zurück Septemberstreiks 1969
Materialsammlung zu den Filmveranstaltungen im September 2009
 
Die Ausgangssituation der Streiks

Das Ziel dieses Kapitels ist nicht, eine in sich geschlossene gesellschaftliche Analyse vorzulegen, der die Streiks im September 1969 eindeutig zugeordnet werden können. Insbesondere ist es uns nicht möglich, die Frage zu untersuchen, inwieweit die Septemberstreiks als Ausdruck einer zunehmenden Normalisierung der sozio-ökonomischen Situation der BRD - im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern - nach dem Ende des relativ krisenfreien Wirtschaftsaufschwungs in der sogenannten Rekonstruktionsperiode anzusehen sind. Zur Beantwortung dieser Frage bedürfte es einer weit umfassenderen Darstellung der ökonomischen und sozialen Entwicklung der BRD in den 5oer und 6oer Jahren, als es im Rahmen der vorliegenden Untersuchung leistbar war.

Im folgenden soll vielmehr versucht werden, die Ausgangssituation der Streiks zu charakterisieren und in systematischerer Form (als dies bisher geschehen ist, jene Daten zusammenzutragen, die uns für die Erklärung der Streikbewegung relevant zu sein scheinen. Wir unterscheiden dabei einerseits die sozio-ökonomischen Bedingungen des Vor-September, wobei uns hier sowohl die allgemeine wirtschaftliche und politische Situation in der BRD interessiert, als auch die Besonderheiten der bestreikten Branchen und Konzerne bzw. Betriebe, und andererseits die Verhaltensdisposition der Arbeiter am Beispiel ihrer gesellschaftlichen Perspektive sowie ihres Gewerkschaftsbildes.

Für eine Analyse der Frage, wie es im September 1969 zu der Welle spontaner Arbeitskämpfe kommen konnte, scheinen uns alle diese Aspekte wichtig zu sein, doch sie dürfen keinesfalls als gleichgewichtiger Ursachenkatalog verstanden werden. Z.T. haben die genannten Gesichtspunkte ausschließlich indirekte, gleichsam nur klimatische Bedeutung - so etwa die Bundestagswahl zur damaligen Zeit -und lassen sich in ihrem realen Einfluß nachträglich kaum schlüssig belegen, z.T. sind sie aber auch unmittelbare Ausgangsbedingungen der Streikbewegung und gingen u.U. in sie als zentrale Streikforderungen ein - wie etwa konzerninterne Lohndisparitäten. Doch die Ursachen der Streiks allein in jenen Bedingungen zu sehen, deren direkte Auswirkung sich in den proklamierten Zielen der einzelnen Aktionen widerspiegelt, erscheint uns problematisch.

I) Die sozio-ökonomischen Bedingungen
1. Die wirtschaftliche und politische Situation in der Bundesrepublik vor den Streiks
a) Die ökonomische Situation

Untersucht werden soll die gesamtwirtschaftliche Konstellation im ersten Halbjahr 1969 in der Bundesrepublik unter dem Gesichtspunkt, ob die damalige wirtschaftliche Situation als eine wichtige Ursache für die spontanen Arbeitsniederlegungen im September 1969 angesehen werden kann.

Im Sommer 1969 befand sich die westdeutsche Wirtschaft mitten in einer Phase der Hochkonjunktur. Nach der Rezession 1967 - zum ersten Mal in der wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik stagnierte das Bruttosozialprodukt - mit ihren für die Arbeiterschaft nachteiligen Folgen wie erhöhte Arbeitslosigkeit und absoluter Rückgang der Effektivlöhne(1) , erholte sich die bundesrepublikanische Wirtschaft relativ rasch. Tab. A9 und A10, die das Wachstum des realen Bruttosozialprodukts und der industriellen Nettoproduktion von 1958 bis zum 1. Halbjahr 1969 darstellen, verdeutlichen die außerordentliche Intensität des konjunkturellen Aufschwungs im Jahre 1968 und im 1. Halbjahr 1969: Im Vergleich zum Krisenjahr 1967 erhöhte sich die Wachstumsrate des realen Bruttosozialprodukts im Jahre 1968 von 0,2 um 7,4 auf 7,6 % und die der industriellen Nettoproduktion von 2,7 um 14,3 auf 11,6 %; (2) im 1. Halbjahr 1969 setzte sich der konjunkturelle Aufschwung, wie Tab. A9 und A10 belegen, ungebrochen fort. Der extreme Charakter dieser wirtschaftlichen Expansion -erklärbar auch aus dem vorhergehenden Tief der Rezession 1967 -schlägt sich ebenfalls in der Kapazitätsauslastungskurve der verarbeitenden Industrie (3) deutlich nieder: Von einem Tiefstwert 1967 (rund 79 %) steigt die Auslastung sprunghaft binnen zweier Jahre auf rund 95 %, einen Wert, der zuletzt 1960 erreicht wurde.

Die Arbeitnehmer freilich partizipierten an dieser positiven wirtschaftlichen Entwicklung nur unterproportional: Im Jahre 1968 klafften in eklatanter Weise die Zuwachsraten der Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit und die der Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen auseinander.(4) Während die Bruttoeinkommen der Unselbständigen nur um 7,3 % stiegen, erhöhten sich die Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um 19,5 %. Die Bedeutung dieser Diskrepanz wird offenbar, wenn man berücksichtigt, daß in dem Zeitraum von 1958 bis 1968 die Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit nur ein einziges Mal - und in diesem Fall nur geringfügig - schwächer gestiegen waren als die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen. Im 1. Halbjahr 1969 wuchsen zwar die Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit ein wenig stärker als die entsprechende Größe aus Unternehmertätigkeit und Vermögen,(5) doch  zieht man die für die tatsächliche ökonomische Situation der Gruppen sehr viel aussagekräftigere Größe des Nettoeinkommens heran (6), so kehrt sich, wie Tab. A11 verdeutlicht, das Verhältnis um; die ungünstige Situation für die Mehrzahl der Arbeitnehmer wird offenkundig.

Diese Diskrepanz in der Verteilung der Ergebnisse der wirtschaftlichen Entwicklung betraf in besonderem Maße die Arbeiterschaft: 1968 und im 1. Halbjahr 1969 blieb die Zuwachsrate der Effektivlöhne wesentlich hinter der Entwicklung der Produktivität zurück. (7) Der für einen konjunkturellen Aufschwung charakteristische Lohn-lag (d. h. das Zurückbleiben des Zuwachses der Effektivverdienste gegenüber dem Produktivitätszuwachs) war im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Konjunkturzyklen wesentlich ausgeprägter. "Diesmal war der Produktivitätszuwachs größer, der Anstieg des Effektivlohns dagegen geringer als in den früheren Aufschwungphasen. Die Tarifpolitik der Gewerkschaften, die 1967 und 1968 durch Zurückhaltung gekennzeichnet war, hat bis Mitte 1969 den Rückstand der Effektivlöhne nicht abzubauen vermocht." (8) Seit Ende 1968 erhöhten sich zwar die Effektivlöhne wieder rascher, aber dieser vergrößerte Anstieg ist im wesentlichen darauf zurückzuführen, daß im verstärkten Maße Überstunden geleistet wurden. Schaubild A8 verdeutlicht, wie sehr der Anstieg der tatsächlichen Wochenverdienste der Arbeiter seit Herbst 1968 durch die Zunahme der geleisteten Überstunden bestimmt worden ist.

Die wirtschaftliche Situation der Arbeiterschaft im Sommer 1969 war also durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Auf der einen Seite wurden die Arbeiter - nachdem ihnen in der Rezession 1967 die Unsicherheit ihrer ökonomischen Situation in besonderer Weise vor Augen geführt worden war - in dem konjunkturellen Aufschwung bis zum Sommer 1969 in einem im Vergleich zu früheren konjunkturellen Entwicklungen unbekannten Ausmaß benachteiligt. Da sich auf der anderen Seite die Arbeitsbelastungen aufgrund der Zunahme der überstunden erhöhten, mußte den Arbeitern die inadäquate Beteiligung an den Ergebnissen der wirtschaftlichen Entwicklung als besonders ungerechtfertigt erscheinen.

Zusätzlich wurde für die Arbeiter an den im 1. Halbjahr ausgeschütteten Gewinnen(9) deutlich sichtbar, daß der in der Großen Koalition vertretene Anspruch auf "Soziale Symmetrie" in keiner Weise realisiert worden war. Außerdem war ziu erwarten - dies zeigte der Hoesch-Fall exemplarisch -, daß die Unternehmer bereit waren, auf massiven Druck von Seiten der Arbeiter Zugeständnisse zu machen, da ihre ökonomische Situation außerordentlich günstig war und sie an der kontinuierlichen Aufrechterhaltung der Produktion wegen der sehr guten Auftragslage interessiert sein mußten.

b) Die politische Situation

Die politische Konstellation in der Zeit vor dem September 1969 wurde besonders durch drei für die Erklärung der Streikbewegung relevante Bedingungen gekennzeichnet:

  • die Große Koalition von CDU/CSU und SPD
  • die Bundestagswahl
  • neue Formen der Interessenvertretung außerhalb der Institutionellen Konfliktregelungen.

Die große Koalition

Die Bildung einer gemeinsamen Regierung von CDU/CSU und SPD fand im Zeichen der wirtschaftlichen Krise statt, deren Lösung das Grundthema der Regierung abgab. Fragen der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik standen bis hin zum Wahlkampf 1969 im Vordergrund; vor allem war es das Konzept der "Konzertierten Aktion", das durch die Große Koalition gesichert werden sollte. Dieses Konzept hatte nicht zuletzt zum Ziel, die Koalition auf die gesellschaftlichen Interessenorganisationen - insbesondere Unternehmer und Gewerkschaften - auszudehnen, um im Rahmen einer mehrjährigen konjunkturpolitischen Zielplanung die Wirtschaft aus der Rezession in einen neuen Aufschwung zu führen. Die politische Koalition wurde in eine soziale Koalition verlängert. Freilich implizierte diese Koalition eine einseitige Begünstigung, da sie in Form eines Phasenprogramms die Unternehmer durch Investitionshilfen bevorzugte, während der Arbeiterschaft für die zweite Phase nach dem Aufschwung mit dem Stichwort der sozialen Symmetrie zwar eine adäquatere Beteiligung am Zuwachs des Sozialprodukts zugesichert, zunächst aber - etwa auch in Form langfristiger Tarifverträge -kalkulierbares Wohlverhalten abgefordert wurde.(10) Wirtschaftsminister Schiller versprach ausdrücklich die "Wiederherstellung der sozialen Symmetrie" und lobte unter Anerkennung der Tatsache, daß die Arbeiterschaft in besonderem Maße die Last der Wirtschaftskrise von 1967 sowie die des Konjunkturaufschwungs zu tragen hatte, das tarifpolitisehe Verhalten der Gewerkschaften im 'Gleichschritt eines gesamtwirtschaftlichen Konzepts1: "Die Gewerkschaften haben in einem hohen Maße Verständnis aufgebracht für die gesamtwirtschaftliche Laap. Sie haben sich nicht gegen die Notwendigkeit einer im Aufschwung gewachsenen Selbstfinanzierung gewehrt.(11)

Die Erfahrungen der Rezession mit ihren Konsequenzen in Form von Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Lohnkürzungen, Verunsicherung des ökonomischen Status der Arbeiterschaft, kurz, der Bedrohung der sozialen Sicherheit, wie die Zeit des Konjunkturaufschwungs mit relativ raschem Produkt ivitä'tszuwachs , Auftragszunahme und hohen Gewinnen und dem ständigen Versprechen der Herstellung der sozialen Symmetrie rückten die Themen der sozialen Gerechtigkeit, hier bei vor allem die der sozialen Sicherung, der gerechten Einkommen und Vermögensverteilung, der Gewinn- und Lohnentwicklung in das Zentrum der innenpolitischen Diskussion. Hinzu kamen die Probleme der gesellschaftlichen Infrastruktur, vor allem die Krise des Bildungssystems, die gleichermaßen unter dem Stichwort der sozialen Ungleichheit der Bildungschancen geführt wurde.(12)
So wurde unter dem Zeichen der Großen Koalition und insbesondere durch den Eintritt der Sozialdemokratischen Partei in die Regierung auch das Problem der sozialen Gerechtigkeit und der Verteilung des Sozialprodukts virulent. Dies führte u. a. dazu, daß in der Öffentlichkeit in dieser Form wohl zum erstenmal in der Nachkriegsentwicklung die Probleme der sozialen Gerechtigkeit ausführlich diskutiert wurden. Der gleichsam offizielle, durchgängig bestätigte Tenor war dabei, daß es eine große gesellschaftliche Gru1 pe gab, die sozial und ökonomisch benachteiligt ist und legitimen Anspruch auf die Teilhabe an Wohlstand und Konsum im Rahmen der postulierten sozialen Symmetrie hat. Das hieß freilich nicht, daß die Struktur des sozio-ökonomisehen Systems in Frage gestellt wurde, sondern nur, daß die Forderungen der Arbeiterschaft nach ökonomischer Besserstellung öffentlich als legitim akzeptiert wurden. Das zeigte sich auch deutlich an der Reaktion auf den Initiativstreik am Anfang der Septemberstreikwelle im Hoesch-Werk, die dadurch gekennzeichnet war, daß sowohl von den Massenmedien als auch von den Parteien die inhaltlichen Forderungen großenteils berechtigt beurteilt wurden, während sich die Kritik auf die Kampfform konzentrierte. (13)
In der zweiten Hälfte 1968 und dem weiteren Boom 1969 war die Große Koalition mit dem Auseinanderklaffen der Gewinn- und Lohnentwicklung und den sich abzeichnenden Preissteigerungen konfrontiert.(14)' Die zweite Phase der Konzertierten Aktion wurde nicht realisiert. Die Arbeiter sahen sich vor die Tatsache gestellt, daß die Einlösung der Versprechen auf Herstellung der sozialen Symmetrie, die Versicherungen der Politiker, für eine gerechtere Einkommensverteilung zu sorgen, ausblieb. Die Bedingungen, die zu dieser Situation geführt hatten, waren vor allem folgende:

  • Die Konzertierte Aktion und die sie tragende Große Koalition zerbrach im Laufe des ersten Halbjahres 1969. Die letzte Sitzung der an der Konzertierten Aktion beteiligten Organisationen fand am 20. Juni statt. Vor allem der Widerstand der Unternehmer gegen die Aufnahme vorzeitiger Tarifverhandlungen war hierfür bestimmend. Gleichfalls führte das Auseinanderbrechen der Großen Koalition und die verschärfte Konkurrenz vor den Wahlen zwischen den beiden Regierungspartnern zu einer Paralyse der Wirtschaftspolitik, die sich auf den Streit um die Aufwertung zentrierte.(15)
  • Der beginnende Wahlkampf bestimmte das Verhalten der Bundesregierung und der Parteien. Vor allem bot der Streit um die Aufwertung und die damit zusammenhängenden Themen der Preisstabilität und Konjunkturerhitzung Konfliktstoff für beide Kontrahenten, um den für die CDU/CSU gefährlichsten Gegner Schiller un: seine wirtschaftspolitischen Erfolge zu attackieren, während die SPD das Thema der Preisstabilität und ihrer Gefährdung durch Kiesinger und die CDU/CSU in den Vordergrund stellte.Bei de Parte en verschoben damit aber die ausstehenden Forderungen und Versprechungen auf soziale Symmetrie in Form der Angleichung der Löhne an die Gewinnentwicklung auf das Spezialthema Aufwertung. Besonders die SPD und ihre Gewerkschaftspartner vermieden eine Tarifveränderung aus Sorge darüber, daß Tariferhöhungen in der Öffentlichkeit als preistreibend und damit der SPD angelastet würden. So erklärte etwa 0. Brenner noch am 2. 9.: "Die Tarifbewegung 1969/1970 ist beendet." (16)
  • Der Wahlkampf wurde bei den Parteien nach dem Konzept der Volkspartei mit einer alle Gruppen umgreifenden Maklerfunktion geführt. In der Wahlstrategie mußten alle sozialen Interessen der Bevölkerung berücksichtigt und die Akzentuierung von besonderen Gruppen vermieden werden.(17) Die lohn- und tarifpolitischen Fragen wurden - wie die Wirtschaftspolitik der Regierung - auf die Zeit nach den Wahlen verschoben, und die Gewerkschaften waren bereit, dieses Vorgehen zu stützen.
    Gerade diese Konstellation aber wirkte nicht abschwächend auf die Erwartung der Arbeiter, sondern mußte - in der Hitze sowohl der Konjunktur als auch des Wahlkampfes mit wirtschaftspolitischem Grundtenor - ihre Haltung eher noch verstärken, eben weil die ihnen gerade noch als berechtigt attestierten Ansprüche weiter unerfüllt blieben. Da auch die Gewerkschaften sich dieser Politik der politischen Parteien nicht widersetzten, vernachlässigten sie augenfällig ihre Funktion als Arbeiterinteressenvertretung: Es lag deswegen für die Arbeiter nahe, die Wahrnehmung ihrer Interessen in die eigene Hand zu nehmen.

Die Wahlsituation

Die bevorstehenden Bundestagswahlen waren unter taktischen Gesichtspunkten für Kampfmaßnahmen durchaus günstig:

  • Alle Parteien mußten unsicher sein, für wen ein Arbeitskampf positiv bzw. negativ zu Buche schlagen würde; für jede bedeutete er ein unsicheres Kalkül. Keine der Parteien durfte sich
    eine so große Wählergruppe zum Gegner machen. Zudem bestand 2' die Angst, daß DKP und NPD durch die Streiks gestärkt würden. (18)
    Das zeigt sich bereits bei Beginn der Streikbewegung. Die Billigung der Forderungen der Streikenden nicht nur durch die SPD und hier besonders Wirtschaftsminister Schiller, in dessen Dortmunder Wahlkreis der Hoesch-Streik fiel, sondern auch durch die anderen Parteien, der indirekte Druck der Bundesregierung, die auf eine rasche Beilegung unter Betonung der Tarifautonomie der Unternehmer und Gewerkschaften drängte, sowie die von Regierung, Parteien und Öffentlichkeit begrüßte Einigung in den Hoesch-Werken mußte der Arbeiterschaft bewußt machen, daß dies ein gangbarer, nicht völlig negativ sanktionierter Weg zur Interessendurchsetzung war. (19)
    Für die Öffentlichkeit erschienen zumeist die inhaltlichen Forderungen der Streikenden legitim. So zeigt sich auch in der Reaktion der Presse von Anfang an Verständnis für die Inhalte der Streikforderungen trotz Distanzierung von der Streikform. Als Ursachen für den Arbeitskampf wurden vor allem die Passivität der Bundesregierung in der Konjunkturpolitik, die zu langfristigen Tarifverträge in einer Zeit der Hochkonjunktur, die zu große Rücksicht der Gewerkschaften auf die SPD, die Branchenunterschiede, die klimatischen Bedingungen, die großen Gewinnspannen der Unternehmer und ihre Unnachgiebigkeit diskutiert, während die Rädelsführertheorien über ApO- und Kommunisteneinflüsse relativ rasch in den Hintergrund traten. (20) Damit übten auch einige wichtige Presseorgane öffentlichen Druck auf die Unternehmer aus, etwa mit dem Tenor, nun auch die andere Seite nach ihren guten Gewinnen zu ihrem Recht kommen zu lassen. In einer solchen Atmosphäre mußte für die Unternehmer die Anwendung der Aussperrung als Konsequenz auf "wilde" Streiks mit eventuellen Polizeieinsätzen etc. besonders schwer fallen. (21) Auch diese sichtbare Einengung des Handlungsspielraums der Unternehmer, wie sie sich schon unmittelbar nach dem Hoesch-Streik abzeichnete, verbesserte die taktische Situation der Arbeiter, ihrer Unzufriedenheit in selbstorganisierten Arbeitskämpfen Ausdruck zu geben und ihre Forderungen erfolgreich durchzusetzen.

Neue Formen der Interessenvertretung

Die Bildung der Großen Koalition hatte für den Bereich der Artikulation und Durchsetzung gesellschaftlicher Interessen entscheidende Konsequenzen: Durch das damit geschaffene Parteienkartell wurde ersichtlich, daß jede prinzipielle Opposition auf den außerparlamentarischen Raum verwiesen war.

Mit dem Bestehen der Großen Koalition waren daher auch neue, für die bundesrepublikanischen Verhältnisse bis dahin unbekannte Protest- bzw. Oppositionsformen zu beobachten: In den Hochschulen brachen Unruhen aus, die über ihren unmittelbaren Bereich hinaus auch allgemein politische Probleme thematisierten. Es entstand eine außerparlamentarische Opposition, die ihren Protest in Formen zum Ausdruck brachte, die sich am Rande der Legalität bewegten. Die festzustellenden Erfolge neuer Protestformen, die bereits etwa von Richtern und Sozialarbeitern zur Durchsetzung ihrer Interessen teilweise übernommen worden waren, läßt die Vermutung zu, daß auch für die Arbeiter der Schritt zu unkonventionellen Kampfmaßnahmen dadurch erleichtert wurde.
Zusätzlich zu dieser Bewegung ist in diesem Zusammenhang auch an die Mai-Revolte und die Massenstreiks in Frankreich 1968 sowie an die großen Streiks in Italien zu denken. Wie immer diese Ereignisse im einzelnen beurteilt wurden, sie könnten doch zu einer Verschiebung der Legitimitätsmarge und einer Verunsicherung des Verhaltenskonsensus geführt haben.(22)

2. Besondere Bedingungen der bestreikten Branchen

Mit diesem Abschnitt wird beabsichtigt, anhand von Branchenanalysen zu untersuchen, inwieweit die branchenspezifische ökonomische Entwicklung der letzten Jahre eine Erklärung für die Konzentrierung der Streiks im September 1969 auf bestimmte Industriezweige - die Eisen- und Stahlindustrie sowie den Kohlenbergbau - liefern kann. Die Ausgangsfragestellung ist hierbei, ob sich in der ökonomischen Entwicklung dieser Branchen im Vergleich zur Gesamt industrie gravierende Differenzen ergeben, die als streikverursachende branchenspezifische Faktoren angesehen werden können. Zusätzlich soll erörtert werden, inwieweit sich die wirtschaftliche Lage in einer nicht bestreikten Branche der Chemieindustrie (23) - wesentlich von der in den bestreikten Branchen unterscheidet und insofern die genannte These stützt.

a) Eisen- und Stahlindustrie

Folgende Unterschiede gegenüber der Gesamtindustrie charakterisieren die Eisen- und Stahlindustrie als eine wachstumsschwache Branche:

Von 1959 - 1968 war das Wachstum der Nettoproduktion der Eisen-und Stahlindustrie mit 49,7 % um 12,3 % niedriger als das Wachstum der gesamten Industrie. (24)  Wie Tab. A14 verdeutlicht, war die Entwicklung der Stahlindustrie auf der einen Seite durch Jahre überdurchschnittlichen Wachstums, auf der anderen Seite durch Jahre der Stagnation bzw. des absoluten Rückgangs gekennzeichnet. Folge dieses insgesamt unterdurchschnittlichen Wachstums, das mit
Rationalisierungsmaßnahmen einherging - die Arbeitsproduktivität erhöhte sich von 1959 - 1968 um 61 % (25) - war eine Reduktion der Beschäftigten.(26) Von 1962 - 1968 verminderte sich die Zahl der in der Stahlindustrie Beschäftigten um rund 60.000. Allgemeine Arbeitsplatzunsicherheit und Gefahr des Statusverlustes bei Arbeitsplatzwechsel, weil selbst die höher qualifizierten Produktionsarbeiten keine formale Qualifikation erfordern, d. h. ohne Lehrausbildung ausgeübt und deswegen beim Übergang in eine andere Industrie dort nicht entsprechend gewertet werden, kennzeichnen die Situation der Stahlarbeiter.

Ausdruck der Wachstumsschwäche der Stahlindustrie ist die Entwicklung der Verdienste. Zwar ist das Lohnniveau in der Stahlindustrie in Relation zu anderen Industriezweigen noch relativ hoch, jedoch blieb die Steigerungsrate der Verdienste in dieser Branche in den letzten Jahren deutlich hinter der der Gesamtindustrie zurück: Von 1959 - 1968 stiegen die Bruttoverdienste in der gesamten Industrie um 96 %, in der Stahlindustrie dagegen nur um 79 %.(27)

Hinzu kommt, daß auch heute noch in der Stahlindustrie häufig Arbeitsplätze zu finden sind mit körperlich recht anstrengender Tätigkeit, was heißt - da das Kriterium der Arbeitsbelastungen für die gesamte Arbeitseinstellung der Arbeiter erhebliche Bedeutung hat (28) -, daß in dieser Branche die arbeitsplatzspezifischen Bedingungen für Arbeitszufriedenheit besonders ungünstig sind.

Drei Faktoren also - relative Arbeitsplatzunsicherheit, hohe Arbeitsbelastung und geringes Wachstum der Verdienste - können im wesentlichen als mögliche Ursachen für ein strukturell bedingtes Unzufriedenheitspotential in der Stahlarbeiterschaft angesehen werden. In der konjunkturellen Entwicklung von 1968/69 veränderte sich die Lage insofern, als - im Vergleich etwa zur Rezession 1966/67, als die Zahl der in der Stahlindustrie Beschäftigten um rund 1/10 vermindert wurde - die Sorge um den Arbeitsplatz in den Hintergrund trat; dafür gewannen andere Faktoren an Gewicht, die zu einer Verstärkung der Unzufriedenheit der Arbeiter führten: In den Jahren 1968 und 1969 stieg die Nettoproduktion der Eisen- und Stahlindustrie nach Jahren der Stagnation wieder steil an und übertraf sogar leicht den Zuwachs der gesamten Industrie; die Arbeitsproduktivität lag eindeutig über den Vergleichswerten der Gesamt Industrie. Die Effektivlöhne blieben dagegen deutlich hinter der Produktivitätsentwicklung zurück (29), zu einem Zeitpunkt, als die wirtschaftliche Situation der Stahlkonzerne sich erheblich verbesserte. Für die Arbeiter wurde diese Verbesserung der Ertragslage der Stahl unternehmen im ersten Halbjahr 1969 ersichtlich aus den seit Herbst 1968 einsetzenden überdurchschnittlichen Preissteigerungen im Stahlsektor (30), der eklatanten Zunahme der Überstunden und insbesondere an den Ankündigungen höherer Dividendenausschüttungen. Zwar stiegen im ersten Halbjahr 1969 auch die Verdienste der Arbeiter verstärkt an(31), aber, was für die Industriearbeiterschaft generell gilt, traf für die Stahlarbeiter in besonderer Weise zu: die Lohnentwicklung wurde wesentlich durch die Zunahme der geleisteten Überstunden, die - wie Tab. A20 zeigt - in der Eisen- und Stahlindustrie besonders krass ansteigen, bestimmt. Diese Situation mußte den Stahlarbeitern auch deshalb besonders unbefriedigend erscheinen, als durch den heißen Sommer 1969 die bereits angesprochenen Arbeitsbelastungen in der Stahlbranche besonders unerträglich waren.
Dieser besonderen Lage wurde der laufende Tarifvertrag (32)für die Eisen- und Stahlindustrie nicht gerecht. Es sah - nachdem in der Rezession die Löhne eingefroren worden waren - für eine Laufzeit von 18 Monaten lediglich eine fünfprozentige Lohnerhöhung ab 1.6.1968  (33) und eine zweiprozentige Lohnerhöhung ab 1.3.1969 vor (34) und konnte damit die Ansprüche der Arbeiter auf Teilhabe an der ungewöhnlich günstigen Entwicklung nicht erfüllen.

b) Steinkohlenbergbau

Die Strukturkrise des Kohlenbergbaus, die 1957 einsetzte und die sich in Zechenschließungen und Massenentlassungen auswirkte, bestimmte die branchenspezifische Entwicklung dieses Industriezweiges in den sechziger Jahren:

  • Von 1959 bis 1968 sank die Nettoproduktion um 15,1 %. (35) Als Folge davon verminderte sich die Belegschaft seit 1959 erheblich(36). Bis 1968 waren bereits 230.000 Beschäftigte, d.h. nahezu die Hälfte der ursprünglichen Gesamtbelegschaft, freigesetzt. Gleichzeitig gelang es aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen, die Arbeitsproduktivität in fast demselben Maß wie in der gesamten Industrie zu erhöhen. (37)
    Die kontinuierliche Reduktion der Beschäftigtenzahl im Bergbau führte im Zusammenhang mit den Zechenschließungen, besonders als die Entlassungen in den Jahren 1966 und 1967 zunahmen, zu starker Unruhe in der Belegschaft und zu zahlreichen Protesten, die deutlich zeigten, wie sehr die Bergarbeiter mit ihrer Situation - insbesondere mit der Unsicherheit ihrer Arbeitsplätze - unzufrieden waren.
  • Die Strukturkrise des Bergbaus hatte zur Folge, daß die Verdi enststei gerungen der Bergarbeiter hinter den Lohnzuwächsen in der Gesamtindustrie zurückblieben. Während in der Gesamtindustrie die Bruttostundenverdienste um 96,3 % stiegen, erhöhten sich die Verdienste im Kohlenbergbau nur um 80,9 %. (38) Aufgrund dieser Entwicklung wurden die Bergarbeiter von ihrer Stellung an der Spitze der Lohnskala, eine Position, die sie früher wegen der wirtschaftlichen Bedeutung der Kohleproduktion und der besonders anstrengenden und gefahrvollen Arbeit unter Tage lange Jahre innegehabt hatten, zunehmend verdrängt. Nicht umsonst forderten während der Septemberstreiks Bergleute im Saargebiet: "Der Kumpel muß wieder an erster Stelle im Lohn stehen." (39) Diese Tendenz der relativen Verschlechterung der Lohnsituation der Bergarbeiter setzte sich seit 1966 fort - obwohl sich gleichzeitig die Arbeitsproduktivität im Bergbau erhöhte und seit 1966 über der entsprechenden Zahl für die Gesamtindustrie liegt - und kulminiert schließlich in der Entwicklung im ersten Halbjahr 1969, in der das Wachstum der Löhne im Bergbau um 5,2 % hinter dem Zuwachs des Bruttostundenverdienstes in der Gesamtindustrie zurückbleibt. Eine wesentliche Ursache hierfür liegt in der tarifpolitischen Zurückhaltung der IG Bergbau. Der Tarifvertrag, der am 1.7.1968 in Kraft trat - nachdem ein Tarifvertrag mit einer Laufzeit von 25 Monaten und einer Lohnerhöhung von 4 % gerade abgelaufen war - beinhaltete bei einer 16-monatigen Laufzeit nur eine Lohnerhöhung von 5,5 %. (40)

Insgesamt läßt sich sagen, daß die Situation im Steinkohlenbergbau im ersten Halbjahr 1969 weniger durch konjunkturelle Faktoren - obwohl die Ertragssituation im Bergbau durch den konjunkturellen Aufschwung besser wurde - als vielmehr durch die andauernde Strukturkrise im Bergbau bestimmt war. Die konjunkturelle Situation spielte jedoch mittelbar eine Rolle, als dadurch das relative Zurückbleiben der Löhne im Bergbau besonders augenfällig wurde, da nämlich aufgrund der Hochkonjunktur die Löhne in anderen Branchen deutlich anstiegen.

c) Die chemische Industrie - ein Gegenbeispiel

Im Unterschied zur Eisen- und Stahlindustrie bzw. zum Kohlenbergbau handelt es sich bei der chemischen Industrie um eine ausgesprochene Wachstumsbranche. So stieg die Nettoproduktion von 1959 - 1968 um 149,5 % (41) - im Vergleich zur gesamten Industrie eine außerordentliche Steigerung. Selbst in der Rezession 1967 wuchs der Umsatz der chemischen Industrie noch um 8,5 %, (42) ein Beleg für die Krisenunanfälligkeit dieses Industriezweiges. Ermöglicht wurde die Expansion der chemischen Industrie nur zum geringen Teil durch die Erhöhung der Beschäftigtenzahl (43); entscheidend war vielmehr die Steigerung der Arbeitsproduktivität: während diese in der gesamten Industrie von 1959 bis 1968 um 70,1 % stieg, erhöhte sie sich in der cheirischen Industrie um 106,1 % (44)

Diese außerordentlich positive ökonomische Entwicklung schlägt sich auch in der Entwicklung der Verdienste nieder: die günstige Ertragslage dieser Branche erlaubt größere Zugeständnisse in Lohnfragen. Die Bruttostundenverdienste stiegen in der chemischen Industrie in der Zeit von 1959 - 1968 um 12 % mehr als in der gesamten Industrie und sogar um 27 % bzw. 29 % höher als im Kohlenbergbau bzw. in der Stahlindustrie.

Insofern kann festgehalten werden, daß die Situation in der chemischen Industrie im Vergleich zu den beiden am intensivsten bestreikten Branchen in bezug auf die Lohnentwicklung und die Sicherheit der Arbeitsplätze (45) sehr günstig ist.

Als zusätzliche Differenz zu den bestreikten Branchen kommt hinzu, daß in der chemischen Industrie die Arbeitsbelastungen für die Mehrzahl der Tätigkeiten vergleichsweise gering und somit günstigere Bedingungen für eine hohe Arbeitszufriedenheit gegeben sind.

Auch im Konjunkturaufschwung 1968 und im ersten Halbjahr 1969 bestätigt sich die Vorzugsstellung der chemischen Industrie: Die Nettoproduktion sowie die Arbeitsproduktivität wuchsen deutlich stärker als im Durchschnitt der gesamten Industrie. (46)

Ebenso unterschied sich die Tarifsituation in der chemischen Industrie im Vergleich zur Stahlindustrie bzw. dem Bergbau insofern, als die IG Chemie 1968 keinen anderthalbjährigen Tarifvertrag abschloß. Aus diesem Grund konnten die Tariflohnerhöhungen besser der konjunkturellen Situation angepaßt werden. Mit einer 5,2-% igen Lohnerhöhung (wirksam ab 1.4.1968) und einer 7,5 % igen Lohnerhöhung (wirksam ab 1.4.1969) konnten im Jahre 1968 und im ersten Halbjahr 1969 wesentlich günstigere Tarifverträge durchgesetzt werden als in der Stahlindustrie und im Bergbau.

Faßt man alle erwähnten Differenzen zwischen der chemischen Industrie einerseits und der Stahlindustrie bzw. dem Bergbau an- . dererseits zusammen, so liegt die Vermutung nahe, daß im September 1969 aufgrund dieser relativ günstigen Situation bei den Arbeitern in der Chemieindustrie ein geringeres Unzufriedenheitspotential und damit eine eeringere Streikbereitschaft vorhanden war. D. h., daß die spezifischen Bedingungen der chemischen Industrie ein durchaus relevanter Faktor zu sein scheinen, warum gerade dieser Industriezweig fast durchweg aus der Streikbewegung ausgeklammert blieb.

Betriebsspezifische Konflikte

Ähnliche Konfliktbedingungen wurden auch auf betrieblicher Ebene virulent. Diese gruppierten sich vor allem um folgende Probleme:

  • Das Weiterbestehen der aus der Rezession resultierenden Restriktionen (Abbau von Sonderzulagen wie Akkord- und Produktions, prä'mien und Reduktion bzw. Beseitigung diverser betrieblicher Sozialleistungen) ;
  • betriebliche Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung und Leistungsintensivierung (Einführung der analytischen Arbeitsplatzbewertung, Erhöhung der zu leistenden Überstunden u. ä.);
  • betriebsinterne Lohndifferenzen, die sich in unterschiedlicher Bezahlung von Männern und Frauen oder Differenzen in der Entlohnung von deutschen und ausländischen Arbeitskräften wie auch in der lohnmäßigen Benachteiligung von Reparaturarbeitern gegenüber Produktionsarbeitern äußerten; vor allem die Reparaturarbeiter versuchten sich in dieser Situation zur Wehr zu setzen, was ihre Initiativfunktion in vielen Streiks verständlich werden läßt;
  • die in einigen Betrieben mehr oder weniger willkürlichen, durch unmittelbare Vorgesetzte vorgenommenen Prämienfestsetzungen , die Zweifel an der betrieblichen Neutralität und der Gerechtigkeit der Vorgesetzten bei der Vergabe von Sonderzulagen aufkommen ließen;
  • die Intention vieler Betriebsleitungen, die im Tarifabkommen vom 1.9.1969 für den Tarifbereich der metallverarbeitenden Industrie ausgehandelten Tariferhöhungen nicht auf den Effektivverdienst anzurechnen; hinzu kamen vereinzelte Versuche, künftige Lohnabbaumaßnahmen präventiv zu sichern, indem sämtliche übertarifliche Leistungen nach dem Tarifabkommen als widerrufbar bezeichnet wurden.

Regionalspezifische Bedingungen

Regionalspezifische Verhältnisse spielten primär im Saarland eine wichtige Rolle, das mit seinem Bruttosozialprodukt weit unter dem Bundesdurchschnitt liegt.(47) Kennzeichnend sind die Einseitigkeit der Branchenstruktur und deswegen auch der Erwerbstätigenstruktur,die hohe Konjunkturanfälligkeit und das niedrigere Lohnniveau. (48) Besonders relevant war das Gefälle im Bergbau zum Ruhrgebiet. (49) Die regionalspezifischen Differenzen erhielten im Bergbau spezielle Relevanz, weil sich hier der Vergleich zwischen dem Saarland und dem besser gestellten Ruhrgebiet unmittelbar anbot. Für die saarländischen Bergarbeiter wurde das Ruhrgebiet daher zum Bezugspunkt, der ihnen ihre eigene Benachteiligung besonders deutlich werden ließ.

Anmerkungen:

1) vgl. Sachverständigengutachten 1969, Bundestagsdrucksache VI/100, S. 13 und S. 23; vgl. auch Schaubild A8

2) Im Vergleich dazu: 1959, ebenfalls ein Jahr des konjunkturellen Aufschwungs, erhöhte sich die Wachstumsrate des Sozialprodukts von 3,3 % um 3,6 auf 6,9 % und die der industriellen Nettoproduktion von 2,9 % um 4,8 auf 7,7 %. Die entsprechenden Zahlen für 1964, gleichfalls ein Jahr des konjunkturellen Aufschwungs, lauten: Wachstumsrate des realen Sozialprodukts: Erhöhung von 3,3 % um 3,3 auf 6,6 %; Wachstumsrate der industriellen Nettoproduktion: Erhöhung von 3,0 um 6,3 auf 9,3 %.

3) vgl. dazu Schaubild A7

4) vgl . dazu Tab. A11

5) Eine Ursache für das im Vergleich zu 1968 stärkere Wachstum der Einkommen der Unselbständigen im 1. Halbjahr 1969 ist in der Erhöhung der Zahl der abhängig Beschäftigten um 2,7 % zu sehen; dagegen stagnierte die Zahl der Selbständigen (vgl. dazu Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1970, S. 119,sowie Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, Nr. 9/1969, S. 60*). Bereinigt man den in Tab. All für das 1. Halbjahr 1969 angegebenen Wert für das Wachstum des Einkommens aus unselbständiger Arbeit von dem Effekt der Erhöhung der Zahl der abhängig Beschäftigten, so wird deutlich, daß die Einkommensverteilung sich im 1. Halbjahr 1969 weiter - wie im Jahr 1968, wenn auch in geringerem Maße - zu Ungunsten der abhängig Beschäftigten veränderte. Das bereinigte Bruttosozialeinkommen steigt in diesem Fall nur um 8,4 % und liegt damit in der Steigerung um 1,3 % niedriger als das Wachstum der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen. Bei dieser Berechnung wird vernachlässigt, daß ein geringer Teil der Unselbständigen auch Einkommen aus Vermögen bezieht, da dieser Effekt die Tendenz nicht verändert (vgl. dazu auch die Überlegungen bei Ernest Mandel, Die deutsche Wirtschaftskrise, Frankfurt/Main 1969, S. 17 ff.)

6) Die Ursachen für die Umkehrung liegen einmal darin, daß die Steuerzahlungen der Unternehmer im Konjunkturaufschwung den steigenden Gewinnen - im Gegensatz zu den Lohnsteuerzahlungen um ein bis eineinhalb Jahre verzögert folgen (vgl. Sachverständigengutachten 1969, a.a.O., S. 28 ff.). Zum anderen bevorzugt das progressive Einkommenssteuersystem die Bezieher hoher Einkommen, die in erster Linie unter die Kategorie der Selbständigen fallen, da nach Erreichen des Höchststeuersatzes die prozentuale Steuerbelastung bei einem Einkommenszuwachs nicht mehr steigt.

7) vgl. dazu Tab. A12 und A13

8) vgl. Sachverständigengutachten 1969, a.a.O.

9) Ein Indikator für die Zunahme der ausgeschütteten Gewinne ist, daß sich in der ersten Hälfte 1969 die entnommenen Gewinne und Vermögenseinkommen der privaten Haushalte um 18 % gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres erhöhten - also wesentlich mehr als die Einkommen der Unselbständigen (vgl. dazu Wirtschaft und Statistik 1969, S. 483).

10) So wurden im Jahre 1968 in der Metallindustrie, in der Eisen- und Stahlindustrie und im Bergbau jeweils Tarifverträge mit einer Laufzeit von 18 Monaten abgeschlossen.

11) zitiert nach J. Huffschmid, Die Politik des Kapitals, Frankfurt/Main 1969, S. 165, ähnlich das Gutachten des Sachverständigenrates

12) Auf eine umfassende Darstellung und Analyse der Themen und Pro bleme, die in der Öffentlichkeit und in den Parteien geführt wurde, kann an dieser Stelle verzichtet werden. Zum Thema "soziale Gerechtigkeit und gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung" sei auf den Spiegel-Artikel "Wohlstand für alle? Vermögensbildung in Deutschland", Nr. 31 vom 28. Juli 1969, hinge wiesen, in dem der Verlauf der Diskussion und die zeitliche und thematische Verdichtung auf die Jahre 1966 bis 1969 sehr klar zum Ausdruck kommt. Eine wissenschaftliche Analyse der innerpolitischen Entwicklung unter diesem Gesichtspunkt steht noch aus.

13) vgl. dazu die Presseveröffentlichungen zwischen dem 2. und 19. September, z. B. Süddeutsche Zeitung vom 13. 9. und 15. 9.; Die Zeit vom 12.9.1969; Industriekurier vom 11. 9.; Die Welt vom 11. 9.; die "Bild-Zeitung" mußte ebenfalls widerstrebend Zugeständnisse machen, wenn sie auch versuchte, die Kapitalinteressen stärker zu stützen; s. dazu die Analyse von J. Alberts "Bild" im Einsatz, Analyse der Berichterstattung zu den Septemberstreiks 1969, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 9/1970, S. 916-933.

14) Die Preise - 1967 und bis in den Herbst 1968 relativ konstant -begannen seit dem Ende des Jahres 1968 wieder deutlich zu steigen. Die Ursachen lagen weniger in konjunkturellen Faktoren als in der Erhöhung der Nahrungsmittelpreise und der Mieten. Erst ab Herbst 1969 setzte ein konjunkturbedingter Preisauftrieb ein. Die wirtschaftspolitische Diskussion über die konjunkturbedingten Preissteigerungen setzte - in Antizipation der zu erwartenden Preissteigerungen - früher ein und bestimmte wesentlich die Wahlkampfauseinandersetzungen.

15)  vgl. dazu z. B. die Berichte in den folgenden Nummern des "Spiegel" :Nr. 39/1969: Gefahren für die Konjunktur, S. 21; Nr. 31/1969: Erneuter Streit um die Konjunktur, S. 26; Nr. 34/ 1969: Wahlkampfthema Aufwertung, S. 21; Nr. 35/1969: Blessing im Wahlstreit, S. 22. In einer Reihe von Presseberichten wird dieser Akzent noch nach Ausbruch der Streiks verstärkt: Süddeutsche Zeitung vom 11. 9.; Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 10. 9.; Süddeutsche Zeitung vom 16. 9.; Die Welt vom 11. 9.

16) zitiert nach "Nürnberger Nachrichten" vom 9.9.1969

17) s. dazu den Spiegel-Bericht "Wird der Wähler manipuliert", Nr. 32/1969, S. 32-47

18) Interessant ist das Verhalten der Parteien während des Streiks. Nach anfänglichen Versuchen, kommunistische Rädelsführer oder "ApO-Infiltranten" als Ursache zu bestimmen, beschränkte sich die CDU/CSU auf gelegentliche Hinweise auf die kommunistische Gefahr, wobei sie freilich sowohl die Distanzierungsmaßnahmen der Streikenden zur Kenntnis nahm, als auch nicht versäumte, auf die Berechtigung der Lohnforderungen hinzuweisen. Vgl. z. B. Presseberichte von: Die Zeit vom 12.9., Die Welt vom 11.9., Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.9. Die SPD wählte die Taktik, die Forderungen der Streikenden anzuerkennen, die Formen aber abzulehnen; zugleich versuchte sie, die Gewerkschaften zu stärken. Beide Parteien nahmen die Streiks wahl-ta'-.tisch zum Anlaß, diese dem Wahlgegner anzulasten (wobei die CDU vor allem ihren gefährlichsten Gegner Schiller und das Image seiner Konzertierten Aktion attackierte, während die SPD die Aufwertungsweigerung von Strauß und Kiesinger thematisierte); in keinem Fall aber entschieden sie sich, die streikenden ' Arbeiter hart anzugreifen. Vgl. z. B. Frankfurter Rundschau vom 10.9. und 12.9., Die Zeit vom 12.9., Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.9., Münchener Merkur vom 13.9.1969.

19)  vgl. z. B. dazu die Artikel in der Neuen Ruhr-Zeitung an Rhein und Ruhr vom 9.9., Süddeutsche Zeitung vom 11.9., Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 10.9., Nachtausgabe vom 12.9., Westfälische Rundschau vom 13.9., Süddeutsche Zeitung vom 13.9.1969

20) s. die bereits angeführten Berichte.

21) Solche Überlegungen kamen besonders z. B. im unternehmernahen "Handelsblatt" vom 11.9.1969 zum Ausdruck: "Die von dem wilden Streik bei Hoesch am 2. Sept. ausgelöste Kettenreaktion bei anderen Unternehmen der Montan-Industrie und auch der Weiterverarbeitung hatte Fakten geschaffen, auf die nur eine Alternative des Handelns möglich war: Entweder auf die wilden Streiks hart, das heißt, mit einer für solche Fälle durchaus zulässigen Aussperrung zu reagieren, mit voller Inanspruchnahme von Polizeischutz und von anderen Mitteln, die die Rechtsordnung zur Verfügung stellt, oder aber ein Nachgeben, und zwar ein Nachgaben um fast jeden Preis. Für Kompromisse war die Situation offensichtlich nicht mehr geeignet."

22) vgl. zum Zusammenhang von Protestbewegung und Septemberstreiks etwa den Artikel von F. Kassebeer, Die Streikenden klagen den Wohlstand an, in der Süddeutschen Zeitung vom 15.9.1969

23) In der Chemiebranche wurde unseres Wissens im September 1969 allein in der ESSO-Raffinerie Köln kurz gestreikt.

24) vgl. dazu Tab. A15

25) vgl. dazu Tab. A15

26) vgl. dazu Tab. A14

27) vgl. dazu Tab. A15

28)  vgl. Kern/Schumann, a.a.O., S. 183 ff.

29) vgl. dazu Tab. A14

30) Einige Beispiele für Preissteigerungen im Stahlsektor in dieser Zeit:
Stabstahl-Feineisen DM 399/t auf 455/t DM
Grobblech und Mittelblech Gruppe l Breitband DM 421/t auf 522/tDM
Warmbreitband Gruppe 2 DM 474/t auf 502/tDM

31) vgl . dazu Tab. A14

32) Es wird hier nur die Tarifentwicklung Nordrhein-Westfalens dargestel11.

33) Für das Saarland tritt ein entsprechender Tarifvertrag am 1.10.1968 in Kraft.

34) Die IG Metall begründete später die geringen Lohnerhöhungen und die lange Laufzeit dieser Tarifverträge mit der schwierigen ökonomischen Situation in der Eisen- und Stahlindustrie zum Zeitpunkt des Tarifabschlusses und mit der falschen Einschätzung der konjunkturellen Entwicklung durch die Experten für Konjunkturforschung.

35) vgl . dazu Tab. A17

36) vgl. dazu Tab. A16

37) vgl . dazu Tab. A17

38) vgl . dazu Tab. A17

39) Deppe, Frank: Lehren aus den Septemberstreiks, in: "links", Sozialistische Zeitschrift, Offenbach/Main, Nr. 6,Dezember 1969.

40) Die erwähnten Tarifverträge beziehen sich nur auf Nordrhein-Westfalen. Im Saarbergbau wurden die Löhne am 1.7.1968 um 4 % erhöht.

41) vgl. dazu Tab. A19

42) vgl. dazu Tab. A18

43) vgl. dazu Tab. A18

44) vgl. dazu Tab. A19

45) Die Beschäftigtenzahlen sind in den letzten zehn Jahren nur einmal, 1967, ganz geringfügig zurückgegangen (vgl. dazu Tab. A18).

46) Allein in bezug auf den Bruttpverdienst stellt sich die Situation etwas anders dar: Lr erhöhte sich 1968 nur unwesentlich mehr als in der gesamten Industrie, und der Zuwachs war im ersten Halbjahr 1969 sogar geringer (vgl. dazu Tab. A18). Eine wesentliche Ursache hierfür liegt darin, daß in der chemischen Industrie im ersten Halbjahr 1969 im Vergleich zur Gesamtindustrie nur wenige Überstunden Geleistet wurden (vgl. dazu Tab. A20).

47) So lag das Bruttoinlandprodukt je Einwohner (in Preisen von 1954) 1966 im Saarland um 19,7% und 1967 um 21,2 lunter dem Wert für das gesamte Bundesgebiet. Vgl. dazu SOFI-Forschungs-berichte, Probleme der Umschulung von Arbeitskräften in Wirtschaftszweigen und Regionen mit besonderen Strukturproblemen, T°il I . 1970. S. 109 passim.

48) Das Lohnniveau lag 1969 um 10 % unter dem Bundesdurchschnittund etwa 20 - 30 % unter dem Stand von Baden-Württemberg.

49) Vgl. SOFI, a.a.O. , S. 115.

50) Die tariflichen Mindestlöhne an der Ruhr waren im Saarbergbau Höchstlöhne. Ein männlicher Facharbeiter verdiente im Steinkohlenbergbau in Nordrhein-Westfalen DM 6,11, im Saarland DM 5,21.


TABELLEN

A7

A8

A9

A10

A11

A12

A13

A14

A15

A16

A17

A18

A19

 

A20

 

 

Editorische Anmerkungen

Text und Tabellen wurden übernommen aus:
Schumann Michael, u. a., Am Beispiel der Septemberstreiks
Anfang der Rekonstruktionsperiode der Arbeiterklasse
Frankfurt/M, 1971,
S. 26 - 48a, sowie S.175 - 187
OCR-Scan red. trend

 

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