Gustav Adolf
Ein Fürstenspiegel zu Lehr und Nutzen der deutschen Arbeiter

von Franz Mehring (1908)

1. Einleitendes

Am 9. Dezember 1894 sind seit der Geburt des schwedischen Königs Gustav Adolf dreihundert Jahre verflossen. Die herrschenden Klassen in Schweden wollen den Gedenktag durch ein sogenanntes Nationalfest feiern, und die herrschenden Klassen in Deutschland rüsten sich zu einer gleichen Kulturtat. Der preußische Kultusminister hat für den Tag Gebete in den Kirchen wie Gedenkreden in den Schulen angeordnet, und was sich die Organe der liberalen Bourgeoisie an Atem noch abmüßigen können bei ihrem heftigen Geschrei nach Ausnahmegesetzen gegen die arbeitenden Klassen, das verwenden sie redlich zur Verherrlichung Gustav Adolfs, den sie als „Löwen aus Mitternacht", als „Befreier Deutschlands", als „Retter des Evangeliums", als „teuren Gottesstreiter" feiern. Es ist wahr: Eine bürgerliche Partei hält sich davon fern, nämlich die Ultramontane; ihre Organe schelten ebenso weidlich auf Gustav Adolf, wie die konservativen, liberalen und nicht zuletzt offiziösen Blätter ihn lobpreisen. Doch handelt es sich dabei nur um den Protest einer Minderheit, die sich augenblicklich nicht an der Macht befindet, und ihr kommt es wesentlich auf religiöse Marotten an, mit denen das Proletariat nichts zu tun hat.

Aber – so fragt man vielleicht – was geht der ganze Zauber überhaupt die deutschen Arbeiter an? Keiner von ihnen wird die salbungsvollen Gedächtnispredigten über Gustav Adolf in den Kirchen hören. Und wenn den Arbeiterkindern am 9. Dezember in den Schulen einige Flausen über den schwedischen König in den Kopf gesetzt werden, so wird sich das in den hellen Köpfen der proletarischen Brut ebenso schnell verflüchtigen wie der ganze sonstige Märchenkram, der ihnen als angeblicher Geschichtsunterricht verzapft wird. Zudem hat der Gustav-Adolf-Kultus schon den ultramontanen Widerhaken im Fleisch; soll das Proletariat da nicht auch sagen, was Ulrich Hutten von dem Mönchsgezänke seiner Zeit sagte: Fresset euch, auf dass ihr voneinander gefressen werdet? Wir können diese Fragen gründlich erst am Schluss unserer Darstellung beantworten; einstweilen wird der Hinweis darauf genügen, dass die deutsche Arbeiterklasse bei dem heutigen Höhegrad ihrer Entwicklung keine Gelegenheit vorübergehen lassen darf, ihre geistige Überlegenheit über die herrschenden Klassen zu beweisen. Sie darf, was weder die katholischen noch die protestantischen Geschichtsbaumeister dürfen, eine historische Erscheinung wie Gustav Adolf mit wissenschaftlichem Maßstabe messen.

Dazu kommt, dass in der sozialistischen Literatur noch eine Untersuchung des Dreißigjährigen Krieges an der Hand der materialistischen Geschichtsauffassung fehlt, und wir werden sehen, wie viel klärende Lichter eine solche Untersuchung auf die Kämpfe der Gegenwart wirft.

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