Gustav Adolf
Ein Fürstenspiegel zu Lehr und Nutzen der deutschen Arbeiter

von Franz Mehring (1908)

2. Jesuitismus, Calvinismus, Luthertum

Es ist herkömmlich geworden, den Dreißigjährigen Krieg einen Religionskrieg zu nennen. Doch zeigt schon ein flüchtiger Blick auf seinen äußeren Verlauf die Hinfälligkeit dieser Meinung. Das europäische Ergebnis des Krieges war die Ablösung der spanischen durch die französische Vorherrschaft, und Frankreich war ebenso eine katholische Macht wie Spanien. Die protestantischen Teilfürsten in Deutschland standen unter dem Schutze des katholischen Königs von Frankreich und sogar des Großtürken in Konstantinopel. Als Gustav Adolf in Deutschland einbrach, angeblich um den Protestantismus zu retten, versagten ihm die protestantischen Niederlande ihr Bündnis, dagegen war der Segen des Papstes bei seinem Beginnen. Und so lassen sich die Fälle zu Dutzenden anführen, in denen Katholiken gegen Katholiken, Protestanten gegen Protestanten, Katholiken für Protestanten, Protestanten für Katholiken kämpften.

Man würde aber das Kind mit dem Bade verschütten, wenn man sagen wollte, die Religion habe nichts mit dem Dreißigjährigen Kriege zu tun gehabt. Dem widersprechen zahlreiche Kundgebungen der Kämpfenden. Unzählige sind mit Begeisterung in den Tot gegangen für die heilige Mutter Gottes oder die „reine Lehre" oder sonst ein religiöses Symbol, das wir heute nicht mehr verstehen. Lassen sich Dutzende von Fällen anführen, in denen Religionsgenossen miteinander kämpften, so lassen sich auch Dutzende von Fällen anführen, in denen das religiöse Bekenntnis trennte oder verband. England und Holland kämpften unter protestantischem Banner gegen das katholische Spanien, dagegen verknüpfte der Jesuitismus Spanien mit Österreich. Die Behauptung, man müsse die Religion ganz aus dem Spiele lassen, um den Dreißigjährigen Krieg richtig zu würdigen, ist ebenso verkehrt wie die Behauptung, dass dieser Krieg ein Religionskrieg gewesen sei. Der historische Materialismus leugnet keineswegs, wie ihm perfide oder unwissende Leute vorzuwerfen pflegen, dass die religiöse Begeisterung eine große Rolle in der Geschichte gespielt habe. Vielmehr erkennt er diese Triebfeder der historischen Entwicklung vollkommen an. Er behauptet nur, sie sei so wenig wie sonst eine Ideologie der letzte Grund dieser Entwicklung, der nur auf ökonomischem Gebiet gesucht werden dürfe.

An diesem Leitfaden findet man denn auch den Ausweg aus jenem hoffnungslosen Dickicht von Widersprüchen, in das jeder geraten muss, der bei dem Urteil über den Dreißigjährigen Krieg den religiösen Gesichtspunkt entweder ausschließlich oder gar nicht berücksichtigen will. Es kommt nach dem Worte von Marx darauf an, zu unterscheiden zwischen der materiellen Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den ideologischen Formen, in denen die Menschen sich dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten(1). Diese Formen waren im siebzehnten Jahrhundert überwiegend religiöse, nicht mehr so stark religiöse wie im sechzehnten, aber noch viel stärker religiöse als im achtzehnten Jahrhundert, an dessen Ende die Französische Revolution zuerst die religiöse Hülle gänzlich abwarf und sich in rein weltlichen Denkformen vollzog. Fragt man aber, weshalb sich die europäischen Klassen und Völker vom sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert gerade in religiösen Formen ihrer materiellen Gegensätze bewusst wurden, so ist die Antwort: weil im Zusammenbruche des römischen Weltreichs die christliche Kirche die Reste der antiken Kultur für diese Klassen und Völker gerettet, weil sie ein Jahrtausend lang das ganze materielle Leben des europäischen Abendlandes geleitet, weil sie somit auch dies Leben völlig mit religiösem Geiste getränkt hatte.

Die mittelalterliche Kirche war unter religiösen Formen eine ökonomische Macht. Diese Macht musste zerfallen, sobald ihre besonderen Produktionsbedingungen zerfielen: nämlich die feudalen. Die feudalen Produktionsbedingungen zerfielen aber umso rettungsloser, je schneller die kapitalistische Produktionsweise anwuchs. Seit dem Kommunistischen Manifest ist dieser weltgeschichtliche Prozess in der sozialistischen Literatur so eingehend und so häufig dargestellt worden, dass wir ihn bei unseren Lesern als bekannt voraussetzen dürfen. Eine gewaltige Umwälzung der Produktionsweise veränderte die Stellung der europäischen Völker zur mittelalterlichen Kirche von Grund aus. Aus einem Hebel der feudalen wurde diese Kirche zu einem Hemmnis der kapitalistischen Produktion. Sie leistete ihre früheren Dienste nicht mehr, aber beanspruchte nach wie vor den Lohn für diese Dienste. Sie hielt umso hartnäckiger an ihrer Macht fest, je mehr sich das Recht, das einst hinter dieser Macht gestanden hatte, in leeren Dunst auflöste. Die römische Kurie sog den Völkern den letzten Tropfen aus den Adern, das letzte Mark aus den Knochen. Für sie alle wurde eine Auseinandersetzung mit dem Papsttum eine unerbittliche Notwendigkeit.

Diese Auseinandersetzung mit einer ökonomischen Macht, die unter religiösen Formen herrschte, konnte sich nur als ein ökonomischer Widerstand unter religiösen Formen vollziehen. Die Theologie hatte im Mittelalter das ganze Denken durchdrungen, den gesamten Unterricht, alle Wissenschaften, soweit damals von solchen gesprochen werden konnte. Zwar entstanden im Humanismus schon die Anfänge einer rein weltlichen Bildung, aber sie waren Kaviar für das Volk. Der Humanismus konnte den herrschenden Klassen nicht einmal das nötige Beamtenpersonal stellen; sie waren für ihre Regierungs- und Verwaltungszwecke immer noch auf den Beistand der Geistlichkeit angewiesen. Ja noch mehr: Der Verfall der mittelalterlichen Kirche führte zunächst zu einer Steigerung der religiösen Leidenschaften. Die katholischen Geistlichen haben in ihrer Weise ebenso recht, wenn sie sagen, die „reine Lehre" der Reformation habe zur Gottlosigkeit der Sozialdemokratie geführt, wie die protestantischen Geistlichen in ihrer Weise recht haben, wenn sie sagen, die „reine Lehre" habe eine Verinnerlichung und Vertiefung der religiösen Empfindung, nicht zuletzt auch im Katholizismus, bewirkt. Nur dass die katholischen Geistlichen dabei etwas weiter sehen als die protestantischen.

Je höher sich der Kapitalismus entwickelte und mit ihm die Wissenschaft von der Gesellschaft und der Natur, umso mehr entschleierten sich die Geheimnisse des gesellschaftlichen und des natürlichen Lebensprozesses, und damit verdorrten die Wurzeln aller Religion. Aber diese Wurzeln empfingen zunächst neue Säfte, als die mittelalterliche Naturalwirtschaft unter entsetzlichen Gräueln der Verwüstung der modernen Geld- und Industriewirtschaft zu erliegen begann und die Völker sich diese Revolution, die sie mit feurigen Ruten peitschte, nicht anders zu erklären vermochten als ein Strafgericht überirdischer Mächte. Die Folge war ein düsterer und grausamer Glaubensfanatismus, wie ihn der lebensfrohe Katholizismus des Mittelalters in dieser Weise nie gekannt hatte. Er schien das europäische Abendland zu einem Tollhause zu machen, das gerade im Dreißigjährigen Kriege von seinen behexten Insassen an allen vier Ecken angezündet wurde. Indessen musste er auf die Dauer mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise verschwinden, und zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges waren sich die herrschenden Klassen schon mehr oder minder klar darüber, dass die ökonomischen Tatsachen die Welt regieren und nicht ihre religiösen Spiegelbilder.

Wenn sich nun aber die Auseinandersetzung der europäischen Völker mit der päpstlichen Universalmonarchie des Mittelalters unter religiösen Formen vollzog, so mussten diese Formen je nach Art und Kraft des Widerstandes wechseln. Und was für die einzelnen Völker gilt, das gilt innerhalb der Völker für die einzelnen Klassen. Vom dreizehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert gibt es eine Unzahl von Kirchen und Sekten, die alle mit Rom abrechnen, aber diese Abrechnung je nach den materiellen Interessen, die hinter ihnen stehen, in der allerverschiedensten Weise vollziehen. Jeder Versuch, die Religionsgeschichte dieser Jahrhunderte nach ideologischen Gesichtspunkten als reinen Geisteskampf zu schildern, führt zur ergötzlichsten oder auch heillosesten Verwirrung, nicht zuletzt, wenn dabei der Katholizismus die Rolle des Teufels, der Protestantismus aber die Rolle des Engels spielen soll. Die Nationen, die katholisch blieben, rechneten mit der römischen Oberherrschaft ebenso ab wie die Nationen, die protestantisch wurden, und das Bekenntnis zum Katholizismus konnte ebenso gut einen hohen Grad von Zivilisation, wie das Bekenntnis zum Protestantismus einen hohen Grad von Barbarei bedeuten. Überhaupt ist der landläufige Gegensatz von Katholizismus und Protestantismus im Sinne von alter und neuer Kirche, von Mittelalter und Neuzeit ganz kahl und nichtssagend, wie sich sofort ergibt, wenn wir die religiösen Gegensätze des Dreißigjährigen Krieges prüfen.

Die drei großen religiösen Strömungen in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts waren der Jesuitismus, der Calvinismus und das Luthertum. Alle drei waren neue Kirchen, die sich von der alten Kirche unterschieden wie die kapitalistische von der feudalen Produktionsweise. Alle drei sind einem gemeinsamen Boden entsprossen. Calvinismus und Luthertum unterscheiden sich ideologisch nur durch dogmatische Haarspaltereien: ob Brot und Wein im Abendmahl Fleisch und Blut Jesu bedeute oder sei und dergleichen mehr. Loyola kam zur Stiftung des Ordens Jesu durch Seelenkämpfe, die den Seelenkämpfen Luthers glichen wie ein Ei dem andern. Beide kehrten sich gegen die Tagedieberei der alten Mönchsorden, beide verwarfen das Übermaß der religiösen Übungen. Was den Jesuiten in Sachen des Kadavergehorsams nachgeredet worden ist, das findet sich ebenso scharf oder noch schärfer bei den lutherischen Kirchenvätern. Dagegen verlangte Loyola die „Freiheit des Christmenschen" ebenso scharf oder noch schärfer als Luther, denn bei aller strammen Disziplin begünstigte und förderte der Orden Jesu die individuelle Selbständigkeit seiner Mitglieder. Um die Unterschiede dieser Religionen einen Dreißigjährigen Krieg zu führen, blühende Länder zu zerstampfen, Millionen und aber Millionen Menschen zu schlachten, das scheint in der Tat nur in einem Tollhause möglich gewesen zu sein. Doch hinter diesen Unterschieden standen die ökonomischen Gegensätze des damaligen Europas.

Der Jesuitismus war der auf kapitalistischer Grundlage reformierte Katholizismus. In den ökonomisch entwickeltsten Ländern, wie Spanien und Frankreich, waren aus den Bedürfnissen der kapitalistischen Produktionsweise große Monarchien entstanden, denen nichts näher lag, als sich von der römischen Ausbeutung zu befreien, aber auch nichts ferner, als mit Rom zu brechen. Nachdem sich die französischen und die spanischen Könige von Rom ökonomisch emanzipiert hatten, so dass die Päpste ohne ihre Genehmigung keinen Pfennig aus ihren Ländern ziehen durften, blieben sie treue Söhne der Kirche, um als solche die kirchliche Gewalt für ihre eigenen Herrschaftszwecke auszubeuten. Daher die endlosen Kriege der französischen und der spanischen Könige um den Besitz von Italien. Indessen, wenn die römische Kirche zur Weltherrschaft tauglich bleiben sollte, so musste sie von ihren feudalistischen auf kapitalistische Füße gestellt werden, und das besorgte die Gesellschaft Jesu. Der Jesuitismus passte die katholische Kirche den neuen ökonomischen und politischen Verhältnissen an. Er reorganisierte das gesamte Schulwesen durch die klassischen Studien, die höchste Bildung, die es damals gab; er wurde die größte Handelsgesellschaft der Welt, die ihre Kontore hatte, soweit die Erde entdeckt war; er lieferte den Fürsten Berater, die dienend herrschten. Der Jesuitismus wurde mit einem Worte die treibende Kraft der römischen Kirche, während das Papsttum zu einem italienischen Fürstentum herabsank, das, ein Spielball der weltlichen Mächte, aus deren widerstreitenden Interessen möglichst viel für seine eigenen weltlichen Interessen herauszuschlagen suchte.

Loyola und seine ersten Genossen stammten aus Spanien, lange Zeit kannte Europa die Jesuiten nur unter dem Namen der spanischen Priester. Und das erklärt sich leicht genug. Spanien war im sechzehnten Jahrhundert die erste Weltmacht. Der spanische König Karl trug auch die deutsche Kaiserkrone, er war mächtig in Italien, er verfügte über die Schätze beider Indien. Es gelang ihm zwar nicht, die deutsche Krone seinem Sohne zu vererben, doch blieb Philipp immer noch der mächtigste Monarch seiner Zeit; auch in Deutschland behielt er die reichen Niederlande und die Freigrafschaft Burgund, die heutige Franche-Comte. Als erste Weltmacht musste Spanien die absoluteste Monarchie sein, und die absoluteste Monarchie wurde es durch kirchliche Machtmittel; namentlich war die Inquisition unter religiösen Formen eine furchtbare Waffe der königlichen Gewalt. Was aber die spanische Monarchie so schnell über ihre französische Nebenbuhlerin hinauswachsen ließ, das zerstörte zugleich die eigentlichen Quellen ihrer Kraft. Der Absolutismus entsprach nur zeitweise, keineswegs dauernd, den Interessen der kapitalistischen Produktionsweise. Für die reichen Städte war er nicht Zweck, sondern Mittel, und sobald er sich selbst als Zweck zu setzen gedachte, erinnerten sie ihn nachdrücklich daran, dass er von ihren Gnaden sei. In diesem Kampfe konnte der Gewinn für den Absolutismus noch verhängnisvoller werden als der Verlust. Unter Philipp begann die spanische Weltmacht an dem Aufstande der niederländischen Städte zu verbluten, aber fünfzig Jahre früher hatte der Sieg, den Karl über die spanischen Kommunen bei Villalar erfocht(2), und die Verwüstung der spanischen Städte, womit die Inquisition diesen Sieg ergänzte, die Voraussetzungen geschaffen, die Spanien überhaupt aus der Reihe der großen europäischen Mächte streichen sollten.

Das religiöse Banner, unter dem die niederländischen Städte, ihren Kampf gegen den spanischen Absolutismus aufnahmen, war der Calvinismus. Er war auch das religiöse Banner der französischen Städte gegen den französischen Absolutismus. Ein Kind der reichen Handelsstadt Genf, entsprach er durch seine demokratische Kirchenverfassung den Interessen der fortgeschrittensten Städtebürger. Gegenüber der absolutistisch-kapitalistischen Gesellschaft Jesu kann man ihn die bürgerlich-kapitalistische Religion nennen. Damit steht keineswegs in Widerspruch, dass Teile des Adels sich in Frankreich und den Niederlanden zum Calvinismus bekannten. Sie hatten mehr oder minder gemeinsame Interessen mit den rebellischen Städten und kämpften deshalb unter derselben Fahne. Immer aber, wo der Calvinismus eine begeisternde und fanatisierende Macht ist, wurzelt er in den Städten, stehen die bürgerlichen Interessen im Vorkampfe. Als Richelieu sechs Jahre nach Beginn des Dreißigjährigen Krieges das französische Staatsruder in die Hand bekam, gewann er leicht die adligen Elemente der Hugenotten, mit ihren städtischen Elementen aber musste er einen hartnäckigen Krieg führen, bis er im Jahre 1628 ihre Hauptfestung Rochelle nach vierzehnmonatlicher Belagerung eroberte. Obgleich Kardinal der römischen Kirche, stand Richelieu auf einer ungleich höheren Stufe der historischen Entwicklung als hundert Jahre früher der spanische König Karl. Er zertrümmerte nicht die französischen Städte, nachdem er sie niedergeworfen hatte, sondern versöhnte sie durch die Befriedigung der politischen Ansprüche, die sie nach Lage der ökonomischen Machtverhältnisse erheben konnten. Es war der tiefste Grund, weshalb Frankreich die europäische Vorherrschaft dem spanischen Nebenbuhler nun schnell abgewann.

Endlich das Luthertum war die Religion der ökonomisch zurückgebliebenen Länder, die am stärksten von Rom ausgebeutet worden waren, aber am wenigsten daran denken konnten, Rom zu beherrschen oder Rom zu vernichten, die also vollständig mit Rom brechen mussten, aber in die großen Wettkämpfe um sein Erbe gar nicht oder höchstens mittelbar eingreifen konnten. Das Luthertum herrschte im nördlichen und östlichen Deutschland, in Dänemark, in Schweden. Es sind Länder mit verhältnismäßig geringer Entwicklung der Städte und starkem Übergewichte des Adels. Die kapitalistische Entwicklung arbeitet sich hier erst langsam aus dem feudalen Chaos heraus. Sie schafft noch kein revolutionäres Bürgertum, dagegen macht sie aus dem Grund- einen Gutsherrn, aus dem Rittersmann einen Warenproduzenten; die Kirche bezahlt mit ihren Gütern und der Bauer [bezahlt] mit grenzenlosem Elend die Zeche der „reinen Lehre". Die Monarchie ist nicht absolut, sondern ständisch beschränkt; bei dem Raube der Kirchengüter muss der Fürst mit dem Adel teilen; Soldaten und Steuern, die beiden Arme des Absolutismus, bewilligen die Junker nur, soweit es ihren Interessen passt; aus dem Klassenkampfe zwischen Fürsten- und Junkertum entwickelt sich unter sonst günstigen Umständen jene einseitige Militärmonarchie, wie wir sie im Schweden des siebzehnten, im Preußen des achtzehnten Jahrhunderts sehen. Entsprechend diesen rückständigen Verhältnissen ist das Luthertum eine rückständige Religion. Calvins Hauptlehre von der Gnadenwahl und Luthers Hauptlehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben spiegeln beide den Eindruck der Tatsache wider, dass die kapitalistische Produktionsweise alle überkommenen Verhältnisse umstürzt, untergräbt, auf den Kopf stellt: Nicht von den Handlungen des Menschen hängt sein Schicksal ab, sondern von Gottes Ratschluss, der für Menschen unerforschlich ist. Aber Calvins Lehre ist historisch ungleich entwickelter. Seine Gnadenwahl lässt dem Menschen überhaupt keine Wahl; Gott entscheidet, ob der Mensch zum ewigen Heil oder zur ewigen Verdammnis geboren ist, und darin liegt eine geniale Ahnung dessen, was Lassalle von der kapitalistischen Produktionsweise mit den Worten sagt: „Der eine wird hoch aufgeschnellt in diesem Spiel, das unbekannte und um so mehr unbeherrschte Mächte mit ihm treiben, hoch hinauf in den Schoß des Reichtums: Hundert andere werden tief hinabgestürzt in den Abgrund der Armut, und das Rad der gesellschaftlichen Zusammenhänge geht umprägend und umquetschend über sie und ihre Handlungen, über ihren Fleiß und ihre Arbeit hinweg." Dagegen gibt Luthers Rechtfertigung allein durch den Glauben und nicht durch gute Werke einerseits die Güter der Kirche, die für gute Werke bestimmt sind, der Raubgier der Fürsten und Junker preis und macht der Kirche die Spenden der Gläubigen abspenstig, andererseits eröffnet sie dem Menschen durch seinen Willen doch noch ein Pförtlein zum Heil: nämlich wenn er glaubt, wenn er die „Hure Vernunft" mit Füßen tritt, wenn er sich richtet nach dem, was die lutherischen Pfaffen im Dienste der Junker und Fürsten von ihm verlangen. Denn die Fürsten sind die Bischöfe, die Junker die Patrone der lutherischen Kirche; auch darin unterscheidet sich das Luthertum gewaltig von der demokratischen, ja republikanischen Kirchenverfassung des Calvinismus. Über das „geistige Leben" der lutherischen Kirche braucht danach wohl nicht mehr viel gesagt zu werden: Es war ein blödes Pfaffengezänk, dem die holländischen Calvinisten grob, aber zutreffend eine „mehr als viehische Dummheit" nachsagten.

Soviel über die großen religiösen Hauptströmungen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Wohlgemerkt, zu dieser bestimmten Zeit. Denn wie die ökonomischen Zustände in ewigem Flusse sind, so auch die Religionen, in denen sie ihren ideologischen Ausdruck finden. Nicht alles, was von einer Religion zu einer bestimmten Zeit gilt, gilt von derselben Religion zu einer anderen Zeit. Für unsere Aufgabe kam es nur darauf an, den Gehalt des Jesuitismus, des Calvinismus, des Luthertums in einem bestimmten Zeitabschnitte festzustellen, sozusagen in einem historischen Querdurchschnitte. Um aber die Richtigkeit unserer Auffassung, wenn der Ausdruck erlaubt ist, auch an einem Längsdurchschnitte nachzuweisen, sei noch ein kurzer Blick auf England gestattet. Wie Frankreich und Spanien hatte auch England schon verhältnismäßig früh seine ökonomische Emanzipation vom römischen Stuhl errungen, und demgemäß wollte es wie jene Länder Rom beherrschen, aber sich nicht von Rom lösen. König Heinrich VIII. schrieb eine wütende Streitschrift gegen Luther. Allein seine Macht reichte noch nicht entfernt an die französische oder spanische; er konnte den Papst, der zumeist in spanischen Händen war, nicht zu seinem Willen zwingen. So erklärte er sich selbst zum Oberhaupt der englischen Staatskirche, plünderte ihre Güter für sich und seine höfischen Kreaturen, gründete in katholischen Formen, aber nach lutherischem Prinzip eine Staatskirche, die seinen Despotismus gewaltig stärkte, dagegen für die Massen mit den unerträglichsten Übelständen verbunden war. Deshalb erfolgte unter seiner Tochter und Nachfolgerin Marie als durchaus freiwillige Volksbewegung eine Restauration des römischen Katholizismus. Aber dieser Katholizismus hatte nunmehr sein inneres Wesen gründlich verändert; er bedeutete nicht mehr das alte, lustige England, sondern die spanische Oberherrschaft, mit der die englischen Handelsinteressen in immer wachsendem Widerstreite lagen. Vergebens suchte die Königin Marie diesen Gegensatz in Strömen von Ketzerblut zu verwischen; nur ihr früher Tod schützte sie davor, ebenso grausam gestürzt zu werden, wie sie freudig erhoben worden war. Ihre Schwester und Nachfolgerin Elisabeth stellte sofort die Staatskirche unter allgemeinem Jubel wieder her, d. h. sie hisste die englisch-protestantische Flagge gegen die spanisch-katholische. Unter ihrer langen Regierung begann England mit kräftigen Schritten zur Herrschaft über die Meere aufzusteigen. Daher die unverwüstliche Begeisterung der englischen Bourgeoisie für die „jungfräuliche und protestantische Königin", obgleich diese gescheite Person auf ihre Religion nur so viel Wert legte wie auf ihre Jungfernschaft, nämlich gar keinen. Je schneller sich aber die englische Seeherrschaft entfaltete, um so schneller entfaltete sich auch die Macht der englischen Städte, die unter den beschränkt-despotischen Nachfolgern der Elisabeth das Joch des Absolutismus überhaupt abzuwerfen trachteten und als religiöses Banner ihrer republikanischen Tendenzen den Calvinismus aufpflanzten. Sie nannten sich Puritaner, weil sie die Staatskirche von deren katholischen und lutherischen Bestandteilen reinigen wollten. Allein die bürgerliche Revolution endete in einem Kompromiss; Adel und Städte schufen eine neue Monarchie. Demgemäß blieb die Staatskirche, aber sie wurde stark calvinisiert.

Nach dieser Verständigung über die typischen Grundformen der damaligen Religionen wenden wir uns nunmehr den deutschen Verhältnissen zu.

Fußnoten

1) Siehe Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 13, S. 9.

2) Die kastilischen Städte (Commidades) nutzten die europäischen dynastischen Wirren anlässlich der Wahl Karls V. zum römisch-deutschen Kaiser 1519 zum Kampf gegen die feudale Despotie. 1520 brach der bewaffnete Aufstand der verbündeten Städte (Communeros) unter Juan de Padiila aus. Letzter Anlass war die Unzufriedenheit über Karls niederländische Ratgeber. Die Erhebung wurde vom spanischen Adel im Stich gelassen, und das Söldnerheer Karls schlug die Communeros am 23. April 1521 entscheidend bei der Stadt Villalar.

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