Texte zur Oktoberrevolution


Leo Trotzki über "Staatskapitalismus" und "Bürokratie"

Leseauszug aus: "Die verratene Revolution" (1936)

...... Unbekannten Erscheinungen gegenüber nimmt man oft zu bekannten Ausdrücken Zuflucht. Das Rätsel des Sowjetregimes hat man hinter der Etikette Staatskapitalismus verschwinden lassen wollen. Dieser Ausdruck hat den Vorteil, dass niemand genau weiß, was er eigentlich bedeutet. Ursprünglich diente der Ausdruck „Staatskapitalismus“ zur Bezeichnung aller Fälle wo der bürgerliche Staat Transportmittel oder Industrieunternehmungen unmittelbar in eigene Regie nimmt. Die Notwendigkeit solcher Maßnahmen ist an sich selbst ein Symptom dafür, dass die Produktivkräfte: über den Kapitalismus hinausgewachsen sind und ihn in der Praxis zu teilweiser Selbstverneinung nötigen. Aber mitsamt diesen Elementen der Selbstvernichtung existiert das überlebte System doch weiter als kapitalistisches System.

Theoretisch kann man sich zwar eine Lage vorstellen, wo die Bourgeoisie als Ganzes sich als Aktiengesellschaft etabliert, die vermittels ihres Staates die ganze Volkswirtschaft verwaltet. Die ökonomische Ordnung eines solchen Regimes birgt kein Geheimnis. Der einzelne Kapitalist erhält bekanntlich als Profit nicht den unmittelbar von den Arbeitern seines Betriebes erzeugten Teil des Mehrwerts, sondern nur eine seinem Kapital entsprechende Rate des im ganzen Lande erzeugten Gesamtmehrwerts, Bei integralem „Staatskapitalismus, käme das Gesetz der gleichmäßigen Profitrate nicht auf Umwegen, d.h. durch Konkurrenz zwischen den Kapitalisten zur Anwendung, sondern direkt und unmittelbar durch die Staatsbuchhaltung. Ein solches Regime hat jedoch nie existiert, und wird infolge der schweren Gegensätze unter den Besitzenden auch nie existieren, – um so weniger, als der Staat als Universalvertreter des kapitalistischen Eigentums für die soziale Revolution ein allzu verlockendes Objekt wäre.

Seit dem Kriege und besonders seit den faschistischen Wirtschaftsexperimenten versteht man unter Staatskapitalismus meistens ein System staatlicher Einmischung und Regelung. Die Franzosen benutzen in diesem Fall die viel treffendere Bezeichnung „Etatismus“ Zwischen Staatskapitalismus und Etatismus gibt es zweifellos Berührungspunkte, doch als Systeme genommen sind sie eher gegensätzlich als identisch. Staatskapitalismus bedeutet Ersetzung des Privateigentums durch Staatseigentum und bleibt eben deshalb partiell, Etatismus bedeutet – gleichgültig, ob in .Mussoliniitalien, Hitlerdeutschland, Rooseveltamerika oder im Frankreich Léon Blums – Einmischung des Staates auf der Grundlage des Privateigentums mit dem Ziel, es zu retten. Welches die Regierungsprogramme auch sein mögen, der Etatismus führt unweigerlich dazu, die Verluste des faulenden Systems von den Schultern der Starken auf die der Schwachen abzuwälzen. Er „rettet“ die kleinen Eigentümer vor dem völligen Untergang nur, soweit ihre Existenz für die Erhaltung des Großbesitzes notwendig ist. Die Planmaßnahmen des Etatismus sind nicht von den Entwicklungsnotwendigkeiten der Produktivkräfte diktiert, sondern von der Sorge um die Erhaltung des Privateigentums auf Kosten der sich gegen dieses auflehnenden Produktivkräfte. Etatismus bedeutet Bremsung der technischen Fortentwicklung, Aufrechterhaltung lebensunfähiger Betriebe, Verewigung der schmarotzenden Gesellschaftsschichten er ist mit einem Wort durch und durch reaktionär.

Die Worte Mussolinis: „Dreiviertel der italienischen Wirtschaft, Industrie- als auch Landwirtschaft. befindet sich in Händen des Staates“ (26. Mai 1934), darf man nicht wörtlich nehmen. Der faschistische Staat ist nicht Eigentümer der Unternehmungen, sondern nur Vermittler zwischen den Unternehmern. Das ist nicht dasselbe. Popolo d’Italia sagt darüber: „Der korporative Staat dirigiert und vereinheitlicht die Wirtschaft, aber er leitet, verwaltet die Wirtschaft nicht (dirige e porta alla unità l'economia, ma non fa l'economia. non gestisce), was bei Produktionsmonopol nichts anderes als Kollektivismus wäre“ (11. Juni 1936). Gegenüber den Bauern und den Kleinbesitzern überhaupt tritt die faschistische Bürokratie als gestrenger Herr auf, gegenüber kapitalistischen Magnaten als Oberbevollmächtigter. „Der korporative Staat“. schreibt richtig der italienische Marxist Feroci, „ist nichts als ein Kommis des Monopolkapitals ... Mussolini bürdet dem Staat das ganze Risiko der Unternehmungen auf und überlässt den Industriellen die Vorteile der Ausbeutung“. Hitler tritt auch in dieser Beziehung in Mussolinis Fußstapfen. Die Klassenabhängigkeit des faschistischen Staats weist dem Planprinzip Grenzen und realen Inhalt zu: nicht um Erhöhung der Macht des Menschen über die Natur im Interesse der Gesellschaft handelt es sich, sondern um die Ausbeutung der Gesellschaft im Interesse Weniger. „Wenn ich“, brüstete sich Mussolini, „in Italien – was wirklich nicht der Fall ist – Staatskapitalismus oder Staatssozialismus einführen wollte, alle notwendigen und genügenden objektiven Bedingungen ständen mir heute zur Verfügung“. Außer einer: die Enteignung der Kapitalistenklasse. Um diese Bedingung zu erfüllen, müsste der Faschismus sich auf die andere Seite der Barrikade stellen, „was wirklich nicht der Fall ist“, wie Mussolini schleunigst beteuert, und natürlich auch nie sein wird: zur Enteignung der Kapitalisten sind andere Kräfte, andere Kader und andere Führer vonnöten.

Die in der Geschichte erstmalige Konzentrierung der Produktionsmittel in den Händen des Staats wurde vom Proletariat mit der Methode der sozialen Revolution verwirklicht, und nicht von Kapitalisten mit der Methode der staatlichen Vertrustung. Schon diese kurze Analyse zeigt, wie absurd die Versuche sind, den kapitalistischen Etatismus mit dem Sowjetsystem gleichzusetzen. Jener ist reaktionär, dieses fortschrittlich.

Den Charakter einer Klasse bestimmt ihre Stellung im gesellschaftlichen System der Wirtschaft, in erster Linie ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln. In zivilisierten Gesellschaftsordnungen sind die Besitzverhältnisse in Gesetzen verankert. Die Verstaatlichung von Grund und Boden, industriellen Produktionsmitteln, Transport und Verkehr bilden mitsamt dem Außenhandelsmonopol in der UdSSR. die Grundlagen der Gesellschaftsordnung. Diese von der proletarischen Revolution geschaffenen Verhältnisse bestimmen für uns im Wesentlichen den Charakter der UdSSR, als den eines proletarischen Staates.

In ihrer vermittelnden und regulierenden Funktion, ihrer Sorge um die Erhaltung der sozialen Rangstufen und der Ausnutzung des Staatsapparates zu Privatzwecken ähnelt die Sowjetbürokratie jeder anderen Bürokratie, besonders der faschistischen. Aber es gibt auch enorme Unterschiede. Unter keinem anderen Regime außer dem der UdSSR hat die Bürokratie einen solchen Grad der Unabhängigkeit von der herrschenden Klasse erlangt. In der bürgerlichen Gesellschaft vertritt die Bürokratie die Interessen der besitzenden und gebildeten Klasse, die über unzählige Mittel verfügt, ihre Verwaltung zu kontrollieren. Die Sowjetbürokratie jedoch schwang sich über eine Klasse auf, die eben erst aus Elend und Dunkel befreit und keine Traditionen im Herrschen und Kommandieren besitzt. Während die Faschisten, nachdem sie die Futterkrippe erreichten, mit der Großbourgeoisie gemeinsame Interessen-, Freundschafts-, Ehebande usw. knüpften, macht sich die Bürokratie der UdSSR die bürgerlichen Sitten zu eigen, ohne eine nationale Bourgeoisie neben sich zu haben. In diesem Sinne muss man zugeben, dass sie etwas mehr ist als eine Bürokratie. Sie ist die einzige im vollen Sinne des Wortes privilegierte und kommandierende Schicht der Sowjetgesellschaft.

Nicht minder wichtig ist ein anderer Unterschied. Die Sowjetbürokratie expropriierte das Proletariat politisch, um seine sozialen Eroberungen mit ihren Methoden zu verteidigen. Aber bereits, dass sie in einem Lande, wo die Hauptproduktionsmittel in Staatshänden sind, die politische Macht an sich riss, schafft ein neues noch nicht dagewesenes Verhältnis zwischen der Bürokratie und den Reichtümern der Nation Die Produktionsmittel gehören dem Staat. Aber der Staat „gehört“ gewissermaßen der Bürokratie. Wenn diese noch ganz frischen Verhältnisse gegen oder ohne den Widerstand der Werktätigen sich festigten, zur Norm würden, sich legalisierten, so würden sie letzten Endes zur völligen Liquidierung der sozialen Errungenschaften der proletarischen Revolution führen. Doch jetzt davon zu reden, ist zumindest verfrüht. Das Proletariat hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Die Bürokratie hat für ihre Herrschaft noch keine sozialen Stützpunkte, will sagen besondere Eigentumsformen, geschaffen. Sie ist gezwungen, das Staatseigentum als die Quelle ihrer Macht und ihrer Einkünfte zu verteidigen. Von dieser Seite ihres Wirkens her bleibt sie immer noch ein Werkzeug der Diktatur des Proletariats.

Der Versuch, die Sowjetbürokratie als eine Klasse von „Staatskapitalisten“ hinzustellen, hält der Kritik sichtlich nicht stand, Die Bürokratie hat weder Aktien noch Obligationen. Sie rekrutiert, ergänzt, erneuert sich kraft einer administrativen Hierarchie, ohne Rücksicht auf irgendwelche besonderen, ihr eigenen Besitzverhältnisse. Der einzelne Beamte kann seine Anrechte auf Ausbeutung des Staatsapparates nicht weitervererben. Die Bürokratie genießt ihre Privilegien missbräuchlicher Weise. Sie verschleiert ihre Einkünfte. Sie tut, als existiere sie gar nicht als besondere soziale Gruppe. Die Aneignung eines enormen Anteils am Volkseinkommen durch die Bürokratie ist soziales Schmarotzertum. All das macht die Lage der kommandierenden Sowjetschicht trotz ihrer Machtfülle und trotz dem Dunstschleier der Schmeichelei im höchsten Grade widerspruchsvoll, zweideutig und unwürdig.

Die bürgerliche Gesellschaft hat in ihrer Entwicklung oft das politische Regime und die bürokratischen Kasten gewechselt, ohne ihre sozialen Grundlagen zu ändern. Gegen eine Wiederaufrichtung des Leibeigenschafts- und Zunftwesens sicherte sie die Überlegenheit ihrer Produktionsmethoden. Die Staatsmacht konnte die kapitalistische Entwicklung fördern oder hemmen, doch im allgemeinen verrichteten die Produktivkräfte auf der Grundlage des Privateigentums und der freien Konkurrenz ihr Werk für sich allein. Dahingegen sind die aus der sozialistischen Revolution hervorgegangenen Besitzverhältnisse unlösbar an den neuen Staat: ihren Träger, gebunden. Das Übergewicht der sozialistischen Tendenzen über die kleinbürgerlichen ist nicht durch den Automatismus der Wirtschaft gesichert – bis dahin ist es noch weit – sondern durch politische Diktaturmaßnahmen. Der Charakter der Wirtschaft hängt somit völlig von dem der Staatsmacht ab.

Ein Zusammenbruch des Sowjetregimes würde unweigerlich einen Zusammenbruch der Planwirtschaft und damit die Abschaffung des staatlichen Eigentums nach sich ziehen. Die Zwangsbindung der Trusts untereinander und zwischen den Fabriken eines Trusts würde sich lockern. Die erfolgreichsten Unternehmungen würden sich beeilen, selbständige Wege zu gehen. Sie könnten sich in Aktiengesellschaften umwandeln oder eine andere transitorische Eigentumsform finden, etwa mit Gewinnbeteiligung der Arbeiter, Gleichzeitig und noch leichter würden die Kolchosen zerfallen. Der Sturz der heutigen bürokratischen Diktatur, wenn keine neue sozialistische Macht sie ersetzt, wäre also gleichbedeutend mit einer Rückkehr zu kapitalistischen Verhältnissen bei katastrophalem Rückgang von Wirtschaft und Kultur.

Ist aber die sozialistische Macht zur Erhaltung und Entwicklung der Planwirtschaft noch unbedingt nötig, so wird die Frage, auf wen sich die heutige Sowjetmacht stützt und in welchem Masse der sozialistische Charakter ihrer Politik gesichert ist, um so wichtiger. Auf dem 11. Kongress im März 1922 sagte Lenin gleichsam zum Abschied von der Partei zur kommandierenden Schicht: „Die Geschichte kennt alle möglichen Sorten von Metamorphosen: sich auf Überzeugungstreue, Ergebenheit und sonstige prächtige seelische Eigenschaften verlassen – das sollte man in der Politik ganz und gar nicht ernst nehmen.“ Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Im Laufe der verflossenen anderthalb Jahrzehnte hat die Macht ihre soziale Zusammensetzung noch gründlicher als ihre Ideen zu verändern versucht. Da die Bürokratie von allen Schichten der Sowjetgesellschaft ihre eigene soziale Frage am besten gelöst hat und mit dem Bestehenden vollauf zufrieden ist, bietet sie für eine sozialistische Richtung ihrer Politik keinerlei subjektive Garantien mehr. Sie verteidigt weiter das Staatseigentum, nur insofern sie das Proletariat fürchtet. Diese heilsame Angst wird genährt und aufrechterhalten durch die illegale Partei der Bolschewiki-Leninisten, die den bewusstesten Ausdruck der sozialistischen Tendenz gegen die bürgerliche Reaktion darstellt, von welcher die thermidorianische Bürokratie ganz und gar durchdrungen ist. Als bewusste politische Kraft hat die Bürokratie die Revolution verraten. Aber die siegreiche Revolution ist zum Glück nicht nur Programm und Banner, nicht nur ein Ensemble politischer Einrichtungen, sondern auch ein System sozialer Beziehungen. Es verraten ist wenig, man muss es auch noch stürzen, Die Oktoberrevolution ist von der herrschenden Schicht verraten, aber noch nicht gestürzt. Sie besitzt eine große Widerstandskraft, die zusammenfällt mit den geschaffenen Eigentumsverhältnissen, der lebendigen Kraft des Proletariats, dem Bewusstsein seiner besten Elemente, der auswegslosen Lage des Weltkapitalismus, der Unvermeidlichkeit der Weltrevolution.

Quelle: Leo Trotzki: Die verratene Revolution, (russ.1936), dt. Zürich 1957  S. 238 - 245, übersetzt von Walter Steen alias Rudolf Klement.