Texte zur Oktoberrevolution

Die Debatte über das 2. Parteiprogramm der Bolschewiki von 1919


von Boris Meissner

In der Zeit von 1903 bis 1917 gab es in der russischen Sozialdemokratie nicht nur unterschiedliche Auffassungen in der Frage der Organisation der Partei, sondern auch über den Gang der Revolution und die Art der künftigen Re­volutionsregierung.

Lenin ging zunächst ebenso wie die Menschewisten von der Auffassung aus, daß die kapitalistische Entwicklungsstufe in Rußland nicht übersprungen werden könne.

Erst sollte durch eine bürgerlich-demokratische Revolution der kapitali­stischen Entwicklung zum vollen Durchbruch verholten werden. Zu einem späteren Zeitpunkt sollte es dann zur sozialistischen Revolution kommen.

Dieses Zwei-Revolutionen-Schema war im ersten Parteiprogramm von 1903 deutlich erkennbar. Entsprechend der jeweiligen revolutionären Phase wurde in ihm zwischen einem Minimal- und einem Maximalprogramm unterschieden.

Im Gegensatz zu dieser orthodoxen Auffassung befürwortete Trotzkij im Sinne der von ihm entwickelten Theorie von der „permanenten Revolution"(1) auf Grund der besonderen Eigenart der russischen Verhältnisse den sofortigen Übergang von der bürgerlich-demokratischen zur proletarisch-sozialistischen Revolution.

In der Frage der künftigen Revolutionsregierung gab es sogar dreierlei Auffassungen.

Die Menschewisten traten auf Grund des bürgerlich-demokratischen Cha­rakters der kommenden Revolution für die Bildung einer bürgerlich-republi­kanischen Regierung ohne Beteiligung der sozialistischen Parteien ein. Aus dieser Grundeinstellung heraus sind die gemäßigten Sozialisten der Proviso­rischen Regierung nach der Februarrevolution von 1917 ferngeblieben.

Trotzkij forderte auf Grund seiner abweichenden Revolutionskonzeption die Bildung einer sozialdemokratischen Revolutionsregierung unter Ausschaltung aller übrigen Parteien.

Lenin nahm zwischen diesen beiden extremen Standpunkten anfänglich eine Mittelstellung ein. Er trat - ähnlich wie später Mao Tse-tung - für eine „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft", d. h. für eine revolutionäre Koalitionsregierung ein, in der nicht nur das Arbeiter­proletariat, sondern auch die in Rußland weit überwiegenden Bauern und kleinbürgerlichen Mittelschichten vertreten sein sollten.

Eine reine „Arbeiterregierung" auf der Grundlage der „Diktatur des Pro­letariats", wie sie Trotzkij forderte, wurde von Lenin wegen der in Rußland fehlenden Voraussetzungen für die Verwirklichung des sozialistischen Maximal­programms abgelehnt.

Er wandte sich entschieden gegen die „halbanarchistischen" Gedankengänge Trotzkijs und wies auf die gefährlichen Folgen eines sofortigen Übergangs zur zweiten Revolutionsphase hin.

Es war die Gefahr einer Minderheitsdiktatur im Staate, die ihn 1905 beunruhigte und zum Ausspruch veranlaßte(2):

Wer auf einem anderen Wege zum Sozialismus gelangen will außer auf dem des politischen Demokratismus, der gelangt unvermeidlich zu Schlußfolgerungen, die sowohl im ökonomischen als auch im politischen Sinne absurd und reaktionär sind . . ."

Trotzkij wiederum wandte sich gegen den von Lenin propagierten zentra-listisch-konspirativen Aufbau der Parteiorganisation, der nach seiner Meinung zwangsläufig zu einer Minderheitsdiktatur innerhalb der Partei führen mußte.

Im Jahre 1917 setzten sich die beiden Hauptakteure der Oktoberrevolution über die gegenseitigen Warnungen hinweg. Mit den „April-Thesen" übernahm Lenin Trotzkijs „unsinnige, halbanarchistische Ideen . . . einer unmittelbaren Eroberung der Macht zwecks sozialistischer Umwälzung." Auch die von Lenin auf der Grundlage der Diktatur des Proletariats errichtete „Arbeiter- und Bauernregierung" stand Trotzkijs Vorstellung von einer revolutionären sozia­listischen Regierung in Gestalt einer „Arbeiterregierung" näher als seiner eigenen ursprünglichen Konzeption.

Trotzkij wiederum fand sich mit der von Lenin kompromißlos vertretenen autoritären Organisationsform der Partei ab.

Die Übernahme der Revolutionskonzeption Trotzkijs durch Lenin erklärt sich aus zwei Beweggründen.

Auf der einen Seite war es eine in der revolutionären Tradition Rußlands wurzelnde Geisteshaltung, die vor allem auf Netschajew und Tkatschow zu­rückging( 3), und bereits in „Was tun?" (1902) einen deutlichen Ausdruck ge­funden hatte. Auf der anderen Seite war es der unbändige Wille zur Macht, der bei Lenin noch stärker ausgeprägt war als bei Trotzkij.

Möglich wurde diese Übernahme aber erst durch den Wandel, den die von Lenin bereits wesentlich modifizierte marxistische Lehre durch die „Imperialis­mustheorie" erfahren hatte.

Die Grundlage dieser Theorie bildeten die Gedankengänge der liberalen Kritiker des modernen Imperialismus Conant (1899) und Hobson(1902), die von Rudolf Hilferding (1910) und Rosa Luxemburg (1913) aus marxistischer Sicht weiterentwickelt wurden(4).

Ihre endgültige Gestalt sollte die Theorie in der im Dezember 1915 abge­schlossenen Schrift „Imperialismus und Weltwirtschaft" von Bucharin (5) sowie in der im Frühjahr 1916 in der Schweiz geschriebenen und im April 1917 erst­malig veröffentlichten Arbeit „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" von Lenin finden. Beiden Werken liegt die Feststellung zu­grunde, daß der Kapitalismus in seiner monopolistischen und imperialistischen Erscheinungsform sich seit dem Ausgange des 19. Jahrhunderts zu einem Welt­system entwickelt habe, zugleich aber auf Grund seiner ungleichmäßigen Ent­wicklung und seiner inneren Widersprüche weltweite Krisen und Kriege hervor­rufe. Die Hegemoniebestrebungen der führenden Industriemächte, in denen nach Lenin und Bucharin das Expansionsstreben des neu entstandenen „Finanzkapitals" zum Ausdruck kam, würden zu einem verschärften Konkurrenz­kampf auf dem Weltmarkt und damit letzten Endes zu Eroberungskriegen führen, die vor allem auf eine Neuverteilung der Kapitalanlagegebiete und ins­besondere des Kolonialbesitzes abzielten.

Auf Grund dieser Analyse sah Lenin, im Einklang mit Bucharin, aber im Unterschied zu Marz und Engels, das bürgerlich-kapitalistische Staatensystem als zusammenhängendes Ganzes für den revolutionären Umsturz als reif an. Die „Imperialismustheorie" Lenins und Bucharins bedeutete nur einen höchst einseitigen Beitrag zur Klärung des historischen Phänomens des Imperialismus. Ihre Bedeutung lag vor allem darin, daß sie die Machtergreifung kommuni­stischer Minderheiten und damit den sofortigen Übergang zur proletarisch­sozialistischen Revolution in sozialökonomisch rückständigen Ländern, so zum Beispiel Rußland, rechtfertigte.

An die Stelle der Reife für die Revolution, die Marx nur bei den am höchsten industrialisierten Ländern, so z. B. Deutschland, als gegeben angesehen hatte, trat so die günstige Gelegenheit zur Revolution, auch wenn es sich, wie im Falle Rußland, um ein halbfeudales Land handelte.

Nach der ursprünglichen marxistischen Auffassung sollte die „Diktatur des Proletariats" am Ende der kapitalistischen Entwicklung stehen. Auf Grund der bolschewistischen Konzeption fiel der vorweggenommenen „Diktatur des Proletariats" nicht nur die Aufgabe zu, die „Kapitalisten" als Klasse zu unter­drücken, sondern auch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes unter staatskapitalistischen Vorzeichen weiter voranzutreiben.

Auf die Inkonsequenz, die sich aus dieser Funktion des „Sozialismus" als Ersatzkapitalismus zwangsläufig ergeben mußte, hat kein anderer als Plechanow in einem Artikel im Juni 1917(6), d. h. also noch vor der bolschewistischen Machtergreifung hingewiesen.

Die aus der „Imperialismustheorie" abgeleitete Lehre Lenins von der „Re­volution in einem Lande" bildete die ideologische Rechtfertigung für diese Machtergreifung und zugleich für die bolschewistische Minderheitsdiktatur, die seitdem für die Entwicklung in Rußland bestimmend geblieben ist.

Bereits in den „April-Thesen" wurde von Lenin eine Neufassung des Partei­programms gefordert.

Die Änderung sollte in der Hauptsache in den folgenden Punkten erfolgen(7):

1) Imperialismus und imperialistischer Krieg;
2)
Stellung zum Staat und unsere Forderung eines „Kommunestaates";
3)
Berichtigung des veralteten Minimalprogramms.

Gleichzeitig sollte der Name der Partei in Kommunistische Partei geändert werden.

Auf der Grundlage der „April-Thesen" wurde von Lenin ein „Entwurf zur Abänderung des theoretischen, des politischen Teils und einiger anderer Teile des Programms" ausgearbeitet(8), den er der VII. Gesamtrussischen Konferenz der SDAPR (B), die vom 24. bis 29. April (7.-12. Mai) 1917 in Petrograd (Petersburg) stattfand, unterbreitete. Die Grundgedanken finden sich auch in seiner am 10. April 1917 abgefaßten, aber erst im September 1917 veröffent­lichten Schrift „Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution"(8).

Die Frage des Parteiprogramms wurde in der „Programmsektion" der „Aprilkonferenz" behandelt.

Während Lenin die Auffassung vertrat, daß nur Teile des theoretischen Teils des alten Parteiprogramms geändert werden sollten, sprach sich die Mehrheit der Sektion (G. Lomow, G. Sokolnikow, D. Bogolepow usw.) für eine Neu­formulierung des gesamten grundsätzlichen Teils des Parteiprogramms aus(9). Auch in der von der Sektion eingesetzten Kommission, der die drei obenge­nannten Parteimitglieder angehörten, zu denen sich Bucharin hinzugesellte, ergaben sich Meinungsverschiedenheiten.

Lenin war dafür, die Charakterisierung des Kapitalismus, wie sie im ersten Parteiprogramm enthalten war, beizubehalten, und sie durch eine Darstellung der imperialistischen Entwicklungsstufe zu ergänzen.

Bucharin und die Mehrheit der Kommission wollten dagegen von einer Ana­lyse des Imperialismus als Gesamtphänomen ausgehen.

Auch die in den „April-Thesen" Lenins enthaltene Forderung eines „Kom­munestaates" bzw. einer „Republik der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter­und Bauerndeputierten" wurde, wie aus seinem Referat zur Frage der Revision des Parteiprogramms vom 28. April (11. Mai) 1917(10) hervorgeht, von der Kommissionsmehrheit nicht akzeptiert.

Man einigte sich im Einklang mit dem Programmentwurf Lenins, vorläufig nur von der Forderung nach einer „demokratischen proletarisch-bürgerlichen Republik" zu sprechen. Meinungsverschiedenheiten ergaben sich auch in der „nationalen Frage", d. h. bei der näheren Bestimmung des Selbstbestimmungs­rechts der Völker.

Lenin hatte in seinem Entwurf folgende Neuformulierung des § 9 angeregt:

„Recht auf freie Lostrennung und Bildung eines eigenen Staates für alle Nationen, die zum Staate gehören. Die Republik des russischen Volkes soll andere Völker oder Völkerschaften nicht durch Gewalt an sich ziehen, sondern ausschließlich durch freiwillige Verständigung über die Schaffung eines eigenen Staates.

Die Einheit und das brüderliche Bündnis der Arbeiter aller Länder ver­tragen sich weder mit der direkten oder indirekten Vergewaltigung anderer Völker."

Diese Auffassung Lenins, die von Stalin unterstützt wurde, erschien Bucharin und Pjatakow zu weitgehend.

In der „Resolution zur nationalen Frage" (11) setzte sich der Standpunkt Lenins durch.

Einigkeit bestand in der Frage der Umarbeitung des Agrarprogramms, die entsprechend der „Resolution zur Agrarfrage"(12) erfolgen sollte.

Auf Grund des Referats von Lenin wurde von der Parteikonferenz die fol­gende „Resolution über eine Revision des Parteiprogramms" angenommen(13):

„Die Konferenz erkennt die Notwendigkeit an, das Parteiprogramm in folgender Richtung einer Revision zu unterziehen:

1) Charakterisierung des Imperialismus und der Epoche imperialistischer Kriege im Zusammenhang mit der herannahenden sozialistischen Revo­lution; Kampf gegen die Entstellung des Marxismus durch die so­genannten „Vaterlandsverteidiger", die die Marxsche Losung „Die Arbeiter haben kein Vaterland" vergessen haben;

2) Korrektur der Thesen und Paragraphen über den Staat im Sinne der Forderung nicht einer bürgerlich-parlamentarischen Republik, sondern einer demokratischen proletarisch-bäuerlichen Republik (d. h. eines Staatstypus ohne Polizei, ohne stehendes Heer, ohne privilegiertes Beamtentum);

3) Entfernung oder Korrektur der veralteten Teile des politischen Pro­gramms ;

4) Umarbeitung einer Reihe von Punkten des politischen Minimalpro­gramms im Sinne eines exakteren Hinweises auf konsequentere demo­kratische Forderungen;

5) völlige Umarbeitung des an sehr vielen Stellen veralteten ökonomischen Teils des Minimalprogramms und der das Volksbildungswesen be­treffenden Punkte;

6) Umarbeitung des Agrarprogramms entsprechend der angenommenen Resolution zur Agrarfrage;

7) Einfügung der Forderung nach Nationalisierung einer Reihe der hier­für reifsten Syndikate usw.

8) Ergänzung durch eine Charakteristik der Hauptströmungen des mo­dernen Sozialismus.

Die Konferenz beauftragte das ZK, auf dieser Grundlage den Entwurf eines Parteiprogramms binnen zwei Monaten auszuarbeiten und diesen Entwurf dem Parteitag zur Bestätigung zu unterbreiten. Die Konferenz fordert alle Organisationen und alle Mitglieder der Partei auf, die Programment­würfe zu erörtern, Korrekturen vorzunehmen und Gegenentwürfe auszu­arbeiten."

Auf Grund des von der „April-Konferenz'' festgesetzten Termins wurden von Lenin im Juni 1917 „Materialien zur Revision des Parteiprogramms" veröffentlicht(14).

Die Materialien enthielten:

a) den der „Aprilkonferenz" unterbreiteten ersten Entwurf Lenins zur Abänderung des Parteiprogramms;

b) die Bemerkungen der Kommission und ihrer einzelnen Mitglieder(15);

c) die Antwort Lenins auf diesen Entwurf;

d) den von der Unterkommission für Arbeiterschutz ausgearbeiteten Ent­wurf zur Abänderung des wirtschaftlichen Minimalprogramms;

e) den von der Lebensgefährtin Lenins, N. K.Krupskaja, verfaßten Ent­wurf zur Abänderung der auf das Volksbildungswesen bezüglichen Programmpunkte.

Den Abschluß bildete eine Gegenüberstellung des alten Programmtextes mit den von Lenin gemachten Abänderungs- und Ergänzungsvorschlägen(15).

Die imperialistische Entwicklungsstufe des Kapitalismus wurde in diesem zweiten Entwurf als die „Ära der proletarischen, sozialistischen Revolution" bezeichnet und die „allseitige unmittelbare Vorbereitung des Proletariats für die Eroberung der politischen Macht" gefordert. Die Machtergreifung sollte dazu dienen: „die wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen durchzuführen, die den Inhalt der sozialistischen Revolution bilden."

Gleichzeitig mit der Arbeit Lenins wurde von der Moskauer Gebietsorganisa­tion der bolschewistischen Partei ein Sammelwerk „Materialien zur Überprüfung des Parteiprogramms"(16) veröffentlicht.

Dem Sammelwerk, das die Auffassung der Programmsektion der „April­konferenz" wiedergab, lag der Entwurf von G. Sokolnikow zugrunde.

Von dem VI. Kongreß der SDAPR (B), der vom 26. Juli (8. August) bis 3. (16.) August 1917 in Petrograd (Petersburg) stattfand, wurde eine Protokoll­sektion mit der Durchsicht der Materialien Lenins und des Moskauer Gebiets­büros beauftragt.

Auf Grund eines Berichtes von Sokolnikow beschloß die Sektion von einer Behandlung der Frage des Parteiprogramms auf dem VI. Parteikongreß abzu­sehen(17).

Nach einer eingehenden Diskussion der einzelnen Entwürfe sollte ein beson­derer Parteikongreß einberufen werden, dem die Ausarbeitung des endgültigen Textes des neuen Parteiprogramms zufallen sollte.

Lenin setzte sich in einer am 6.-8. (19.-21.) Oktober 1917 geschriebenen Schrift „Zur Revision des Parteiprogramms"(18) mit dem Entwurf von Sokolnikow und Vorschlägen von Bucharin, W. Smirnow und Larin auseinander.

Er hielt an seinem bisherigen Standpunkt fest und beanstandete bei Sokol­nikow den Versuch, die einzelnen Merkmale des Imperialismus" auf die ver­schiedenen Paragraphen des Programms zu verteilen".

Scharf lehnte er den „äußerlich ,sehr radikalen', doch sehr unvernünftigen Vorschlag" Bucharins und Smirnows, das Minimalprogramm zu streichen, ab. Er schrieb(19):

„Zuerst müssen die Übergangsmaßnahmen auf dem Wege zum Sozialis­mus in der Praxis durchgeführt, muß unsere Revolution bis zum Siege der sozialistischen Weltrevolution weitergeführt werden, erst dann können und müssen wir, „aus der Schlacht zurückgekehrt", das Minimalprogramm als nunmehr überflüssig streichen."

Und er fügte hinzu:

„Wir wissen nicht, ob wir morgen oder etwas später siegen werden. (Ich persönlich bin geneigt zu glauben, daß es morgen sein wird — ich schreibe dies am 6. Oktober 1917 — und daß wir uns mit der Machtergreifung ver­späten können, aber auch morgen ist immerhin morgen und nicht heute.) Wir wissen nicht, wie bald nach unserem Sieg die Revolution im Westen kommen wird . . . Und darum ist es auch lächerlich, das Minimalprogramm zu streichen, das unentbehrlich ist, solange wir noch im Rahmen der bürger­lichen Ordnung leben, solange wir diesen Rahmen nicht gesprengt haben, solange wir das Grundlegende für den Übergang zum Sozialismus nicht getan haben, den Feind (die Bourgeoisie) nicht geschlagen und nachdem wir ihn geschlagen, nicht vernichtet haben."

Besonders eindringlich verteidigte Lenin seinen Standpunkt in der Frage des Selbstbestimmungsrechts der Völker.

Der besondere Parteikongreß zur Ausarbeitung des Parteiprogramms, der zum 17. (30.) Oktober 1917 einberufen werden sollte(20), wurde auf Grund eines Beschlusses des Zentralkomitees vom 5. (18.) Oktober 1917 (21) für „kurze Zeit" verschoben. Von dem Zentralkomitee wurde zugleich eine Kommission zur Ausarbeitung eines Entwurfs des neuen Parteiprogramms bestimmt, der Lenin, Bucharin, Trotzkij, Kamenew, Sokolnikow und die Kollontaj angehörten(22).

Zu einer Arbeitssitzung dieser Kommission scheint es nicht mehr gekommen zu sein, da die bolschewistische Parteiführung durch die Vorbereitung des be­waffneten Aufstandes voll in Anspruch genommen war.

Die Oktoberrevolution, die zur Errichtung des Sowjetstaates führte, schuf eine neue Lage.

Durch die bolschewistische Machtergreifung wurde das Minimalprogramm beiseite geschoben. Damit wurde dem Wunsche der Moskauer Gruppe um Bucharin, die den Kern der späteren „linken Kommunisten" bilden sollte, entsprochen. Andererseits galt es die im Maximalprogramm geforderte „Dikta­tur des Proletariats" nach ihrer Errichtung im Zeichen des „Kriegskommunis­mus" auszubauen und zu festigen.

Die Ausarbeitung des Parteiprogramms erschien bei der Lage der Dinge besonders dringlich. Durch ZK-Beschluß vom 24. Januar (6. Februar) 1918 wurde eine neue Kommission, bestehend aus drei Mitgliedern - Lenin, Bucharin, Sokolnikow -, gebildet(23), die dem bevorstehenden VII. Parteikongreß der SDAPR (B) einen gemeinsamen Programmentwurf unterbreiten sollte. Hierzu ist es nicht gekommen, da sich die Meinungsverschiedenheiten zwischen Lenin einerseits sowie Bucharin und Sokolnikow andererseits infolge der Frage des Friedensvertrages mit den Mittelmächten weiter verschärften. Auf dem VII. Parteikongreß, der vom 6. bis 8. März 1918 in Petrograd (Petersburg) stattfand, gelang es Lenin, die Annahme des Brest-Litowsker Friedensvertrages gegen die hauptsächlich von Bucharin geführte Opposition, durchzusetzen.

Der Parteitag stimmte auch der von Lenin bereits in den „April-Thesen" angeregten Namensänderung der SDAPR(B) in Kommunistische Partei Ruß­lands (Bolschewisten) zu. In der Frage des neuen Parteiprogramms kam es da­gegen zu keiner Entscheidung.

Lenin hatte dem Parteikongreß die „Skizze eines Programmentwurfs"(24) vor­gelegt und in einem Referat vom 8. März 1919 näher begründet.

In der „Skizze", deren Kernstück „Zehn Thesen über die Sowjetmacht" bildeten, wurde zur Frage der „Diktatur des Proletariats" und der „sozialisti­schen Weltrevolution" folgendes ausgeführt:

„Die Revolution vom 7. November (25. Oktober) 1917 verwirklichte in Rußland die Diktatur des Proletariats, das von der armen Bauernschaft oder den Halbproletariern unterstützt wurde.

Diese Diktatur stellt die Kommunistische Partei in Rußland vor die Auf­gabe : die bereits begonnene Expropriation der Gutsbesitzer und der Bour­geoisie zu Ende zu führen, alle Fabriken, Werke, Eisenbahnen, Banken, die Flotte und sonstige Produktions- und Zirkulationsmittel zum Eigentum der Sowjetrepublik zu machen; das Bündnis der städtischen Arbeiter und armen Bauern, das bereits zur Aufhebung des Privateigentums an Grund und Boden geführt hat, und das Gesetz über jene Übergangsform von der kleinbäuerlichen Wirtschaft zum Sozialismus, das die heutigen Ideologen der auf die Seite der Proletarier übergegangenen Bauernschaft als Soziali­sierung des Bodens bezeichnet haben, auszunutzen für den allmählichen, aber unaufhörlichen Übergang zur gemeinsamen Bearbeitung des Bodens und zum sozialistischen Großbetrieb in der Landwirtschaft; die föderative Republik der Sowjets zu stärken und auszubauen als eine unvergleichlich höhere und fortschrittlichere Form der Demokratie, als es der bürgerliche Parlamentarismus ist, und als den einzigen Staatstypus, der, auf Grund der Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 und der russischen Revolu­tionen von 1905 und 1917/18, der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, d. h. der Periode der Diktatur des Proletariats entspricht; die in Rußland entzündete Fackel der sozialistischen Weltrevolution in jeder Weise dazu auszunutzen, um die Versuche der imperialistischen bürgerlichen Staaten, sich in die inneren Angelegenheiten Rußlands einzu­mischen oder sich zum direkten Kampf und Krieg gegen die sozialistische Sowjetrepublik zusammenzuschließen, zu paralysieren und die Revolution in die fortgeschritteneren und überhaupt in alle Länder zu tragen."

In seinen beiden Stellungnahmen zur „Revision des Parteiprogramms"(25) wies Lenin auf die Schwierigkeit hin, auf dem Parteitag das endgültige Pro­gramm auszuarbeiten. Er empfahl die Frage erneut dem Zentralkomitee oder einer besonderen Kommission zu übergeben. Von der Einsetzung mehrerer Kommissionen bat er bei der Dringlichkeit der Aufgabe abzusehen.

Er meinte, daß ein schnell ausgearbeitetes Programm bei den „Schwierig­keiten der jetzigen Zeit" viele Fehler enthalten würde. Das Leben schreite so rasch vorwärts, daß die Partei im Notfalle eine Reihe von Korrekturen im Parteiprogramm vornehmen müßte.

In der Frage der Unterscheidung des Programmaximums und Programmminimums äußerte er sich vorsichtig.

Er gab zu, daß an die Stelle des Programminimums nunmehr das Programm der Sowjetmacht, entsprechend den von ihm in der „Skizze" dargelegten Grundsätzen treten müßte. Stolz bemerkt er:

„Man kann nicht die geschichtliche Tatsache bestreiten, daß Rußland die Sowjetrepublik geschaffen hat."

Zugleich warnte er aber davor,

„auf eine Ausnützung des bürgerlichen Parlamentarismus zu verzichten",

da Rückschläge keineswegs ausgeschlossen seien.

„Zu glauben, daß wir nicht mehr zurückgeworfen werden, wäre eine Utopie."

Er begründete seinen Standpunkt bei der Ablehnung des Abänderungs-antrages von Pelsche mit den Worten(26):

„Wir dürfen uns auf keinen Fall den Anschein geben, als ob wir die bürgerlichen parlamentarischen Einrichtungen überhaupt nicht schätzen. Sie sind ein gewaltiger Schritt vorwärts im Vergleich zum Früheren . . . Wir können nicht einer rein anarchistischen Ablehnung des bürger­lichen Parlamentarismus den Weg bahnen. Das sind Stufen, die unmittel­bar miteinander verknüpft sind. Werden wir zurückgeworfen, so besteht die Möglichkeit, daß wir wieder zu dieser Stufe zurückkehren." In der Diskussion wandte sich Lenin gegen den Vorschlag Buckarins im Programm die „sozialistische Gesellschaft in ihrer entfalteten Form, d. h. den Kommunismus" näher zu charakterisieren und das Absterben des Staates näher zu fixieren.

Lenin erklärte(27):

„Wir können keine Charakteristik des Sozialismus geben. Wie der Sozia­lismus aussehen wird, wenn er seine endgültigen Formen annimmt - das wissen wir nicht, das können wir nicht sagen. Daß die Ära der sozialen Re­volution begonnen hat, daß wir dies und jenes getan haben, dies und jenes tun wollen - das wissen wir, das werden wir sagen, und das wird den euro­päischen Arbeitern zeigen, daß wir sozusagen unsere Kräfte keineswegs überschätzen. Das haben wir angefangen, und das wollen wir tun. Aber wie der vollendete Sozialismus aussehen wird, das können wir jetzt nicht wissen.

Theoretisch, in theoretischen Werken, in Artikeln, in Reden, in Vor­lesungen werden wir den Gedanken entwickeln, daß Kautsky den Kampf gegen die Anarchisten nicht richtig führt, aber ins Programm können wir das nicht aufnehmen, weil es noch kein Material für eine Charakteristik des Sozialismus gibt.

Die Ziegelsteine sind noch nicht hergestellt, aus denen der Sozialismus errichtet werden wird. Mehr können wir nicht sagen, und man muß möglichst vorsichtig und genau sein. Darin und nur darin wird die wer­bende Kraft unseres Programms bestehen. Wenn wir aber die geringsten Ansprüche auf das erheben, was wir nicht geben können, so wird das die Stärke unseres Programms verringern. Man wird den Verdacht hegen, daß unser Programm nur eine Phantasie ist."

Und zur Frage des „absterbenden Staates" bemerkte er:

„Im voraus das Absterben des Staates zu proklamieren, wäre eine Ver­letzung der geschichtlichen Perspektive."

Lenin betonte, daß sich das Programm jetzt

„nicht so sehr auf Büchern als vielmehr auf der Praxis, auf den Erfahrungen der Sowjetmacht aufbauen würde."

Er wies ferner auf die Bedeutung eines „genauen, konkreten Programms" zur Beeinflussung des internationalen Proletariats hin.

Auf Lenins Vorschlag wurde vom Parteikongreß die folgende Resolution „über die Änderung des Parteinamens und des Parteiprogramms" angenommen(28):

„Der Parteitag beschließt, daß unsere Partei (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands, Bolschewiki) sich in Zukunft Kommunistische Partei Russlands', in Klammern ,Bolschewiki', nennt. Der Parteitag beschließt, unser Parteiprogramm zu ändern, den theore­tischen Teil umzuarbeiten oder ihn durch eine Ctfarakteristik des Imperia­lismus und der begonnenen Ära der internationalen sozialistischen Revolution zu ergänzen.

Ferner muß die Änderung des politischen Teils unseres Programms in einer möglichst genauen und ausführlichen Kennzeichnung des neuen Staatstypus der Sowjetrepublik bestehen, als der Form der Diktatur des Proletariats und als der Fortsetzung jener Errungenschaften der inter­nationalen Arbeiterrevolution, mit denen die Pariser Kommune begonnen hat. Das Programm muß darauf hinweisen, daß unsere Partei auch auf die Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus nicht verzichten wird, wenn die Entwicklung des Kampfes uns auf eine gewisse Zeit zu jener, von unserer Revolution jetzt überholten historischen Stufe zurückwerfen sollte. Die Partei wird auf jeden Fall und unter allen Umständen für die Sowjetrepublik kämpfen, als höchsten demokratischen Staatstypus und als Form der Diktatur des Proletariats, des Sturzes des Joches der Ausbeuter und der Unterdrückung ihres Widerstandes. In diesem Geiste und in dieser Richtung muß das Wirtschaftsprogramm, auch das Agrarprogramm, ferner der pädagogische und sonstige Teil unseres Programms um­gearbeitet werden. Der Schwerpunkt muß in der genauen Charakteristik der von unserer Sowjetmacht in Angriff genommenen wirtschaftlichen und anderen Umgestaltungen und einer genauen Darlegung der nächsten konkreten Aufgaben bestehen, die sich die Sowjetmacht gestellt hat und die sich aus den von uns bereits getanen praktischen Schritten der Ex­propriation der Expropriateure ergeben.

Der Parteitag beauftragt eine besondere Kommission, möglichst rasch auf Grund der dargelegten Hinweise ein Programm unserer Partei auszu­arbeiten und es als Programm unserer Partei zu bestätigen."

Interessant ist, daß Lenin zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit der Rückkehr vom Rätesystem zum Parlamentarismus durchaus offenließ.

Von dem VII. Parteikongreß wurde eine neue Kommission eingesetzt, der Lenin, Trotzkij, Bucharin, Sokolnikow, W. M. Smirnow, Sinowjew und Stalin angehörten(29).

Von der Kommission wurde ein Programmentwurf ausgearbeitet(30), ohne daß die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen Lenin und Bucharin, die teilweise auch generationsmäßig bedingt waren, völlig beigelegt waren.

Dies wurde auf dem VIII. Parteikongreß der KPR(B), der vom 18.-23. März 1919, d. h. im Anschluß an die Gründungskonferenz der III. Kommunistischen Internationale in Moskau stattfand, sehr deutlich.

Bucharin und Lenin traten gemeinsam als Berichterstatter des Kommissions­entwurfs auf(31).Außerdem wurden dem Parteitag Entwürfe von W. Podbelskij und N. Krylenko vorgelegt. Bucharin wies in seinem Bericht auf die Eigenart des Parteiprogramms hin, bei dem es sich um das Programm der ersten proleta­rischen Partei handeln würde, die an der Macht sei.

Die Partei wäre um die Schaffung einer Ordnung bemüht, um derentwillen sie die Macht ergriffen habe. Das Programm sei daher in erster Linie als In­struktion für die Erbauer* dieser neuen Ordnung gedacht.

Er zeige die Richtpunkte auf, nach denen sich die zukünftige Entwicklung Sowjetrußlands vollziehen solle. Bucharin griff sodann einen Gedanken auf, der seinerzeit von Lenin ausdrücklich abgelehnt worden war. Er sagte, daß das Parteiprogramm zwar die Bezeichnung „Programm der KPR" tragen würde, tatsächlich aber ein „Programm des internationalen Proletariats" darstelle.

Jede künftige proletarische Revolution würde bei der Russischen Revolution in die Lehre gehen müssen.

Die Unterscheidung zwischen einem Programmaximum und Programmminimum sei im Entwurf weggefallen.

Das neue Parteiprogramm wäre ein „Programm der proletarischen Diktatur" und zugleich ein „Programm des kommunistischen Aufbaus". Die Partei könne, nachdem sie an der Macht sei, nur ein Programm besitzen:

die Verwirklichung des sozialistischen, kommunistischen Aufbaus."

Wörtlich sagte Bucharin(32):

„Wir haben ein Programm, das Programm des revolutionären und orga­nisatorischen Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft."

Die Sowjets wurden von Bucharin, abweichend von Lenin, als eine für alle Länder der Welt verbindliche universale, allgemeine Form der proletarischen Diktatur". bezeichnet. Das Programm würde die besonderen Wesenszüge des sowjetischen Staatstypus im Vergleich zur bürgerlich-demokratischen Republik dartun. Bucharin betonte, daß dem Wirtschaftsteil des Programms der Gedanke des „Produktions-Kommunismus" zugrunde liegen würde. Die Hauptaufgabe sei die Organisation der Produktion, die Entwicklung der Produktionskräfte und einer genossenschaftlichen Wirtschaft.

Eine Gleichmacherei sowie eine Expropriation der kleinen und mittleren Bourgeoisie sei im Programm nicht vorgesehen.

Bucharin wies abschließend auf die Meinungsverschiedenheiten hin, die er in zwei Punkten mit der Mehrheit der Programmkommission hätte. Erstens habe er es für richtig angesehen, das Programm mit einer eingehenden Analyse der neuen imperialistischen Epoche zu beginnen und in diesem Zusammenhang näher auf die Zersetzung der kapitalistischen Gesellschaft und den Beginn der proletarischen Revolution einzugehen.

Die Wiedergabe von alten Formeln, die sich auf eine überholte Entwicklungs­stufe beziehen würden, halte er für überflüssig.

Zweitens wende er sich gegen die Art der Behandlung der „nationalen Frage" und damit des „Selbstbestimmungsrechts der Völker" in dem Programm.

Unter Bezugnahme auf eine Äußerung Stalins auf dem III. Sowjetkongreß im Januar 1918 erklärte Bucharin, daß bei den entwickelten Nationen, bei denen sich das Proletariat als Klasse herausgebildet habe, nur von einem „Selbst­bestimmungsrecht der werktätigen Klassen jeder Nationalität" die Rede sein könne, nicht aber von dem Selbstbestimmungsrecht der Gesamtnation. Anders würde es bei den unterentwickelten Ländern aussehen, dort könne die Losung des Selbstbestimmungsrechts Anwendung finden. Wörtlich erklärte Bucharin(33):

„Wenn wir für die Kolonien, für die Hottentotten und Buschmänner, Neger, Inder usw. die Losung ,Recht der Nationen auf Selbstbestimmung' herausgestellt haben, so werden wir nichts verlieren. Im Gegenteil wir ge­winnen, da der nationale Komplex als Ganzes dem ausländischen Imperialis­mus schaden wird."

Abschließend bemerkte Bucharin, daß die Formulierung des Punktes 4 des Programms seinen Erwägungen Rechnung tragen würde.

Lenin betonte in seinem Bericht, daß es auch in der Epoche des Imperialismus notwendig sei, das Wesen des Kapitalismus in seiner vorimperialistischen Phase zu charakterisieren. Viele Länder ständen erst in den ersten Anfängen ihrer kapitalistischen Entwicklung.

Auch bei den entwickelten Industrieländern würde es Wirtschaftszweige ge­ben, die sich noch auf der vorimperialistischen Stufe befinden würden. Erst recht würde dies für ein industriell nur wenig entwickeltes Land wie Rußland gelten.

Außerdem würde die Epoche der Zersetzung der hochentwickelten kapita­listischen Länder vorübergehend zur Wiederbelebung primitiver Formen führen.

Einen „reinen Imperialismus" ohne kapitalistische Basis habe es niemals gegeben und würde es niemals geben. Er bezeichnete den Imperialismus als „Überbau über dem Kapitalismus".

Lenin wandte sich auch entschieden gegen die Auffassung Bucharins vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, die auf dem Parteikongreß wie seinerzeit auf der „Aprilkonferenz" von Pjakatow geteilt wurde.

Der Vorschlag Bucharins würde das Mißtrauen der Nationen wieder wachrufen und sich auf die internationale Geltung des Sowjetlandes schädlich auswirken. Lenin fügte hinzu(34):

„Man kann dem, was ist, nicht die Anerkennung versagen: Es wird die Anerkennung selbst erzwingen. In den verschiedenen Ländern geht die Scheidung zwischen Proletariat und Bourgeoisie ihre eigenartigen Wege. Auf diesen Weg müssen wir aufs vorsichtigste einwirken. Ganz besonders vorsichtig muß man gegenüber verschiedenen Nationen sein, denn es gibt nichts Schlimmeres als Mißtrauen gegen eine Nation."

Auf Grund der beiden Berichte kam es auf zwei Sitzungen am 19. März 1918 zu einer erregten Diskussion des Kommissionsentwurfs, an der sich vor allem Podbelskij, Lomow, Rjasanow, Krassikow, Krylenko, Jurenew, Pjatakow, Tomskij, Suniza, German (Hermann), Ossinskij, Rykow, Skrypnik und Aleksan-drow beteiligten.

Die kritischen Stimmen überwogen. Rjasanow, der sich in der Frage des Selbstbestimmungsrechts dem „alten Opportunisten" Lenin anschloß, verglich den politischen Teil des Programms mit einigen verschachtelten Gebäuden des alten Kreml.

Lenin wandte sich in seinem Schlußwort(35) gegen diese kritischen Stimmen und betonte, daß der Sozialismus nicht mit einem Schlage entstehen könne. Es wäre die Hauptaufgabe des Programms, die konkreten Schritte beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus aufzuzeigen, nicht aber das Zukunftsbild eines noch nicht abgeschlossenen Prozesses zu entwerfen.

Daher sei es auch nicht zweckmäßig, auf die von Pjatakow entwickelte Vor­stellung eines „Welt-Sownarchos" bei Unterstellung der einzelnen nationalen Kommunistischen Parteien unter das Zentralkomitee der KPR(B) näher ein­zugehen.

Bucharin hielt in seinem Schlußwort(36) daran fest, daß im Mittelpunkt des Programms in viel stärkerem Maße als dies im Entwurf der Fall wäre, der Imperialismus stehen müßte.

Das alte Programm habe ebenfalls keine Charakterisierung der vorkapita­listischen Zustände enthalten. Es sei im übrigen falsch, den Imperialismus, wie es Lenin getan habe, als Überbau über dem Kapitalismus zu bezeichnen. Es käme vor allem darauf an, die richtige und zugleich realistische Perspektive der historischen Entwicklung aufzuzeigen und sich nicht mit der Registrierung des Bestehenden zu begnügen.

Er wandte sich erneut scharf gegen den Standpunkt Lenins in der „nationalen Frage" und erklärte, daß dieLosung des „Selbstbestimmungsrechts der Völker" in einem logischen Zusammenhang mit der Losung der „Verteidigung des Vaterlandes" und im Widerspruch zu den Prinzipien der „Diktatur des Prole­tariats" stehen würde.

Nach Abschluß der Programmdebatte wurde der Kommissionsentwurf trotz der von den Diskussionsrednern geäußerten Bedenken angenommen und einer Redaktionskommission zur endgültigen Formulierung überwiesen.

Der elfköpfigen Redaktionskommission gehörten Lenin, Sinowjew, Bucharin, Stalin, Kamenew, Sokolnikow, Pjatakow, Preobrashenskij, Tomskij, Smidowitsch, Bubnow an(37).

Die Kommission trat zu zwei Sitzungen am 20. und 21. März 1919 zusammen. Der endgültige Text wurde am 22. März dem Parteikongreß vorgelegt und von diesem einstimmig gebilligt (38)

Karl Radek hat in einem Kommentar (39) auf die besonderen Wesenszüge des zweiten Parteiprogramms von 1919 hingewiesen.

Radek betonte, daß das Programm von der Voraussetzung ausgeht, daß die russische Revolution den Anfang der proletarischen Revolution bilde. Die Frage der Bedeutung der Diktatur und des Terrorismus in der Epoche der sozialen Revolution würden in dem Programm offen dargelegt.

Die Rätemacht würde im Programm auch offen anerkennen, „daß jeder Staat unvermeidlich einen Klassencharakter tragen muß, solange die Einteilung der Gesellschaft in Klassen und somit auch jede Staatsmacht nicht völlig ver­schwunden ist".

Radek wendet sich gegen eine Deutung der Debatte über die nationale Frage, nach der sich Bucharin und Pjatakow im Gegensatz zu Lenin für eine Expansion des Bolschewismus mit Waffengewalt ausgesprochen hätten.

Er betont in diesem Zusammenhang, daß die gesamte Kommunistische Partei Rußlands in der Überzeugung einig sei, daß der Kommunismus und die Räte­form keinem anderen Volk gewaltsam aufgedrängt werden könnten.

Sowjetrußland würde nicht heucheln, wenn es die Unabhängigkeit der Rand­staaten anerkennen würde.

An diese Betrachtungen, die durch die spätere tatsächliche Entwicklung widerlegt werden sollten, knüpfte Radek die bemerkenswerte Feststellung(40):

„Würde Sowjetrußland mit den Waffen in der Hand die deutschen Kommunisten, solange sie eine Minderheit in der arbeitenden Bevölkerung Deutschlands sind, zur Herrschaft bringen, so könnten diese sich auch nicht allein halten. Sie würden als Fremdherrschaft von den breiten Massen des Volkes empfunden werden."

Anmerkungen

1) Den Ausgangspunkt zu dieser Theorie bildete die Schrift „Was weiter?" von Trotzkij, die mit einem Vorwort von Parvus (Alexander Helphand) 1905 erschien. Vgl. Wolfe, a. a. O., S. 361 ff.

2) Zitiert nach Wolfe, a. a. O., S. 366.

3)  Vgl. Berdiajew, N.: Sinn und Schicksal des russischen Kommunismus, Luzern 1937, S. 69.

4) Vgl. Schieder, Th.: Imperialismus in alter und neuer Sicht, moderne weit, 1. Jg., 1959, S. 5.

5) Vgl. die Analyse des Buches „Imperialismus und Weltwirtschaft" und andere Schriften Bucharins bei Knirsch, P.: ,,Die ökonomischen Anschauungen Nikolaj I. Bucharins, Berlin 1959.

6)  Vgl. Plechanov, G. V.: God na Rodine (Ein Jahr in der Heimat), Bd. I, Paris 1921, S. 233 ff.

7) Vgl. Lenin: Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution, in: Lenin, W. I.; Werke, 4. Ausg., Bd. 24, Ost-Berlin 1959, S. 6.

8) Wortlaut: Lenin, Bd. 24, a. a. O., S. 295-296; vgl. hierzu auch die Rede Lenins, Bd. 24, a. a. O., S. 289-294.

8) Wortlaut: Lenin, W. I.: Werke, 4. Ausg., Bd. 24, Ost-Berlin 1959, S. 459-464.

9) Wortlaut: Lenin, W. I.: Werke, 4. Ausg., Bd. 24, Ost-Berlin 1959, S. 41 ff.

10) Vgl. Vos'moj S-ezd RKP (b). Protokoly (Achter Kongreß der RKP (b). Protokolle), Moskau 1959, S. 524, Anmerkung 19.

11)  Wortlaut: Lenin, Bd. 24, a. a. O., S. 269-271.

12) Wortlaut: Lenin, Bd. 24, a. a. O., S. 282-285.

13) Wortlaut: Lenin, Bd. 24, a. a. O., S. 272-273.

14) Wortlaut: Lenin, Bd. 24, a. a. 0., S. 457-481.

15)  Wortlaut: Lenin, Bd. 24, a. a. O., S. 467-481.

16)  „Materialy po peresmotru partijnoj programmy. Sbornik statej", Moskau 1917.

17) Wortlaut des am 3. (16.) August 1917 vom VI. Parteikongreß bestätigten Sektionsbeschlusses: Sestoj S-ezd RSDRP (B). Protokoly (Sechster Kongreß der SDAPR(B)), Moskau 1958, S. 268-269.

18) Lenin, W. I.: Werke, Bd. 26, Ost-Berlin 1961, S. 137-165.

19) Lenin, Bd. 26, a. a. 0., S. 158.

20) Vgl. das Zirkularschreiben des ZK der SDAPR(B) an die örtlichen Parteiorganisationen vom 28. September 1917 in: KommunistiJeskaja partija - organizator pobedy socialisticeskoj revoljucii, mart - oktjabr' 1917 goda. Dokumenty i Materialy (Die Kommunistische Partei - Organisator des Sieges der sozialistischen Revolution. März-Oktober 1917. Dokumente und Materialien), Moskau 1961, S. 282-283.

21) ' Vgl. Achter Kongreß, a. a. O., S. 525; KPSS v bor'be za pobedu Velikoj Oktjabr'skoj Socialisticeskoj Revoljucii 5 ijulja - 5 nojabrja 1917. Sbornik Dokumentov (Die KPdSU im Kampf für den Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 5. Juli bis 5. November 1917. Dokumentensammlung) Moskau 1957, S. 67.

22) Vgl. Schapiro, L.: The Origin of the Communist Autocracy, London 1955, S. 133.

23) Vgl. Schapiro, a. a. O., S. 133.

24) Wortlaut: Lenin, W. I.: Sämtliche Werke, 2. Ausg., Bd. XXII, Zürich 1934, S. 405-411.

25) Vgl. Lenin, Bd. XXII, a. a. O., S. 381-399.

26) Lenin, Bd. XXII, a. a. O., S. 400-40

27) Lenin, Bd. XXII, a. a. 0., S. 402.

28) Lenin, Bd. XXII, a. a. O., S. 396-397.

29) Vgl. Schapiro, a. a. O., S. 135.

30) Wortlaut: Vos'moj S-ezd RKP(b). Protokoll. (Achter Kongreß der KPR(b). Protokolle), Moskau 1959, S. 369-389. Vgl. ferner den Entwurf Lenins für den dritten Punkt des allgemeinpolitischen Teils des Programms: Achter Kongreß der KPR(B), a. a. O., S. 38.

31) Wortlaut der beiden Berichte: Achter Kongreß der KPR(B), a. a. O., S. 34-64.

32) Achter Kongreß der KPR(B), a. a. O., S. 40.

33) Achter Parteikongreß der KPR(B), a. a. O., S. 47.

34)  Lenin, W. I.: Socinenija (Werke), 4. Ausg., Bd. 29, S. 124-125.

35) Wortlaut: Achter Parteikongreß der KPB-(B), a. a. 0., S. 107-115.

36) Wortlaut: Achter Parteikongreß der KPR(B), a. a. 0., S. 99-107.

37)  Vgl. Achter Parteikongreß der KPR(B), a. a. O., S. 115.

38) Vgl. Achter Parteikongreß der KPR(B), a. a. O., S. 525-526.

39) Vgl. Radek, K.: Das Programm der Kommunistischen Partei Rußlands, Zürich 1920.

40) Radek, a. a. 0., S. 14.

Editorische Hinweise

Leseauszug aus: Boris Meissner: Das Parteiprogramm der KPdSU 1903-1961, Köln 1962, S.20-33