In der Zeit von 1903
bis 1917 gab es in der russischen Sozialdemokratie
nicht nur unterschiedliche Auffassungen in der Frage
der Organisation der Partei, sondern auch über den
Gang der Revolution und die Art der künftigen
Revolutionsregierung.
Lenin ging
zunächst ebenso wie die
Menschewisten von der Auffassung
aus, daß die kapitalistische Entwicklungsstufe
in Rußland nicht übersprungen werden könne.
Erst sollte durch eine
bürgerlich-demokratische Revolution der
kapitalistischen Entwicklung zum vollen Durchbruch
verholten werden. Zu einem späteren Zeitpunkt sollte
es dann zur sozialistischen Revolution kommen.
Dieses
Zwei-Revolutionen-Schema war im ersten Parteiprogramm
von 1903 deutlich erkennbar. Entsprechend der
jeweiligen revolutionären Phase wurde in ihm zwischen
einem Minimal- und einem Maximalprogramm
unterschieden.
Im Gegensatz zu dieser
orthodoxen Auffassung befürwortete Trotzkij im
Sinne der von ihm entwickelten Theorie von der
„permanenten Revolution"(1) auf Grund der
besonderen Eigenart der russischen Verhältnisse den
sofortigen Übergang von der bürgerlich-demokratischen
zur proletarisch-sozialistischen Revolution.
In der Frage der
künftigen Revolutionsregierung gab es sogar dreierlei
Auffassungen.
Die Menschewisten
traten auf Grund des bürgerlich-demokratischen
Charakters der kommenden Revolution für die Bildung
einer bürgerlich-republikanischen Regierung ohne
Beteiligung der sozialistischen Parteien ein. Aus
dieser Grundeinstellung heraus sind die gemäßigten
Sozialisten der Provisorischen Regierung nach der
Februarrevolution von 1917 ferngeblieben.
Trotzkij
forderte auf Grund seiner abweichenden
Revolutionskonzeption die Bildung einer
sozialdemokratischen Revolutionsregierung unter
Ausschaltung aller übrigen Parteien.
Lenin nahm
zwischen diesen beiden extremen Standpunkten
anfänglich eine Mittelstellung ein. Er trat - ähnlich
wie später Mao Tse-tung - für eine
„demokratische Diktatur des Proletariats und der
Bauernschaft", d. h. für eine revolutionäre
Koalitionsregierung ein, in der nicht nur das
Arbeiterproletariat, sondern auch die in Rußland
weit überwiegenden Bauern und kleinbürgerlichen
Mittelschichten vertreten sein sollten.
Eine reine
„Arbeiterregierung" auf der Grundlage der „Diktatur
des Proletariats", wie sie Trotzkij forderte,
wurde von Lenin wegen der in Rußland fehlenden
Voraussetzungen für die Verwirklichung des
sozialistischen Maximalprogramms abgelehnt.
Er wandte sich
entschieden gegen die „halbanarchistischen"
Gedankengänge Trotzkijs und wies auf die
gefährlichen Folgen eines sofortigen Übergangs zur
zweiten Revolutionsphase hin.
Es war die Gefahr einer
Minderheitsdiktatur im Staate, die ihn 1905
beunruhigte und zum Ausspruch veranlaßte(2):
Wer auf einem anderen
Wege zum Sozialismus gelangen will außer auf dem
des politischen Demokratismus, der gelangt
unvermeidlich zu Schlußfolgerungen, die sowohl im
ökonomischen als auch im politischen Sinne absurd
und reaktionär sind . . ."
Trotzkij
wiederum wandte sich gegen den von Lenin
propagierten zentra-listisch-konspirativen Aufbau der
Parteiorganisation, der nach seiner Meinung
zwangsläufig zu einer Minderheitsdiktatur innerhalb
der Partei führen mußte.
Im Jahre 1917 setzten
sich die beiden Hauptakteure der Oktoberrevolution
über die gegenseitigen Warnungen hinweg. Mit den
„April-Thesen" übernahm Lenin Trotzkijs
„unsinnige, halbanarchistische Ideen . . . einer
unmittelbaren Eroberung der Macht zwecks
sozialistischer Umwälzung." Auch die von Lenin
auf der Grundlage der Diktatur des Proletariats
errichtete „Arbeiter- und Bauernregierung" stand
Trotzkijs Vorstellung von einer revolutionären
sozialistischen Regierung in Gestalt einer
„Arbeiterregierung" näher als seiner eigenen
ursprünglichen Konzeption.
Trotzkij
wiederum fand sich mit der von Lenin
kompromißlos vertretenen autoritären
Organisationsform der Partei ab.
Die Übernahme der
Revolutionskonzeption Trotzkijs durch Lenin
erklärt sich aus zwei Beweggründen.
Auf der einen Seite war
es eine in der revolutionären Tradition Rußlands
wurzelnde Geisteshaltung, die vor allem auf
Netschajew und Tkatschow zurückging(
3), und bereits in „Was tun?" (1902) einen
deutlichen Ausdruck gefunden hatte. Auf der anderen
Seite war es der unbändige Wille zur Macht, der bei
Lenin noch stärker ausgeprägt war als bei
Trotzkij.
Möglich wurde diese
Übernahme aber erst durch den Wandel, den die von
Lenin bereits wesentlich modifizierte
marxistische Lehre durch die „Imperialismustheorie"
erfahren hatte.
Die Grundlage dieser
Theorie bildeten die Gedankengänge der liberalen
Kritiker des modernen Imperialismus Conant
(1899) und Hobson(1902), die von Rudolf
Hilferding (1910) und Rosa Luxemburg
(1913) aus marxistischer Sicht weiterentwickelt
wurden(4).
Ihre endgültige Gestalt
sollte die Theorie in der im Dezember 1915
abgeschlossenen Schrift „Imperialismus und
Weltwirtschaft" von Bucharin
(5) sowie in
der im Frühjahr 1916 in der Schweiz geschriebenen und
im April 1917 erstmalig veröffentlichten Arbeit „Der
Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus"
von Lenin finden. Beiden Werken liegt die
Feststellung zugrunde, daß der Kapitalismus in
seiner monopolistischen und imperialistischen
Erscheinungsform sich seit dem Ausgange des 19.
Jahrhunderts zu einem Weltsystem entwickelt habe,
zugleich aber auf Grund seiner ungleichmäßigen
Entwicklung und seiner inneren Widersprüche
weltweite Krisen und Kriege hervorrufe. Die
Hegemoniebestrebungen der führenden Industriemächte,
in denen nach Lenin und Bucharin
das Expansionsstreben des neu entstandenen
„Finanzkapitals" zum Ausdruck kam, würden zu einem
verschärften Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt und
damit letzten Endes zu Eroberungskriegen führen, die
vor allem auf eine Neuverteilung der
Kapitalanlagegebiete und insbesondere des
Kolonialbesitzes abzielten.
Auf Grund dieser
Analyse sah Lenin, im Einklang mit
Bucharin, aber im Unterschied zu Marz und
Engels, das bürgerlich-kapitalistische
Staatensystem als zusammenhängendes Ganzes für den
revolutionären Umsturz als reif an. Die
„Imperialismustheorie" Lenins und Bucharins
bedeutete nur einen höchst einseitigen Beitrag
zur Klärung des historischen Phänomens des
Imperialismus. Ihre Bedeutung lag vor allem darin,
daß sie die Machtergreifung kommunistischer
Minderheiten und damit den sofortigen Übergang zur
proletarischsozialistischen Revolution in
sozialökonomisch rückständigen Ländern, so zum
Beispiel Rußland, rechtfertigte.
An die Stelle der Reife
für die Revolution, die Marx nur bei den am
höchsten industrialisierten Ländern, so z. B.
Deutschland, als gegeben angesehen hatte, trat so die
günstige Gelegenheit zur Revolution, auch wenn es
sich, wie im Falle Rußland, um ein halbfeudales Land
handelte.
Nach der ursprünglichen
marxistischen Auffassung sollte die „Diktatur des
Proletariats" am Ende der kapitalistischen
Entwicklung stehen. Auf Grund der bolschewistischen
Konzeption fiel der vorweggenommenen „Diktatur des
Proletariats" nicht nur die Aufgabe zu, die
„Kapitalisten" als Klasse zu unterdrücken, sondern
auch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes unter
staatskapitalistischen Vorzeichen weiter
voranzutreiben.
Auf die Inkonsequenz,
die sich aus dieser Funktion des „Sozialismus" als
Ersatzkapitalismus zwangsläufig ergeben mußte, hat
kein anderer als Plechanow in einem Artikel im
Juni 1917(6), d. h. also noch
vor der bolschewistischen Machtergreifung
hingewiesen.
Die aus der
„Imperialismustheorie" abgeleitete Lehre Lenins
von der „Revolution in einem Lande" bildete die
ideologische Rechtfertigung für diese Machtergreifung
und zugleich für die bolschewistische
Minderheitsdiktatur, die seitdem für die Entwicklung
in Rußland bestimmend geblieben ist.
Bereits in den
„April-Thesen" wurde von Lenin eine Neufassung
des Parteiprogramms gefordert.
Die Änderung sollte in
der Hauptsache in den folgenden Punkten erfolgen(7):
1)
Imperialismus und imperialistischer Krieg;
2) Stellung zum Staat und unsere
Forderung eines „Kommunestaates";
3) Berichtigung des veralteten
Minimalprogramms.
Gleichzeitig sollte der
Name der Partei in Kommunistische Partei geändert
werden.
Auf der Grundlage der
„April-Thesen" wurde von Lenin ein „Entwurf
zur Abänderung des theoretischen, des politischen
Teils und einiger anderer Teile des Programms"
ausgearbeitet(8), den er der
VII. Gesamtrussischen Konferenz der SDAPR (B), die
vom 24. bis 29. April (7.-12. Mai) 1917 in Petrograd
(Petersburg) stattfand, unterbreitete. Die
Grundgedanken finden sich auch in seiner am 10. April
1917 abgefaßten, aber erst im September 1917
veröffentlichten Schrift „Die Aufgaben des
Proletariats in unserer Revolution"(8).
Die Frage des
Parteiprogramms wurde in der „Programmsektion" der
„Aprilkonferenz" behandelt.
Während Lenin
die Auffassung vertrat, daß nur Teile des
theoretischen Teils des alten Parteiprogramms
geändert werden sollten, sprach sich die Mehrheit der
Sektion (G. Lomow, G. Sokolnikow, D. Bogolepow
usw.) für eine Neuformulierung des gesamten
grundsätzlichen Teils des Parteiprogramms aus(9).
Auch in der von der Sektion eingesetzten Kommission,
der die drei obengenannten Parteimitglieder
angehörten, zu denen sich Bucharin
hinzugesellte, ergaben sich
Meinungsverschiedenheiten.
Lenin war dafür,
die Charakterisierung des Kapitalismus, wie sie im
ersten Parteiprogramm enthalten war, beizubehalten,
und sie durch eine Darstellung der imperialistischen
Entwicklungsstufe zu ergänzen.
Bucharin und die
Mehrheit der Kommission wollten dagegen von einer
Analyse des Imperialismus als Gesamtphänomen
ausgehen.
Auch die in den
„April-Thesen" Lenins enthaltene Forderung
eines „Kommunestaates" bzw. einer „Republik der
Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiterund
Bauerndeputierten" wurde, wie aus seinem Referat zur
Frage der Revision des Parteiprogramms vom 28. April
(11. Mai) 1917(10) hervorgeht,
von der Kommissionsmehrheit nicht akzeptiert.
Man einigte sich im
Einklang mit dem Programmentwurf Lenins,
vorläufig nur von der Forderung nach einer
„demokratischen proletarisch-bürgerlichen Republik"
zu sprechen. Meinungsverschiedenheiten ergaben sich
auch in der „nationalen Frage", d. h. bei der näheren
Bestimmung des Selbstbestimmungsrechts der Völker.
Lenin hatte in
seinem Entwurf folgende Neuformulierung des § 9
angeregt:
„Recht auf freie
Lostrennung und Bildung eines eigenen Staates für
alle Nationen, die zum Staate gehören. Die Republik
des russischen Volkes soll andere Völker oder
Völkerschaften nicht durch Gewalt an sich ziehen,
sondern ausschließlich durch freiwillige
Verständigung über die Schaffung eines eigenen
Staates.
Die Einheit und das
brüderliche Bündnis der Arbeiter aller Länder
vertragen sich weder mit der direkten oder
indirekten Vergewaltigung anderer Völker."
Diese Auffassung
Lenins, die von Stalin unterstützt wurde,
erschien Bucharin und Pjatakow zu
weitgehend.
In der „Resolution zur
nationalen Frage" (11) setzte
sich der Standpunkt Lenins durch.
Einigkeit bestand in
der Frage der Umarbeitung des Agrarprogramms, die
entsprechend der „Resolution zur Agrarfrage"(12)
erfolgen sollte.
Auf Grund des Referats
von Lenin wurde von der Parteikonferenz die
folgende „Resolution über eine Revision des
Parteiprogramms" angenommen(13):
„Die Konferenz erkennt
die Notwendigkeit an, das Parteiprogramm in
folgender Richtung einer Revision zu
unterziehen:
1)
Charakterisierung des Imperialismus und der
Epoche imperialistischer Kriege im Zusammenhang mit
der herannahenden sozialistischen Revolution;
Kampf gegen die Entstellung des Marxismus durch die
sogenannten „Vaterlandsverteidiger", die die
Marxsche Losung „Die Arbeiter haben kein Vaterland"
vergessen haben;
2)
Korrektur der Thesen und Paragraphen über
den Staat im Sinne der Forderung nicht einer
bürgerlich-parlamentarischen Republik, sondern
einer demokratischen proletarisch-bäuerlichen
Republik (d. h. eines Staatstypus ohne Polizei,
ohne stehendes Heer, ohne privilegiertes
Beamtentum);
3)
Entfernung oder Korrektur der veralteten Teile des
politischen Programms ;
4)
Umarbeitung einer Reihe von Punkten des politischen
Minimalprogramms im Sinne eines exakteren
Hinweises auf konsequentere demokratische
Forderungen;
5)
völlige
Umarbeitung des an sehr vielen Stellen veralteten
ökonomischen Teils des Minimalprogramms und der das
Volksbildungswesen betreffenden Punkte;
6)
Umarbeitung des Agrarprogramms entsprechend der
angenommenen Resolution zur Agrarfrage;
7)
Einfügung der Forderung nach
Nationalisierung einer Reihe der hierfür reifsten
Syndikate usw.
8)
Ergänzung durch eine Charakteristik der
Hauptströmungen des modernen Sozialismus.
Die Konferenz
beauftragte das ZK, auf dieser Grundlage den Entwurf
eines Parteiprogramms binnen zwei Monaten
auszuarbeiten und diesen Entwurf dem Parteitag zur
Bestätigung zu unterbreiten. Die Konferenz fordert
alle Organisationen und alle Mitglieder der Partei
auf, die Programmentwürfe zu erörtern, Korrekturen
vorzunehmen und Gegenentwürfe auszuarbeiten."
Auf Grund
des von der „April-Konferenz'' festgesetzten
Termins wurden von Lenin im Juni 1917
„Materialien zur Revision des Parteiprogramms"
veröffentlicht(14).
Die Materialien
enthielten:
a)
den der „Aprilkonferenz" unterbreiteten
ersten Entwurf Lenins zur Abänderung des
Parteiprogramms;
b)
die Bemerkungen der Kommission und ihrer
einzelnen Mitglieder(15);
c)
die Antwort Lenins auf diesen
Entwurf;
d)
den von der Unterkommission für
Arbeiterschutz ausgearbeiteten Entwurf zur
Abänderung des wirtschaftlichen Minimalprogramms;
e) den von der
Lebensgefährtin Lenins, N. K.Krupskaja,
verfaßten Entwurf zur Abänderung der auf das
Volksbildungswesen bezüglichen Programmpunkte.
Den Abschluß bildete
eine Gegenüberstellung des alten Programmtextes mit
den von Lenin gemachten Abänderungs- und
Ergänzungsvorschlägen(15).
Die imperialistische
Entwicklungsstufe des Kapitalismus wurde in diesem
zweiten Entwurf als die „Ära der proletarischen,
sozialistischen Revolution" bezeichnet und die
„allseitige unmittelbare Vorbereitung des
Proletariats für die Eroberung der politischen Macht"
gefordert. Die Machtergreifung sollte dazu dienen:
„die wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen
durchzuführen, die den Inhalt der sozialistischen
Revolution bilden."
Gleichzeitig mit der
Arbeit Lenins wurde von der Moskauer
Gebietsorganisation der bolschewistischen Partei ein
Sammelwerk „Materialien zur Überprüfung des
Parteiprogramms"(16)
veröffentlicht.
Dem Sammelwerk, das die
Auffassung der Programmsektion der „Aprilkonferenz"
wiedergab, lag der Entwurf von G. Sokolnikow
zugrunde.
Von dem VI. Kongreß der
SDAPR (B), der vom 26. Juli (8. August) bis 3. (16.)
August 1917 in Petrograd (Petersburg) stattfand,
wurde eine Protokollsektion mit der Durchsicht der
Materialien Lenins und des Moskauer
Gebietsbüros beauftragt.
Auf Grund eines
Berichtes von Sokolnikow beschloß die Sektion
von einer Behandlung der Frage des Parteiprogramms
auf dem VI. Parteikongreß abzusehen(17).
Nach einer eingehenden
Diskussion der einzelnen Entwürfe sollte ein
besonderer Parteikongreß einberufen werden, dem die
Ausarbeitung des endgültigen Textes des neuen
Parteiprogramms zufallen sollte.
Lenin setzte
sich in einer am 6.-8. (19.-21.) Oktober 1917
geschriebenen Schrift „Zur Revision des
Parteiprogramms"(18) mit dem
Entwurf von Sokolnikow und Vorschlägen von
Bucharin, W. Smirnow und Larin
auseinander.
Er hielt an seinem
bisherigen Standpunkt fest und beanstandete bei
Sokolnikow den Versuch, die einzelnen Merkmale
des Imperialismus" auf die verschiedenen Paragraphen
des Programms zu verteilen".
Scharf lehnte er den
„äußerlich ,sehr radikalen', doch sehr unvernünftigen
Vorschlag" Bucharins und Smirnows, das
Minimalprogramm zu streichen, ab. Er schrieb(19):
„Zuerst müssen die
Übergangsmaßnahmen auf dem Wege zum Sozialismus in
der Praxis durchgeführt, muß unsere Revolution bis
zum Siege der sozialistischen Weltrevolution
weitergeführt werden, erst dann können und müssen
wir, „aus der Schlacht zurückgekehrt", das
Minimalprogramm als nunmehr überflüssig
streichen."
Und er fügte hinzu:
„Wir wissen nicht, ob
wir morgen oder etwas später siegen werden. (Ich
persönlich bin geneigt zu glauben, daß es morgen
sein wird — ich schreibe dies am 6. Oktober 1917 —
und daß wir uns mit der Machtergreifung verspäten
können, aber auch morgen ist immerhin morgen und
nicht heute.) Wir wissen nicht, wie bald nach
unserem Sieg die Revolution im Westen kommen wird .
. . Und darum ist es auch lächerlich, das
Minimalprogramm zu streichen, das unentbehrlich
ist, solange wir noch im Rahmen der
bürgerlichen Ordnung leben, solange wir diesen
Rahmen nicht gesprengt haben, solange wir das
Grundlegende für den Übergang zum Sozialismus nicht
getan haben, den Feind (die Bourgeoisie) nicht
geschlagen und nachdem wir ihn geschlagen, nicht
vernichtet haben."
Besonders eindringlich
verteidigte Lenin seinen Standpunkt in der
Frage des
Selbstbestimmungsrechts der Völker.
Der besondere
Parteikongreß zur Ausarbeitung des Parteiprogramms,
der zum 17. (30.) Oktober 1917 einberufen werden
sollte(20), wurde auf Grund
eines Beschlusses des Zentralkomitees vom 5. (18.)
Oktober 1917 (21)
für „kurze Zeit" verschoben. Von dem Zentralkomitee
wurde zugleich eine Kommission zur Ausarbeitung eines
Entwurfs des neuen Parteiprogramms bestimmt, der
Lenin, Bucharin, Trotzkij, Kamenew, Sokolnikow
und die Kollontaj angehörten(22).
Zu einer Arbeitssitzung
dieser Kommission scheint es nicht mehr gekommen zu
sein, da die bolschewistische Parteiführung durch die
Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes voll in
Anspruch genommen war.
Die Oktoberrevolution,
die zur Errichtung des Sowjetstaates führte, schuf
eine neue Lage.
Durch die
bolschewistische Machtergreifung wurde das
Minimalprogramm beiseite geschoben. Damit wurde dem
Wunsche der Moskauer Gruppe um Bucharin, die
den Kern der späteren „linken Kommunisten" bilden
sollte, entsprochen. Andererseits galt es die im
Maximalprogramm geforderte „Diktatur des
Proletariats" nach ihrer Errichtung im Zeichen des
„Kriegskommunismus" auszubauen und zu festigen.
Die Ausarbeitung des
Parteiprogramms erschien bei der Lage der Dinge
besonders dringlich. Durch ZK-Beschluß vom 24. Januar
(6. Februar) 1918 wurde eine neue Kommission,
bestehend aus drei Mitgliedern - Lenin, Bucharin,
Sokolnikow -, gebildet(23),
die dem bevorstehenden VII. Parteikongreß der SDAPR
(B) einen gemeinsamen Programmentwurf unterbreiten
sollte. Hierzu ist es nicht gekommen, da sich die
Meinungsverschiedenheiten zwischen Lenin
einerseits sowie Bucharin und Sokolnikow
andererseits infolge der Frage des
Friedensvertrages mit den Mittelmächten weiter
verschärften. Auf dem VII. Parteikongreß, der vom 6.
bis 8. März 1918 in Petrograd (Petersburg) stattfand,
gelang es Lenin, die Annahme des
Brest-Litowsker Friedensvertrages gegen die
hauptsächlich von Bucharin geführte
Opposition, durchzusetzen.
Der Parteitag stimmte
auch der von Lenin bereits in den
„April-Thesen" angeregten Namensänderung der SDAPR(B)
in Kommunistische Partei Rußlands (Bolschewisten)
zu. In der Frage des neuen Parteiprogramms kam es
dagegen zu keiner Entscheidung.
Lenin hatte dem
Parteikongreß die „Skizze eines Programmentwurfs"(24)
vorgelegt und in einem Referat vom 8. März 1919
näher begründet.
In der „Skizze", deren
Kernstück „Zehn Thesen über die Sowjetmacht"
bildeten, wurde zur Frage der „Diktatur des
Proletariats" und der „sozialistischen
Weltrevolution" folgendes ausgeführt:
„Die Revolution vom
7. November (25. Oktober) 1917 verwirklichte in
Rußland die Diktatur des Proletariats, das von der
armen Bauernschaft oder den Halbproletariern
unterstützt wurde.
Diese Diktatur stellt
die Kommunistische Partei in Rußland vor die
Aufgabe : die bereits begonnene Expropriation der
Gutsbesitzer und der Bourgeoisie zu Ende zu
führen, alle Fabriken, Werke, Eisenbahnen, Banken,
die Flotte und sonstige Produktions- und
Zirkulationsmittel zum Eigentum der Sowjetrepublik
zu machen; das Bündnis der städtischen Arbeiter und
armen Bauern, das bereits zur Aufhebung des
Privateigentums an Grund und Boden geführt hat, und
das Gesetz über jene Übergangsform von der
kleinbäuerlichen Wirtschaft zum Sozialismus, das
die heutigen Ideologen der auf die Seite der
Proletarier übergegangenen Bauernschaft als
Sozialisierung des Bodens bezeichnet haben,
auszunutzen für den allmählichen, aber
unaufhörlichen Übergang zur gemeinsamen Bearbeitung
des Bodens und zum sozialistischen Großbetrieb in
der Landwirtschaft; die föderative Republik der
Sowjets zu stärken und auszubauen als eine
unvergleichlich höhere und fortschrittlichere Form
der Demokratie, als es der bürgerliche
Parlamentarismus ist, und als den einzigen
Staatstypus, der, auf Grund der Erfahrungen der
Pariser Kommune von 1871 und der russischen
Revolutionen von 1905 und 1917/18, der
Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus,
d. h. der Periode der Diktatur des Proletariats
entspricht; die in Rußland entzündete Fackel der
sozialistischen Weltrevolution in jeder Weise dazu
auszunutzen, um die Versuche der imperialistischen
bürgerlichen Staaten, sich in die inneren
Angelegenheiten Rußlands einzumischen oder sich
zum direkten Kampf und Krieg gegen die
sozialistische Sowjetrepublik zusammenzuschließen,
zu paralysieren und die Revolution in die
fortgeschritteneren und überhaupt in alle Länder zu
tragen."
In seinen beiden
Stellungnahmen zur „Revision des Parteiprogramms"(25)
wies Lenin auf die Schwierigkeit hin, auf dem
Parteitag das endgültige Programm auszuarbeiten. Er
empfahl die Frage erneut dem Zentralkomitee oder
einer besonderen Kommission zu übergeben. Von der
Einsetzung mehrerer Kommissionen bat er bei der
Dringlichkeit der Aufgabe abzusehen.
Er meinte, daß ein
schnell ausgearbeitetes Programm bei den
„Schwierigkeiten der jetzigen Zeit" viele Fehler
enthalten würde. Das Leben schreite so rasch
vorwärts, daß die Partei im Notfalle eine Reihe von
Korrekturen im Parteiprogramm vornehmen müßte.
In der Frage der
Unterscheidung des Programmaximums und
Programmminimums äußerte er sich vorsichtig.
Er gab zu, daß an die
Stelle des Programminimums nunmehr das Programm der
Sowjetmacht, entsprechend den von ihm in der „Skizze"
dargelegten Grundsätzen treten müßte. Stolz bemerkt
er:
„Man kann nicht die
geschichtliche Tatsache bestreiten, daß Rußland
die Sowjetrepublik geschaffen hat."
Zugleich warnte er aber
davor,
„auf eine Ausnützung
des bürgerlichen Parlamentarismus zu verzichten",
da Rückschläge
keineswegs ausgeschlossen seien.
„Zu glauben, daß wir
nicht mehr zurückgeworfen werden, wäre eine Utopie."
Er begründete seinen
Standpunkt bei der Ablehnung des Abänderungs-antrages
von Pelsche mit den Worten(26):
„Wir dürfen uns auf
keinen Fall den Anschein geben, als ob wir die
bürgerlichen parlamentarischen Einrichtungen
überhaupt nicht schätzen. Sie sind ein gewaltiger
Schritt vorwärts im Vergleich zum Früheren . . .
Wir können nicht einer rein anarchistischen
Ablehnung des bürgerlichen Parlamentarismus den
Weg bahnen. Das sind Stufen, die unmittelbar
miteinander verknüpft sind. Werden wir
zurückgeworfen, so besteht die Möglichkeit, daß wir
wieder zu dieser Stufe zurückkehren." In der
Diskussion wandte sich Lenin gegen den
Vorschlag Buckarins im Programm die
„sozialistische Gesellschaft in ihrer entfalteten
Form, d. h. den Kommunismus" näher zu
charakterisieren und das Absterben des Staates
näher zu fixieren.
Lenin erklärte(27):
„Wir können keine
Charakteristik des Sozialismus geben. Wie der
Sozialismus aussehen wird, wenn er seine
endgültigen Formen annimmt - das wissen wir nicht,
das können wir nicht sagen. Daß die Ära der
sozialen Revolution begonnen hat, daß wir dies und
jenes getan haben, dies und jenes tun wollen - das
wissen wir, das werden wir sagen, und das wird den
europäischen Arbeitern zeigen, daß wir sozusagen
unsere Kräfte keineswegs überschätzen. Das haben
wir angefangen, und das wollen wir tun. Aber wie
der vollendete Sozialismus aussehen wird, das
können wir jetzt nicht wissen.
Theoretisch, in
theoretischen Werken, in Artikeln, in Reden, in
Vorlesungen werden wir den Gedanken entwickeln,
daß Kautsky den Kampf gegen die Anarchisten nicht
richtig führt, aber ins Programm können wir das
nicht aufnehmen, weil es noch kein Material für
eine Charakteristik des Sozialismus gibt.
Die Ziegelsteine sind
noch nicht hergestellt, aus denen der Sozialismus
errichtet werden wird. Mehr können wir nicht sagen,
und man muß möglichst vorsichtig und genau sein.
Darin und nur darin wird die werbende Kraft
unseres Programms bestehen. Wenn wir aber die
geringsten Ansprüche auf das erheben, was wir nicht
geben können, so wird das die Stärke unseres
Programms verringern. Man wird den Verdacht hegen,
daß unser Programm nur eine Phantasie ist."
Und zur Frage des
„absterbenden Staates" bemerkte er:
„Im voraus das
Absterben des Staates zu proklamieren, wäre eine
Verletzung der geschichtlichen Perspektive."
Lenin betonte,
daß sich das Programm jetzt
„nicht so sehr auf
Büchern als vielmehr auf der Praxis, auf den
Erfahrungen der Sowjetmacht aufbauen würde."
Er wies ferner auf die
Bedeutung eines „genauen, konkreten Programms"
zur Beeinflussung des internationalen
Proletariats hin.
Auf Lenins
Vorschlag wurde vom Parteikongreß die folgende
Resolution „über die Änderung des Parteinamens und
des Parteiprogramms" angenommen(28):
„Der Parteitag
beschließt, daß unsere Partei (Sozialdemokratische
Arbeiterpartei Rußlands, Bolschewiki) sich in
Zukunft Kommunistische Partei Russlands', in
Klammern ,Bolschewiki', nennt. Der Parteitag
beschließt, unser Parteiprogramm zu ändern, den
theoretischen Teil umzuarbeiten oder ihn durch
eine Ctfarakteristik des Imperialismus und der
begonnenen Ära der internationalen sozialistischen
Revolution zu ergänzen.
Ferner muß die
Änderung des politischen Teils unseres Programms in
einer möglichst genauen und ausführlichen
Kennzeichnung des neuen Staatstypus der
Sowjetrepublik bestehen, als der Form der Diktatur
des Proletariats und als der Fortsetzung jener
Errungenschaften der internationalen
Arbeiterrevolution, mit denen die Pariser Kommune
begonnen hat. Das Programm muß darauf hinweisen,
daß unsere Partei auch auf die Ausnutzung des
bürgerlichen Parlamentarismus nicht verzichten
wird, wenn die Entwicklung des Kampfes uns auf eine
gewisse Zeit zu jener, von unserer Revolution jetzt
überholten historischen Stufe zurückwerfen sollte.
Die Partei wird auf jeden Fall und unter allen
Umständen für die Sowjetrepublik kämpfen, als
höchsten demokratischen Staatstypus und als Form
der Diktatur des Proletariats, des Sturzes des
Joches der Ausbeuter und der Unterdrückung ihres
Widerstandes. In diesem Geiste und in dieser
Richtung muß das Wirtschaftsprogramm, auch das
Agrarprogramm, ferner der pädagogische und sonstige
Teil unseres Programms umgearbeitet werden. Der
Schwerpunkt muß in der genauen Charakteristik der
von unserer Sowjetmacht in Angriff genommenen
wirtschaftlichen und anderen Umgestaltungen und
einer genauen Darlegung der nächsten konkreten
Aufgaben bestehen, die sich die Sowjetmacht
gestellt hat und die sich aus den von uns bereits
getanen praktischen Schritten der Expropriation
der Expropriateure ergeben.
Der Parteitag
beauftragt eine besondere Kommission, möglichst
rasch auf Grund der dargelegten Hinweise ein
Programm unserer Partei auszuarbeiten und es als
Programm unserer Partei zu bestätigen."
Interessant ist, daß
Lenin zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit der
Rückkehr vom Rätesystem zum
Parlamentarismus durchaus offenließ.
Von dem VII.
Parteikongreß wurde eine neue Kommission eingesetzt,
der Lenin, Trotzkij,
Bucharin, Sokolnikow, W. M. Smirnow, Sinowjew und
Stalin angehörten(29).
Von der Kommission
wurde ein Programmentwurf ausgearbeitet(30),
ohne daß die grundsätzlichen
Meinungsverschiedenheiten zwischen Lenin und
Bucharin, die teilweise auch generationsmäßig
bedingt waren, völlig beigelegt waren.
Dies wurde auf dem
VIII. Parteikongreß der KPR(B), der vom 18.-23. März
1919, d. h. im Anschluß an die Gründungskonferenz der
III. Kommunistischen Internationale in Moskau
stattfand, sehr deutlich.
Bucharin und
Lenin traten gemeinsam als Berichterstatter des
Kommissionsentwurfs auf(31).Außerdem
wurden dem Parteitag Entwürfe von W. Podbelskij
und N. Krylenko vorgelegt. Bucharin
wies in seinem Bericht auf die Eigenart des
Parteiprogramms hin, bei dem es sich um das Programm
der ersten proletarischen Partei handeln würde, die
an der Macht sei.
Die Partei wäre um die
Schaffung einer Ordnung bemüht, um derentwillen sie
die Macht ergriffen habe. Das Programm sei daher in
erster Linie als Instruktion für die Erbauer* dieser
neuen Ordnung gedacht.
Er zeige die
Richtpunkte auf, nach denen sich die zukünftige
Entwicklung Sowjetrußlands vollziehen solle.
Bucharin griff sodann einen Gedanken auf, der
seinerzeit von Lenin ausdrücklich abgelehnt
worden war. Er sagte, daß das Parteiprogramm zwar die
Bezeichnung „Programm der KPR" tragen würde,
tatsächlich aber ein „Programm des internationalen
Proletariats" darstelle.
Jede künftige
proletarische Revolution würde bei der Russischen
Revolution in die Lehre gehen müssen.
Die Unterscheidung
zwischen einem Programmaximum und Programmminimum sei
im Entwurf weggefallen.
Das neue Parteiprogramm
wäre ein „Programm der proletarischen Diktatur" und
zugleich ein „Programm des kommunistischen Aufbaus".
Die Partei könne, nachdem sie an der Macht sei, nur
ein Programm besitzen:
„die
Verwirklichung des sozialistischen, kommunistischen
Aufbaus."
Wörtlich sagte
Bucharin(32):
„Wir haben ein
Programm, das Programm des revolutionären und
organisatorischen Aufbaus der kommunistischen
Gesellschaft."
Die Sowjets wurden von
Bucharin, abweichend von Lenin, als
eine für alle Länder der Welt verbindliche
„universale, allgemeine Form der
proletarischen Diktatur".
bezeichnet. Das Programm würde die besonderen
Wesenszüge des sowjetischen Staatstypus im Vergleich
zur bürgerlich-demokratischen Republik dartun.
Bucharin betonte, daß dem Wirtschaftsteil des
Programms der Gedanke des „Produktions-Kommunismus"
zugrunde liegen würde. Die Hauptaufgabe sei die
Organisation der Produktion, die Entwicklung der
Produktionskräfte und einer genossenschaftlichen
Wirtschaft.
Eine Gleichmacherei
sowie eine Expropriation der kleinen und mittleren
Bourgeoisie sei im Programm nicht vorgesehen.
Bucharin wies
abschließend auf die Meinungsverschiedenheiten hin,
die er in zwei Punkten mit der Mehrheit der
Programmkommission hätte. Erstens habe er es für
richtig angesehen, das Programm mit einer eingehenden
Analyse der neuen imperialistischen Epoche zu
beginnen und in diesem Zusammenhang näher auf die
Zersetzung der kapitalistischen Gesellschaft und den
Beginn der proletarischen Revolution einzugehen.
Die Wiedergabe von
alten Formeln, die sich auf eine überholte
Entwicklungsstufe beziehen würden, halte er für
überflüssig.
Zweitens wende er sich
gegen die Art der Behandlung der „nationalen Frage"
und damit des „Selbstbestimmungsrechts der Völker" in
dem Programm.
Unter Bezugnahme auf
eine Äußerung Stalins auf dem III.
Sowjetkongreß im Januar 1918 erklärte Bucharin,
daß bei den entwickelten Nationen, bei denen sich
das Proletariat als Klasse herausgebildet habe, nur
von einem „Selbstbestimmungsrecht der werktätigen
Klassen jeder Nationalität" die Rede sein könne,
nicht aber von dem Selbstbestimmungsrecht der
Gesamtnation. Anders würde es bei den
unterentwickelten Ländern aussehen, dort könne die
Losung des Selbstbestimmungsrechts Anwendung finden.
Wörtlich erklärte Bucharin(33):
„Wenn wir für die
Kolonien, für die Hottentotten und Buschmänner,
Neger, Inder usw. die Losung ,Recht der Nationen
auf Selbstbestimmung' herausgestellt haben, so
werden wir nichts verlieren. Im Gegenteil wir
gewinnen, da der nationale Komplex als Ganzes dem
ausländischen Imperialismus schaden wird."
Abschließend bemerkte
Bucharin, daß die Formulierung des Punktes 4
des Programms seinen Erwägungen Rechnung tragen
würde.
Lenin betonte in
seinem Bericht, daß es auch in der Epoche des
Imperialismus notwendig sei, das Wesen des
Kapitalismus in seiner vorimperialistischen Phase zu
charakterisieren. Viele Länder ständen erst in den
ersten Anfängen ihrer kapitalistischen Entwicklung.
Auch bei den
entwickelten Industrieländern würde es
Wirtschaftszweige geben, die sich noch auf der
vorimperialistischen Stufe befinden würden. Erst
recht würde dies für ein industriell nur wenig
entwickeltes Land wie Rußland gelten.
Außerdem würde die
Epoche der Zersetzung der hochentwickelten
kapitalistischen Länder vorübergehend zur
Wiederbelebung primitiver Formen führen.
Einen „reinen
Imperialismus" ohne kapitalistische Basis habe es
niemals gegeben und würde es niemals geben. Er
bezeichnete den Imperialismus als „Überbau über dem
Kapitalismus".
Lenin wandte
sich auch entschieden gegen die Auffassung
Bucharins vom Selbstbestimmungsrecht der Völker,
die auf dem Parteikongreß wie seinerzeit auf der
„Aprilkonferenz" von Pjakatow geteilt wurde.
Der Vorschlag
Bucharins würde das Mißtrauen der Nationen wieder
wachrufen und sich auf die internationale Geltung des
Sowjetlandes schädlich auswirken. Lenin fügte
hinzu(34):
„Man kann dem, was ist,
nicht die Anerkennung versagen: Es wird die
Anerkennung selbst erzwingen. In den verschiedenen
Ländern geht die Scheidung zwischen Proletariat und
Bourgeoisie ihre eigenartigen Wege. Auf diesen Weg
müssen wir aufs vorsichtigste einwirken. Ganz
besonders vorsichtig muß man gegenüber verschiedenen
Nationen sein, denn es gibt nichts Schlimmeres als
Mißtrauen gegen eine Nation."
Auf Grund der beiden
Berichte kam es auf zwei Sitzungen am 19. März 1918
zu einer erregten Diskussion des Kommissionsentwurfs,
an der sich vor allem Podbelskij, Lomow, Rjasanow,
Krassikow, Krylenko, Jurenew, Pjatakow, Tomskij,
Suniza, German (Hermann), Ossinskij, Rykow,
Skrypnik und Aleksan-drow beteiligten.
Die kritischen Stimmen
überwogen. Rjasanow, der sich in der Frage des
Selbstbestimmungsrechts dem „alten Opportunisten"
Lenin anschloß, verglich den politischen Teil des
Programms mit einigen verschachtelten Gebäuden des
alten Kreml.
Lenin wandte
sich in seinem Schlußwort(35)
gegen diese kritischen Stimmen und betonte, daß der
Sozialismus nicht mit einem Schlage entstehen könne.
Es wäre die Hauptaufgabe des Programms, die konkreten
Schritte beim Übergang vom Kapitalismus zum
Sozialismus aufzuzeigen, nicht aber das Zukunftsbild
eines noch nicht abgeschlossenen Prozesses zu
entwerfen.
Daher sei es auch nicht
zweckmäßig, auf die von Pjatakow entwickelte
Vorstellung eines „Welt-Sownarchos" bei
Unterstellung der einzelnen nationalen
Kommunistischen Parteien unter das Zentralkomitee der
KPR(B) näher einzugehen.
Bucharin hielt
in seinem Schlußwort(36)
daran fest, daß im Mittelpunkt des Programms in viel
stärkerem Maße als dies im Entwurf der Fall wäre, der
Imperialismus stehen müßte.
Das alte Programm habe
ebenfalls keine Charakterisierung der
vorkapitalistischen Zustände enthalten. Es sei im
übrigen falsch, den Imperialismus, wie es Lenin
getan habe, als Überbau über dem Kapitalismus zu
bezeichnen. Es käme vor allem darauf an, die richtige
und zugleich realistische Perspektive der
historischen Entwicklung aufzuzeigen und sich nicht
mit der Registrierung des Bestehenden zu begnügen.
Er wandte sich erneut
scharf gegen den Standpunkt Lenins in der
„nationalen Frage" und erklärte, daß dieLosung des
„Selbstbestimmungsrechts der Völker" in einem
logischen Zusammenhang mit der Losung der
„Verteidigung des Vaterlandes" und im Widerspruch zu
den Prinzipien der „Diktatur des Proletariats"
stehen würde.
Nach
Abschluß der Programmdebatte wurde der
Kommissionsentwurf trotz der von den
Diskussionsrednern geäußerten Bedenken angenommen und
einer Redaktionskommission zur endgültigen
Formulierung überwiesen.
Der elfköpfigen
Redaktionskommission gehörten Lenin, Sinowjew,
Bucharin, Stalin, Kamenew, Sokolnikow, Pjatakow,
Preobrashenskij, Tomskij, Smidowitsch, Bubnow an(37).
Die Kommission trat zu
zwei Sitzungen am 20. und 21. März 1919 zusammen. Der
endgültige Text wurde am 22. März dem Parteikongreß
vorgelegt und von diesem einstimmig gebilligt
(38)
Karl Radek hat
in einem Kommentar (39)
auf die besonderen Wesenszüge des zweiten
Parteiprogramms von 1919 hingewiesen.
Radek betonte,
daß das Programm von der Voraussetzung ausgeht, daß
die russische Revolution den Anfang der
proletarischen Revolution bilde. Die Frage der
Bedeutung der Diktatur und des Terrorismus in der
Epoche der sozialen Revolution würden in dem Programm
offen dargelegt.
Die Rätemacht würde im
Programm auch offen anerkennen, „daß jeder Staat
unvermeidlich einen Klassencharakter tragen muß,
solange die Einteilung der Gesellschaft in Klassen
und somit auch jede Staatsmacht nicht völlig
verschwunden ist".
Radek wendet
sich gegen eine Deutung der Debatte über die
nationale Frage, nach der sich Bucharin und
Pjatakow im Gegensatz zu Lenin für eine
Expansion des Bolschewismus mit Waffengewalt
ausgesprochen hätten.
Er betont in diesem
Zusammenhang, daß die gesamte Kommunistische Partei
Rußlands in der Überzeugung einig sei, daß der
Kommunismus und die Räteform keinem anderen Volk
gewaltsam aufgedrängt werden könnten.
Sowjetrußland würde
nicht heucheln, wenn es die Unabhängigkeit der
Randstaaten anerkennen würde.
An diese Betrachtungen,
die durch die spätere tatsächliche Entwicklung
widerlegt werden sollten, knüpfte Radek die
bemerkenswerte Feststellung(40):
„Würde Sowjetrußland
mit den Waffen in der Hand die deutschen
Kommunisten, solange sie eine Minderheit in der
arbeitenden Bevölkerung Deutschlands sind, zur
Herrschaft bringen, so könnten diese sich auch
nicht allein halten. Sie würden als Fremdherrschaft
von den breiten Massen des Volkes empfunden
werden."
Anmerkungen
1) Den Ausgangspunkt
zu dieser Theorie bildete die Schrift „Was weiter?"
von Trotzkij, die mit einem Vorwort von Parvus
(Alexander Helphand) 1905 erschien. Vgl. Wolfe, a. a.
O., S. 361 ff.
2)
Zitiert nach Wolfe, a. a. O., S.
366.
3) Vgl. Berdiajew, N.:
Sinn und Schicksal des russischen Kommunismus, Luzern
1937, S. 69.
4)
Vgl.
Schieder, Th.: Imperialismus in alter und neuer
Sicht, moderne weit, 1. Jg., 1959, S. 5.
5)
Vgl. die
Analyse des Buches „Imperialismus und Weltwirtschaft"
und andere Schriften Bucharins bei Knirsch, P.: ,,Die
ökonomischen Anschauungen Nikolaj I. Bucharins,
Berlin 1959.
6)
Vgl. Plechanov, G. V.: God na Rodine
(Ein Jahr in der Heimat), Bd. I, Paris 1921, S. 233
ff.
7)
Vgl.
Lenin: Über die Aufgaben des Proletariats in der
gegenwärtigen Revolution, in: Lenin, W. I.; Werke, 4.
Ausg., Bd. 24, Ost-Berlin 1959, S. 6.
8)
Wortlaut:
Lenin, Bd. 24, a. a. O., S. 295-296; vgl. hierzu auch
die Rede Lenins, Bd. 24, a. a. O., S. 289-294.
8)
Wortlaut: Lenin, W. I.: Werke, 4. Ausg., Bd. 24,
Ost-Berlin 1959, S. 459-464.
9)
Wortlaut:
Lenin, W. I.: Werke, 4. Ausg., Bd. 24, Ost-Berlin
1959, S. 41 ff.
10)
Vgl.
Vos'moj S-ezd RKP (b). Protokoly (Achter Kongreß der
RKP (b). Protokolle), Moskau 1959, S. 524, Anmerkung
19.
11)
Wortlaut:
Lenin, Bd. 24, a. a. O., S. 269-271.
12)
Wortlaut: Lenin, Bd. 24, a. a. O., S. 282-285.
13)
Wortlaut:
Lenin, Bd. 24, a. a. O., S. 272-273.
14)
Wortlaut: Lenin, Bd. 24, a. a. 0., S. 457-481.
15)
Wortlaut: Lenin, Bd. 24, a. a. O., S.
467-481.
16)
„Materialy
po peresmotru partijnoj programmy. Sbornik statej",
Moskau 1917.
17)
Wortlaut
des am 3. (16.) August 1917 vom VI. Parteikongreß
bestätigten Sektionsbeschlusses: Sestoj S-ezd RSDRP
(B). Protokoly (Sechster Kongreß der SDAPR(B)),
Moskau 1958, S. 268-269.
18)
Lenin, W. I.: Werke, Bd. 26, Ost-Berlin 1961,
S. 137-165.
19)
Lenin,
Bd. 26, a. a. 0., S. 158.
20)
Vgl. das Zirkularschreiben des ZK der SDAPR(B) an die
örtlichen Parteiorganisationen vom 28. September 1917
in: KommunistiJeskaja partija - organizator pobedy
socialisticeskoj revoljucii, mart - oktjabr' 1917
goda. Dokumenty i Materialy (Die Kommunistische
Partei - Organisator des Sieges der sozialistischen
Revolution. März-Oktober 1917. Dokumente und
Materialien), Moskau 1961, S. 282-283.
21)
' Vgl.
Achter Kongreß, a. a. O., S. 525; KPSS v bor'be za
pobedu Velikoj Oktjabr'skoj Socialisticeskoj
Revoljucii 5 ijulja - 5 nojabrja 1917. Sbornik
Dokumentov (Die KPdSU im Kampf für den Sieg der
Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 5. Juli bis
5. November 1917. Dokumentensammlung) Moskau 1957, S.
67.
22)
Vgl. Schapiro, L.: The Origin of the Communist
Autocracy, London 1955, S. 133.
23)
Vgl.
Schapiro, a. a. O., S. 133.
24)
Wortlaut:
Lenin, W. I.: Sämtliche Werke, 2. Ausg., Bd. XXII,
Zürich 1934, S. 405-411.
25)
Vgl.
Lenin, Bd. XXII, a. a. O., S. 381-399.
26)
Lenin, Bd. XXII, a. a. O., S. 400-40
27)
Lenin,
Bd. XXII, a. a. 0., S. 402.
28)
Lenin, Bd. XXII, a. a. O., S. 396-397.
29)
Vgl. Schapiro, a. a. O., S. 135.
30)
Wortlaut: Vos'moj S-ezd RKP(b). Protokoll.
(Achter Kongreß der KPR(b). Protokolle), Moskau
1959, S. 369-389. Vgl. ferner den Entwurf
Lenins für den dritten Punkt des allgemeinpolitischen
Teils des Programms: Achter Kongreß der
KPR(B), a. a. O., S. 38.
31)
Wortlaut
der beiden Berichte: Achter Kongreß der KPR(B), a. a.
O., S. 34-64.
32)
Achter
Kongreß der KPR(B), a. a. O., S. 40.
33)
Achter Parteikongreß der KPR(B), a. a. O., S. 47.
34)
Lenin, W. I.: Socinenija (Werke), 4.
Ausg., Bd. 29, S. 124-125.
35)
Wortlaut:
Achter Parteikongreß der KPB-(B), a. a. 0., S.
107-115.
36)
Wortlaut:
Achter Parteikongreß der KPR(B), a. a. 0., S. 99-107.
37)
Vgl. Achter Parteikongreß der KPR(B), a.
a. O., S. 115.
38)
Vgl.
Achter Parteikongreß der KPR(B), a. a. O., S.
525-526.
39)
Vgl.
Radek, K.: Das Programm der Kommunistischen Partei
Rußlands, Zürich 1920.
40)
Radek, a.
a. 0., S. 14.
Editorische Hinweise
Leseauszug aus: Boris Meissner: Das Parteiprogramm
der KPdSU 1903-1961, Köln 1962, S.20-33
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