Texte zur Oktoberrevolution


I.S.K.*-Stellungnahmen zur
russischen Revolution


Leseauszug aus: Die Zimmerwalder Bewegung 1914-1919

Als am 8. November aus Rußland die ersten Nachrichten von dem Ausbruch der proletarischen Revolution und der Eroberung der Macht nach Stockholm gelangten, berief die I.S.K, alle da­selbst anwesenden Zimmerwaldianer zu einer Besprechung, um zu den Ereignissen Stellung zu nehmen. Es erschienen außer allen Mitgliedern der I.S.K. Rakowski, Radek, Charlakow und Tinew. Der Sekretär der I.S.K, verlas folgenden

Telegrammentwurf:

„An den Arbeiter- und Soldatenrat, Petrograd. Im Namen der der Zimmerwalder Internationalen Kommission angeschlossenen Parteien, die überzeugt sind, daß es nur dem Kampfe der arbeitenden Massen aller Länder gelingen kann, den Frieden und die Befreiung der Ausgebeuteten zu erwirken, grüßen wir Euch, Genossen, das ruhmreiche Petersburger Proletariat, die revolutionäre Armee. Mögen die leidenden und arbeiten­den Massen Rußlands und aller Länder Euch unterstutzen. Mögen die Völker aller Länder das Banner des Friedens und der sozialen Gleichheit, das Ihr über die blutbegossene Erde erhebt, hochhalten.

Es lebe die Internationale! E» lebe der von den arbeitenden Massen erzwungene Frieden!

Angelica Balabanoff, Carleson, Höglund, Nerman."

Rakowski meinte, die I.S.K, solle mit ihrer Stellungnahme zu den Ereignissen in Rußland zuwarten, bis sie ganz klar seien und alle Parteien in Rußland und in anderen Ländern zu ihnen Stellung genommen hätten. Auch solle die I.S.K, die russischen Parteien auffordern, sich zu einigen. Diesem Antrag widersprachen die I.S.K, und andere Teilnehmer der Besprechung.

Radek verlas sodann einen Aufruf der ausländischen Vertretung der Bolschewiki und fragte, ob die I.S.K, geneigt wäre, ihn zu unterschreiben. Diese stimmte zu. Darauf erschien im schwedischen linkssozialistischen Organ „Politiken" und wurde telegraphisch weitergegeben folgender

Aufruf.

An die Proletarier aller Länder! Arbeiter und Arbeiterinnen! In Petrograd haben am 7. November die Arbeiter und Soldaten über die Re­gierung der Kapitalisten und Junker gesiegt. Die Gewalt befindet sich in den Händen des Arbeiter- und Soldatenrates. In allen Zentren der Arbeiter­bewegung wird dasselbe geschehen sein im Moment, wo Ihr diesen Auf­ruf lest. Die Ostseeflotte, die Armee in Finnland und die große Mehrheit der Soldaten an der Front und im Hinterlande steht gewiß treu zur Fahne der Arbeiter- und Soldatenregierung.

Gestürzt ist die Regierung, die, auf den Ruinen des Zarismus vom Volke eingesetzt, dessen Interessen mit Füßen getreten hat, die das Brot ver­teuerte, um den Junkern Liebesgaben zuzuschanzen, die die Kriegswucherer nicht antastete, die den Volksmassen statt Freiheit Feldgerichte gab, die als Geisel des Ententekapitals die Arbeiter und Soldaten immer wieder in den Krieg trieb, ohne auch nur versucht zu haben, Friedensverhandlungen anzubahnen. Die Arbeiter und Soldaten Petrograds haben sie verjagt, wie sie den Zaren verjagt haben. Und ihr erstes Wort ist Friede. Sie fordern sofortigen Waffenstillstand, sofortige Friedensverhandlungen, die zu einem ehrlichen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen auf Grund des Selbst­bestimmungsrechtes der Völker führen sollen.

Arbeiter und Arbeiterinnen! An Euch richtet sich der Ruf des roten Petrograds. Ihr, denen das Gespenst des vierten Winterfeldzugs in die Augen schaut, Ihr, nach deren Söhnen, Vätern und Brüdern es die eisige Hand ausstreckt, Ihr habt jetzt das Wort. Wie heldenhaft auch die Soldaten und Proletarier Rußlands seien, sie allein können weder Brot, noch Freiheit, noch den Frieden erobern. Das Kapital, die Junker, die Generalität Rußlands, alle diese Mächte der Ausbeutung und Unterdrückung werden alle Kräfte anstrengen, um die Revolution der Arbeiter, der Sol­daten im Blut zu ersticken. Sie werden versuchen, die Städte von der Lebensmittelzufuhr abzuschneiden, die Kosaken gegen die Revolution aufzuhetzen. Gelingt ihnen das Unterdrücknngswerk, werden sie den Krieg weiter führen. Aber nicht nur von innen ist die Revolution Rußlands, ihr Friedenswerk tödlich bedroht. Die Regierungen der Zentralmächte wie die der Entente, beide sind ihre Feinde, weil sie das Werk der Befreiung der Volksmassen anbahnt. Die Zentralmächte können versuchen, den Bürger­krieg in Rußland auszunützen, um durch neue Siege den erlöschenden Kriegswillen ihrer Völker aufzufrischen. Die Ententemächte werden die russische Konterrevolution mit Geldmitteln unterstützen.

Um Eure Lebensinteressen, Proletarier aller Länder, um Euer Blut geht es. Wird die russische Revolution durch die gemeinsamen Kräfte des russischen wie des ausländischen Kapitals niedergeworfen, dann werden die Kapitalisten Euch solange von einem Kriegsfeld aufs andere schleppen, bis Ihr verblutet. Schließt Euch der russischen Revolution an! Nicht zu Sympathiekundgebungen, zum Kampfe rufen wir Euch auf. Steht auf, geht auf die Straße. Laßt die Fabriken stehen, übt mit allen Mitteln und aus allen Kräften Druck. Es darf keinen vierten Winterfeldzug geben, es darf kein Schuß mehr fallen. Es müssen sofort Friedensverhandlungen beginnen. Traut keinen Friedensphrasen. Beurteilt jede Regierung da­nach, ob sie sofortigen Waffenstillstand auf allen Fronten, ob sie sofortige Friedensverhandlungen anerkennt, ob sie sich zum Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker bekennt. Bildet überall Arbeiter- und Soldatenräte, als Organe Eures Kampfes um den Frieden!
Wir berufen die Vertreter aller Parteien, die diesen Kampf führen wollen, nach Stockholm. Fordert ungestüm Pässe für die Delegierten fordert die Befreiung der eingekerkerten Genossen, die das Vertrauen des internationalen Proletariats genießen, damit sie an der Friedensarbeit teil­nehmen können.

Es lebe der sofortige Waffenstillstand! Kein Schuß falle mehr! Zu den Friedensverhandlungen! Rückt auf zum Kampfe um den Frieden ohne Annexionen, Kontributionen, vom freien Willen der Völker geschlossen! Hoch die internationale Solidarität des Proletariats! Es lebe der Sozialismus ?

Die Ausländische Vertretung des Zentralkomitees der Bolschewikis.
Die Internationale Sozialistische Kommission. Stockholm, 8. November 1917.

Am selben Abend wurden die I.S.K, und die in Stockholm an­wesenden Zimmerwaldianer zu einer neuen Besprechung einbe­rufen. Der Sekretär der I.S.K, wies darauf hin, daß die Er­eignisse in Rußland eine sofortige Solidaritätsaktion der I.S.K, und der Parteien und Proletarier aller Länder zur Lebensbedingung für die proletarische Revolution machten. Jeder Aufschub könne dem russischen kämpfenden Volke, der ersten proletari­schen Revolution, dem ersten Versuch, Zimmerwalds Gebot zu erfüllen, unermeßlichen Schaden zufügen. In Frage kommen könne nur eine internationale Massenaktion. Jetzt oder nie mehr sollte das Manifest der 3. Zimmerwalder Konferenz veröffentlicht und sofort in alle Länder versandt werden. Alle Vorbehalte und Vorbedingungen, an die die I.S.K, bis zum Ausbruch der proletarischen Revolution sich gebunden erachtete, seien nun hinfällig geworden. Sei früher die Veröffentlichung des Manifests vor dessen Fertigung durch die Zimmerwaldianer der Ententeländer durchaus unangebracht gewesen, weil sich aus ihr Schwierig­keiten für die deutsche Partei, die österreichische Opposition und andere Organisationen ergeben könnten, so erscheine nun dieses Übel als nebensächlich im Vergleich mit den Gefahren, denen das russische Proletariat ausgesetzt wäre, wenn es vereinsamt bliebe oder sich vereinsamt fühlte. Auch für die Friedensaktion der Zimmerwalder Parteien sei der Aufruf zur unmittelbaren Massenaktion von entscheidender Bedeutung.

Die I.S.K, und die Auslandsvertretung der Bolschewiki schlössen sich dem Antrag an, der trotz der Einwendungen einzelner Ver­sammlungsteilnehmer angenommen wurde. Zugleich wurde die Herausgabe einer ausschließlich den Ereignissen in Rußland ge­widmeten Sonderausgabe der „Politiken" vereinbart, welche außer dem Manifest auch Solidaritätseiklärungen verschiedener Zimmer­waldorganisationen sowie Artikel von Carleson, Norman, Lind­hagen, Balabanoff, Rakowski und Radek enthielt. Eingeleitet war das Manifest von folgender aus Stockholm, 10. November, datierter

Erklärung der I.S.K.

An alle der Internationalen Sozialistischen Kommission angeschlossenen Parteien und Organisationen!

Genossen!

Hindernisse technisch-politischer Natur, die die Verbin­dungen zwischen einzelnen Ländern jetzt so sehr erschweren, haben uns verhindert, das von der Dritten Zimmerwalder Konferenz zu Stockholm angenommene Manifest früher zu veröffentlichen. Lag uns doch sehr daran, die formelle Zustimmung derjenigen Parteien einzuholen, deren politischer und moralischer Zustimmung wir im voraus sicher waren und in der Zuversicht auf welche das Manifest auch abgefaßt wurde. Allein die Ereignisse sind uns vorausgegangen; noch eher, als das bescheidene Zimmerwalder Manifest entstanden war, haben Proletarier kriegführender Länder durch spontane, unorganisierte Proteste und Streiks, wie in Turin, durch individuelles Märtyrertum und Heldentod, wie in der deutschen Flotte, der verblutenden Menschheit bewiesen, daß sie für den Frieden zu kämpfen und zu sterben verstehen. Der Weg und Mittel zur Erringung des Friedens sind einzig und allein der Kampf der Massen gegen das Massenschlachten, gegen das Massenelend.

Die Zimmerwalder Parteien haben stets erklärt, daß nicht sie, nicht irgendeine Instanz, nicht irgendein Kongreß oder Aufruf imstande seien, die Arbeiterklasse zu befreien, sondern daß es an den Massen, an den leidenden, ausgebeuteten, alles schaffenden und nun zur Zerstörung des von ihnen Geschaffenen und ihres eigenen Lebens verdammten Massen liegt, sich selbst und die Menschheit zu befreien. Die Zimmerwalder Parteien haben es aber stets als ihre Pflicht betrachtet, noch als sie ver­einzelt, verhöhnt und verleumdet dastanden, den Maasen den Weg zu weisen, den sie zu gehen haben.
Angesichts dessen ist es kaum von Belang, daß das Manifest erst heute erscheint und daß es bereits in Rußland und Finnland erschienen ist. Handelte es sich doch nicht darum, eine Aktion zu einer bestimmten Zeit einzuleiten., Und was die unbeschreiblichen Leiden und die Per­spektive dessen, was der Menschheit harrt, wenn dem Kriege nicht durch den Massenwillen und die Massenaktion schleunigst ein Ende gemacht wird, den Volksmassen noch nicht beigebracht hat, das hat ihnen, besonders in den letzten Monaten, mit klarer und unzweideutiger Sprache die Verlogenheit and Ohnmacht aller Erklärungen und Versuche gezeigt, welche die Friedens­frage mit anderen Mitteln als dem Klassenkampf zu lösen sich anschicken. Alle diese Erklärungen und Versuche bestätigen die Grundanschauung der Zimmerwaldianer: die Regierungen werden freiwillig keinen Frieden schließen, und wenn sie durch die endgültige Erschöpfung der Völker zum Friedensschlüsse gezwungen wären, so würde es ein Frieden zuungunsten der schwachen und kleinen Völker sein, zuungunsten des Proletariats aller Länder. Die Staatsmänner aller kriegführenden Länder sind durch den stets wachsenden Friedenswillen der Völker gezwungen vorzugeben, daß die von ihnen vertretenen Regierungen den Frieden wollen. Darum sprechen sie sogar vom Völkerfrieden, von der Abrüstung u. dgl. m. Aber sie hüten sich, ein Sterbenswort von ihren konkreten Kriegszielen zu sagen. Das beweisen sowohl die Reden der deutschen Reichskanzler wie die des Herrn Czernin, die Reden der Asquith and Lloyd George wie die der Wilson und Ribot, der Boselli, Tereschtschenko und wie sie alle heißen mögen.

Nicht viel besser sorgen für den Frieden die Sozialdiplomaten. Nach­dem die Stockholmer Konferenz endgültig gescheitert war, hat das holländ.-skandinavische Komitee der lechzenden Menschheit sein Programm mit­geteilt, das einen Versuch darstellt, die Kriegsziele der verschiedenen Regierangen za versöhnen. Die Aufnahme, die dieses Programm gehabt, läßt es in seinem wahren Lichte erscheinen. Von verschiedenen Seiten, die sich benachteiligt fühlten durch die Art, in der das Komitee die Kriegs­beate verteilte, wurde Protest erhoben! So endete die Friedensinitiative der Regierungssozialisten ... Das Friedensprogramm des früheren Sowjets wurde von der russischen Regierang ebenso wie von den Regierungen der anderen Ententeregierangen mit Hohn und Verachtung entgegengenommen. Durch die Kompromißpolitik, die seine Vertreter den Regierungen der
Entente gegenüber geführt, beraubten sie sich jedes Einflusses auf sie, währenddem dieselbe Kompromißpolitik sie außerstande setzte, im Namen des russischen Volkes an die Klassenaktion anderer Länder zu appellieren.

Was erwartete nun das hungernde, blutende Proletariat der kriegführenden Länder?

Und siehe! Da erhob sich das rassische Volk zam zweiten Mal, um den Proletariern aller Länder seine brüderliche, rettende Hand zu reichen. Um seine besten Söhne, am Brot and Heim, am Gut und Blut hat der Krieg das gemarterte rassische Volk gebracht Schamlos verraten von der Bourgeoisie, die erst vor einigen Monaten mit seinem Heldentum and Blate sich die politische Freiheit erobert hat, betrogen, entblößt, hat die russische arbeitende Masse eine Zuversicht, einen Glauben behalten, für diesen lebt, kämpft und stirbt sie: den Glauben an das internationale Pro­letariat: den Glauben an den völkerbefreienden Sozialismus. Verhöhnt and von allen Seiten bedroht, erobert das rassische Volk die Macht, um den Völkern einen Friedensvorschlag zu überbringen. Ohne Geheimdiplo­matie, ohne diplomatischen Kubhandel, durch den Waffenstillstand auf allen Fronten eingeführt, soll zum ersten Male ernst vom Frieden ge­sprochen, für den Frieden gebandelt werden.

Werden die Regierungen, die auch jetzt sich weigern würden, den Friedensweg einzuschlagen, früher oder später mit einer unerbittlichen Abrechnung der Massen zu rechnen haben, so würde das Proletariat, wenn es auch dieses Mal das russische Volk in seinem Friedensstreben nicht unterstützen würde, vor dem unerbittlichen Urteil der Geschichte eine nicht mindere Verantwortlichkeit auf sich nehmen.

Parteigenossen! Proletarier!

Vor 70 Jahren ertönte der sammelnde, mahnende Ruf der Vorläufer des proletarischen Klassenkampfes. Mit dem Schweiße der in den Fabriken ausgebeuteten Generationen wurde er ge­schrieben. Jetzt schreibt ihn das mit dem Tode ringende Leben mit dem Blute der proletarischen Generationen, das auf den Schlachtfeldern Euro­pas seit bald dreieinhalb Jahren ununterbrochen vergossen wird:

Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!

Noch mehr als nach dem Ausbruch der ersten Revolution in Rußland sah die I.S.K, nach der zweiten Revolution das Schwer­gewicht ihrer agitatorischen und organisatorischen Tätigkeit in der Hilfe für die proletarische russische Revolution. Die Zimmer­waldparteien und die proletarische öffentliche Meinung aller Länder über die Verhältnisse in Rußland aufzuklären, die Inter­essengemeinschaft zwischen dem russischen Volk und den Aus­gebeuteten allerwärts immer klarer und tiefer den Massen zum Bewußtsein zu bringen, die russischen Massen über die Stimmung und Kampftätigkeit der anderen — vor allem der kriegführenden — Völker zu unterrichten, aus den Ereignissen in der ganzen Welt die entsprechenden Schlüsse zu ziehen, um die Massen zur sozia­listischen Friedensaktion zu treiben, sie gegen den Burgfrieden wie auch gegen jede demokratische Illusion zu stimmen, ihnen stets die Notwendigkeit der Anwendung revolutionärer Kampf­mittel vor Augen zu halten — darin sah die I.S.K, ihre Aufgabe. Nach der Machtergreifung durch die russischen Arbeiter- und Bauernmassen galt es mehr als je: „Entweder tötet der Krieg die Revolution, oder die Revolution den Krieg." Alle Be­sprechungen, Zirkulare, Beschlüsse der I.S.K., die einzelnen Schritte, die von ihr unternommen und gutgeheißen wurden, waren von der Notwendigkeit einer unmittelbaren, revolutionären Massen­aktion im Einklang mit den Ereignissen in Rußland getragen.
 

Quelle: Angelica Balabanoff, Die Zimmerwalder Bewegung 1914-1919, Leipzig 1928, S.110-18

*) Die Internationale Sozialistische Kommission (I.S.K.) entstand als Zusammenschluss revolutionärer Sozialist*innen aus verschiedenen europäischen Ländern infolge der "Zimmerwalder Konferenz". Die I.S.K. ist gleichsam die Geburtszelle der 1919 gegründeten "Kommunistischen Internationale".