leid, ihrer Energie und ihren Kämpfen. Diese Filme sind nicht nur Fluchtbewegungen, und sie lassen die Possenreißereien hinter sich, die sich widerstandslos in den Strom der Unterhaltungsindustrie werfen. Sie sind ein Stachel und ein Forum der öffentlichen Angelegenheiten. Und die Studenten der Filmakademien, die in einer High-Tech-Welt leben und mit digitalen Programmen arbeiten, erzählen tief empfundene und scharf beobachtete Geschichten. Daß bei ihnen keine roten Fahnen flattern und kein Arbeiter streikt, hindert sie nicht, den Zuschauer mit leidenschaftlichem Engagement auf die Reise in die Gegenwart zu schicken. Vielleicht ist es sogar die Vorbedingung dafür.

 

Aber was ist mit unseren alten „Arbeiterfilmen"? Verrotten sie jetzt wirklich im Orkus der Vergangenheit? Was ist zum Beispiel mit den SCHNEEGLÖCKCHEN ? Wenn politische Botschaften und Massen-freundliche Appelle tatsächlich die Essenz dieses Filmes ausmachen würden, dann wäre er jetzt unwiderruflich alt geworden. Doch wie kommt es, daß die SCHNEEGLÖCKCHEN, wenn ich sie heute, nach so langer Zeit, wieder sehe, auf mich immer noch so eindrücklich wirken? Wodurch entsteht die Aufmunterung, die ich dabei erlebe. Ich glaube, die wirkliche Attraktivität der SCHNEEGLÖCKCHEN liegt eben nicht in einer womöglich immer noch bestehenden Aktualität oder im Dokumentieren und Illustrieren vergangener Kämpfe und Debatten oder im kurzlebigen Pathos der Klassensolidarität, sondern in einem Versprechen, das nicht in Worte gefaßt ist, das aber, wie mir scheint, jede Faser des Films durchdringt: Das Versprechen einer anderen Möglichkeit zu leben und miteinander zu verkehren; das Versprechen einer anderen Zukunft als der, welche die gegenwärtige Industriegesellschaft und Mediendemokratie anbietet. Dieses Versprechen scheint mir die wirkliche innere Kraftquelle des Films zu sein, so etwas, wie seine versteckte Utopie.

 

 

Sie offenbart sich in den Laiendarstellern, in der subversiven Kraft, mit der sie mit den Texten „umgehen", die ihnen als Filmdialoge zwar fremd sind, die sie sich aber vor der Kamera in einer Weise aneignen, daß dem zuhörenden Zuschauer aufgeht: Sie haben wirklich das Wort ergriffen - in ihrer eigenen Sache. In der Begegnung der Schauspieler mit einer für sie unwirklichen Kulisse und irrealen Handlung ist sie anwesend, im Befremdetsein und der Suche nach Verstehen. Die Reaktionen des Kameramanns machen sie sichtbar, sein Schwenken, Fahren und Fixieren, das den Ereignissen näher kommen will. Die Wildheit der Töne mit ihrer Mischung aus realem und künstlichem Material; die sarkastischen Stilisierungen und die naturalistischen Abbilder der Physis von Menschen und Dingen; und schließlich die Lust am Spiel und an der Verstellung, an den Lügen und Wahrheiten des Augenblicks; die Emphase der Akteure, wenn der Blick, die Stimme, der Atem, die Hände, der ganze Körper sprechen und eine Lebensgeschichte zu erkennen geben. Da ist auch plötzlich die Intimität des Privaten, die in der öffentlichen Auseinandersetzung so oft unterschlagen wurde. Und ich merke als Zuschauer, wie mein Blick und mein Gefühl sich öffnen, wie sie sich ins Unbekannte weiten und ich etwas von einer Realität erfahre, die jenseits der Parolen und Dogmen liegt.

Ich glaube, auch früher schon hat das Publikum hinter den Strategiedebatten, den vielen Worten und Erkenntnissen, diese zweite Realität gespürt und als die eigentlich wichtige Kino-Realität empfunden. Sie ist es, hoffe ich, die diesen Film -und andere „alte" Filme auch - weiter leben läßt. Als ein heftiges Wünschen und Wollen.


Editorische Anmerkungen

Die Scans und der Text wurden dem DVD-Booklet entnommen.

Der Film ist als DVD incl. Booklet erhältlich bei
http://www.basisdvd.de/
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