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Weitere Ergänzungen zur Textsammlung Aufruhr & Revolte
  EXTRA-REPORT
KEIN ASYL IN DER DDR:
ZWEI RC-MITGLIEDER BERICHTEN AUS DER CSSR

Als sie abfuhren, frotzelten sie noch, man werde den Brüdern in Prag mal eben beibringen, was Sozialismus sei. Als sie wiederkamen, erschöpft, übermüdet, war der Frohsinn geschwunden: Zwei Mitglieder des Republikanischen Clubs, die wir schlicht Heike und Heinz nennen wollen, wurden während ihres Prager Sommers vom Moskauer Winter überrascht. Als sie am Mittwochmorgen gegen acht Uhr erwachten und aus dem Fenster ihres Hotels am Pulverturm blickten, standen Panzer vor der Tür. Daneben ratlose sowjetische Soldaten, auf die junge Prager .einredeten. Die Sowjets wollten einfach nicht glauben, daß Novotny nicht mehr an der Regierung sei. Von Dubcek und Svoboda hatten sie nie etwas gehört.

Vor diesem Mittwoch waren die beiden APO-Anhänger "äußerst kritisch" dem sozialistischen Bewußtsein der Bevölkerung gegenüber. Nach diesem Mittwoch stand das Volk so geschlossen hinter den kommunistischen Führern, daß der Vorwurf der "Konterrevolution" auch den fremden Soldaten als befremdlich erscheinen mußte. Während DDR-Soldaten ins Land einmarschierten, beteiligten sich - so berichten Heike und Heinz - viele DDR-Bürger an den ersten spontanen Demonstrationen (Heinz: "Menschlich verständlich,politisch unvernünftig. "). Bei diesen Spontan-Protesten kommt es auch vereinzelt zu irrtümlichen Reaktionen der Sowjets: Wie sollten sie wissen, daß man ihnen keine Molotowcocktails durch die Luken werfen wollte (wie das 1956 in Ungarn ständig geschah), als Jugendliche auf die Fahrzeuge kletterten. Zwei Westberliner SDSler, die Heinz und Heike am Nachmittag treffen, berichten, daß aus einem Haus gegenüber dem Hradschin vereinzelte Gewehrschüsse auf Sowjets abgegeben wurden. Etwa hundert Soldaten hätten das Feuer erwidert. Der Schußwechsel dauerte allerdings nur wenige Minuten. Die SDS-Mitglieder hatten die beiden Links-Touristen schon mehrmals, auch zu noch ruhigen Zeiten getroffen: "Sie liefen durch die Stadt und fragten, ob man nicht irgendwelche linke tschechoslowakische Studenten kenne. Sie wollten gern ein Seminar mit ihnen machen. " Mittwoch liefen Heinz und Heike durch Prag. In dem Speiserestaurant, wo sie sonst gegessen haben, sind plötzlich die deutschen Übersetzungen aus den Speisekarten verschwunden. Der Ober fordert die beiden auf, das Lokal zu verlassen: "Ihre Truppen haben unser Land besetzt, bitte gehen Sie. " Als Heike ihm erklärt, daß sie aus Westberlin seien, wird der Kellner so beflissen, "daß es uns schon wieder peinlich war". Dieser Boykott für DDR-Bürger ist überall zu spüren: Immer muß erst der Paß gezeigt •werden, ehe Auskunft erteilt oder eine Tasse Kaffee serviert wird. Viele DDR-Bürger haben zum Zeichen ihrer Solidarität mit den Tschechen die CSSR-Trikolore ans Jackett oder an die Bluse gesteckt. Die Reserve ihnen gegenüber, eine feindliche Frostigkeit, legt sich dennoch nicht. Am Donnerstag geistern Gerüchte von einem Generalstreik durch die Stadt: Die beiden RC-Mitglieder, deren Urlaub abgelaufen ist, wollen die CSSR verlassen, bevor alle Verkehrsmittel stillgelegt sind. Die Rückreise mit der Bahn scheint aber ein Problem zu werden. Die zwei gehen am Vormittag zur französischen Botschaft: ein nicht ganz unkomplizierter Weg, da überall Panzer und Militärfahrzeuge die Straßen versperren. In der französischen Botschaft, die angeblich die Interessen der Bundesrepublik wahrnimmt, empfiehlt man ihnen, in der Handelsmission der Bundesrepublik im Hotel Jalta am Wenzelsplatz nachzufragen. Nach einem Rededuell mit dem goldbetreßten Portier des superfeinen Jalta, der am Revoluzzer-Bart von Heinz und an den Sandalen Heikes Anstoß nimmt, läßt der Zerberus schließlich "angesichts der besonderen Situation" passieren. Auf dem Korridor vor der Mission herrscht Panik. Ein westdeutscher Diplomat stürzt aus einem Zimmer: "Haben Sie schon gehört, Rotchina hat Rußland den Krieg erklärt. " Ein anderer BRD-Repräsentant legt die Hände stöhnend an die Stirn: "Oh mein Gott, jetzt bloß die Nerven behalten, bloß die Nerven behalten. "

Heike und Heinz werden ohne Auskunft weggeschickt: Im Augenblick könne man ihnen nicht helfen, sie mögen ihre Prager Hotel-Telefonnummer hinterlassen. Man würde in den nächsten Tagen anrufen. Letzte Möglichkeit: Die DDR-Botschaft hinter dem Nationaltheater. Dort reagiert man hilfsbereit, nennt den Westberlinern einen Zug, der von einem Vorortbahnhof nach Decin fahre. Von dort sei ein Pendelverkehr nach Bad Schandau eingerichtet. In Bad Schandau könnten die beiden mit einem internationalen Express durch die DDR nach Westberlin fahren.

Mit 60 Pfund Gepäck zum Vorortbahnhof: Taxis fahren kaum noch. Ein Privatwagen nimmt die beiden die Hälfte des Wegs mit, dann kehrt er um - aus Angst vor der sowjetischen Armee, die "irgendwo da vorn" sein müsse.

Der Zug ist mit etwa hundert DDR-Bürgern besetzt. Man diskutiert ausführlich die Ereignisse. Heinz: "Es war wirklich nur einer dabei, der die Maßnahmen seiner Regierung verteidigte. " In Decin, zehn Kilometer von der Grenze entfernt, wartet schon ein Bus auf die DDR-Fahrgäste. Heinz und Heike fahren mit. Am CSSR-Kontrollpunkt sind keine Uniformierten zu sehen. Ein Zivilist steigt in den Bus und erklärt: Man hätte hier an der Grenze einen Volksrat gebildet, der beschlossen habe, keine DDR-Bürger passieren zu lassen, da auf der anderen Seite angeblich 4000 Kinder an der Rückkehr in die Tschechoslowakei gehindert würden. Zurück also nach Decin, Übernachtung im Wartesaal. Am nächsten Morgen um 6 Uhr halten Heinz und Heike einen Wagen an: Zurück zum Kontrollpunkt. Jetzt dürfen die DDR-Leute passieren, auch die beiden Westberliner. Der CSSR-Zöllner winkt allerdings ab: "Die schicken Sie doch wieder zurück. " Tatsächlich: Die DDR-Grenzer wollen die beiden nicht passieren lassen. Da Heinz und Heike hartnäckig bleiben, daraufhinweisen, daß kein anderer Weg nach Westberlin führe als durch die DDR, holt man bei Vorgesetzten neue Weisungen. Antwort: Nein, Zwischen einem Offizier un Heinz kommt es zu einem gesamtdeutschen Grenzgeplänkel. Heinz gibt sich (fälschlicherweise) als Mitglied der SED-W aus: Er werde aus dem Verhalten der sozialistischen Brüder wohl seine Konsequenzen ziehen. Der Offizier: "Sie wissen wohl nicht, daß ihre Partei die ganze Sache gutgeheißen hat. Außerdem seid Ihr in Westberlin doch schuld an der Situation in der CSSR. Man braucht doch bloß Eure Hetzsender zu hören. " Heinz: "Was wollen Sie denn noch von uns. Sollen wir Bomben in den RIAS schmeißen?" Der Offizier bleibt unerbittlich: "Sie müssen zurück. " Heinz: "Wir gehen nicht zurück in die CSSR. Ich bitte Sie hiermit offiziell um politisches Asyl in der DDR. Sie können mich dann zwei Tage lang hierbehalten, bis sich die Situation geklärt hat, und schicken uns dann nach Westberlin zurück." Der Offizier: "Asyl gibt es nicht bei uns." Heike: "Sie können uns doch nicht politisches Asyl verweigern. " Offizier: "Und ob wir das können. " Heinz: "Dann gibt es nur noch eine Möglichkeit. Wir rupfen Ihren Schlagbaum aus und zerhacken ihn. Dann müssen Sie uns wohl hierbehalten. " Der Mann bleibt unerbittlich: "Auch dann schicken wir Sie zurück. Verlassen Sie endlich das Territorium der DDR. " Und so ziehen die beiden verhinderten DDR-Invasoren als unerwünschte Okkupanten wieder ab. Nächster Versuch: Übergang Zinnwald. Ein Taxi, das die beiden an einer Tankstelle an treffen, bringt sie dorthin. Kostenpunkt: 200 Kronen. Jetzt geht Heinz erst einmal allein auf die DDR-Seite und verhandelt mit einem Offizier. Fazit: Die beiden müßten sich von einem Wagen mitnehmen lassen, allerdings dürfe es kein DDR-Fahrzeug sein. Auf der CSSR-Seite findet sich schließlich ein Hamburger, der noch Platz hat. Als sie wieder am DDR-Schlagbaum sind, heißt es: "Zurück. Kehren Sie um. Wir haben neue Anweisungen. Jetzt kommt hier auch kein Westfahrzeug mehr durch. " Stattdessen passieren Gulaschkanonen in umgekehrter Richtung die Grenze. Ein Westberliner Wagen wird zusätzlich zwei Stunden lang von DDR-Grenzern "gefilzt": Die Beamten hatten beobachtet, daß der Fahrer zwei DDR-Bürger bis zum Kontrollpunkt gebracht hatte. Nach der Durchsuchung schickt man Fahrer und Wagen in die Tschechoslowakei zurück.

Im Konvoi mit fünf westlichen Fahrzeugen versucht man sich dann zum Grenzübergang Schirnding durchzuschlagen. Ab und zu fahren tschechoslowakische "Lotsen" ein Stück mit, da selbst in kleinen Dörfern kein Straßenschild, kein Wegweiser zu sehen ist. Meistens orientieren sich die Fahrer nach der Sonne: Hauptsache, die Himmelsrichtung stimmt. Im Konvoi fährt ein Franzose mit, der ebenfalls in Zinnwald abgewiesen wurde, obwohl sein Reiseziel Ostberlin ist und er ein gültiges Aufenthaltsvisum für die Hauptstadt der DDR vorweisen kann: Nein, die Anordnung lautet, er müsse erst durch die Bundesrepublik, dann über die Transitstrecke, um schließlich durch Westberlin in die DDR einzureisen. Um 12 Uhr mittags - es ist inzwischen Freitag, der 23. August - halten die Fahrer für eine Stunde an: Generalstreik. Am Nachmittag erreichen sie den Übergang Schirnding und verlassen endgültig die CSSR.

Quelle: Westberliner EXTRA-DIENST; Nr.69/II v. 28.8.1968
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Der Republikanische Club (RC) wurde am 30.4.1967 gegründet. Zum Selbstverständnis hieß es in der Gründungssatzung: "Die Mitglieder fühlen sich den in Deutschland schwach entwickelten republikanischen Traditionen verpflichtet und verstehen sich als Teil der politischen Linken" (zitiert nach: Das Andere Deutschland, Nr.1, Hannover 1967). Das Spektrum der Gründungsmitglieder reichte von Flechtheim über Neuss bis Mahler. Konkreter Anlass dieser linksbürgerlichen Intellektuellen, die enge Verbindungen zum SDS hatten, sich zusammenzuschließen, war die Bildung der "Großen Koalition".

Die Gründungsmitglieder waren:

Dr. Johannes Agnoli
William Borm
Prof. Dr. Ossip K. Flechtheim
Hans Magnus Enzensberger
Prof. Dr. Wilfried Gottschalch
Dr. Ekkehart Krippendorff
Dr. Klaus Meschkat
Nikolaus Neumann
Wolfgang Neuss
Lothar Pinkall
Manfred Rexin

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