Texte zur Oktoberrevolution


Die bürgerlich-demokratische Februarrevolution

Der Sturz des Zarismus und die Doppelherrschaft

Zwei Verschwörungen

In den letzten Jahren seines Bestehens zeigte sich die ganze Fäulnis und Zersetzung des Zarismus. Während des Krieges war der Scharlatan Grigorij Rasputin, ein sibirischer Bauern­sohn, beim Zarenhof zu großem Einfluß gelangt. In seiner Jugend war er Pferdedieb gewesen und zog dann mit Mönchen, Bettlern und Bet­schwestern von Kloster zu Kloster. Rasputin gab sich als »Wahrsager« aus und wurde bei unwissenden und religiösen Leuten, besonders bei­den Frauen, sehr populär. Gerüchte über ihn und über seine »Wunder« drangen bis an den Zarenhof. Der Zar und die Zarin waren sehr aber­gläubisch. Die Zarin, eine verbohrte Fanatikerin, berief Rasputin an den Hof. Sie hoffte, daß er den unheilbar kranken Thronfolger Alexe], werde heilen können. Der gewandte und unverschämte Rasputin ge-1 wann großen Einfluß auf die Zarin und durch sie auch auf den Zaren., Die Zarin zwang Nikolaus II., ständig den Ratschlägen Rasputins zM folgen, dem »Gott alles offenbart«. Von Rasputin an den Zaren ge-i schriebene, von Fehlern strotzende Zettel bewirkten die Ernennung und Verabschiedung von Ministern. Mit seinem Zutun erhielten dunkle Existenzen, Spekulanten, Gauner und ausländische Spione,, einflußreiche Posten, vorteilhafte Konzessionen, riesige Subsidierr, und einträgliche Aufträge als Kriegslieferanten. In der Rasputin-' Ära fanden der Obskurantismus, die Barbarei, die Geistesarmut und die moralische Fäulnis des Zarenregimes ihren abscheulichsten Ausdruck.

Die Niederlagen an der Front und die revolutionäre Situation im Lande ließen in den Regierungskreisen eine Panikstimmung aufkom­men. Um die anwachsende Revolution zu unterdrücken, wollten der Zar und die Hofkamarilla einen Separatfrieden mit Deutschland schließen. Die Vorbereitungen zu den Verhandlungen mit Deutschland betrieb die Zarin durch Vermittlung ihrer deutschen Verwandten. Rasputin war gleichfalls Anhänger eines Separatfriedens mit Deutsch­land.

Die Gerüchte über den sich im geheimen vorbereitenden Separat­frieden mit Deutschland sowie die Unfähigkeit des Zarismus, der revo­lutionären Bewegung im Lande Herr zu werden, verstärkten die oppo­sitionelle Stimmung der Bourgeoisie. Seit Ende 1915 wurde in der Reichsduma immer schärfere Kritik an der Regierung geübt. Wie der rechtsstehende Abgeordnete Schulgin erklärte, war diese Kritik an der Zarenmacht lediglich ein Versuch, die »angehäufte revolutionäre Energie in Worte umzuwandeln«, »die Revolution durch Resolutionen zu ersetzen«, aber immerhin war in den bürgerlichen Kreisen das frü­here Vertrauen zur Zarenmacht geschwunden. Die unsicher gewor­dene Zarenregierung wechselte die Minister in einem fort. Im Laufe des Krieges gab es 4 neue Ministerpräsidenten, 6 Innenminister, 4 Kriegsminister, 3 Außenminister, 4 Landwirtschaftsminister und 4 Justizminister. Wie man in der Duma zu sagen pflegte, »konnte man sich gar nicht einmal die Gesichter der gestürzten Minister merken«.

Im November 1916, als sich die politische Lage äußerst verschärft hatte, trat die IV. Reichsduma nach langer Unterbrechung wieder zu­sammen. Die revolutionäre Krise im Lande wuchs mit katastrophaler Geschwindigkeit an. Die herrschenden Klassen waren nicht mehr imstande, nach den alten Methoden zu regieren, und die Werktätigen wollten nicht mehr auf die alte Art weiterleben. Das Polizeideparte­ment kam in seinem Bericht über die politische Lage im Lande zu fol­gendem Schluß: »Die oppositionelle Stimmung hat gegenwärtig in den breiten Massen ein weit größeres Ausmaß erreicht als in der Zeit der Wirren von 1905 bis 1906.«

Sogar die Großfürsten und die Hofaristokratie, die das Herannahen des völligen Zusammenbruchs des Zarismus spürten, forderten die Entfernung Rasputins, den sie für die Hauptursache allen Unglücks im Lande hielten. In der Nacht zum 18. Dezember 1916 wurde Rasputin von Verschwörern, unter denen sich auch Verwandte des Zaren befanden, getötet. Sein Leichnam wurde durch ein Eisloch in die Newa geworfen. Aber die Ermordung Rasputins konnte selbstverständlich die Lage im Lande nicht ändern. Die Zarenregierung traf Anstalten zur Auflösung der IV. Reichsduma sowie zum entschlossenen Vor­gehen gegen die revolutionären Massen. Der Plan der Zarenregierung lief darauf hinaus, nach Abschluß eines Separatfriedens und Auf­lösung der Duma den Hauptschlag gegen die Arbeiterklasse zu führen. In der Hauptstadt sollte rechtzeitig Militär mit Artillerie zusammen­gezogen werden. Die Kriegsbetriebe sollten militarisiert und die Arbei­ter dadurch den Kriegsgesetzen unterstellt werden. Der Petrograder Mi­litärkreis, der bisdahin zur Nordfront gehört hatte, wurde als selbständi­ger Militär kreis ausgesondert und an seine Spitze Chabalow, einer der re­aktionärsten Generale, gestellt.DiePetrograderPolizei wurde auf Kriegs­stand übergeführt und mit Maschinengewehren ausgerüstet. Der ehe­malige Innenminister Maklakow forderte schärfste Maßnahmen gegen die revolutionäre Bewegung und schrieb an den Zaren, daß »die Ordnung im Staate um jeden Preis wiederhergestellt werden und die Gewißheit am Siege über den inneren Feind bestehen müsse, der schon seit langem gefährlicher, erbitterter und dreister geworden sei als der äußere Feind«.

Die Verschwörung des Zarismus gegen die Revolution fiel zeitlich mit einer anderen, in den Kreisen der imperialistischen Bourgeoisie und der Generalität vorbereiteten Verschwörung zusammen. Um der Revolution vorzubeugen, entschlossen sich die Verschwörer aus den Kreisen der Bourgeoisie, die jede Hoffnung auf eine Einigung mit dem Zaren verloren hatten, zu einer Palastrevolution. Sie wollten sich des Zuges bemächtigen, in dem der Zar aus dem Hauptquartier (in Mogi-lew) nach Zarskoje Selo fuhr, und den Zaren zwingen, zugunsten seines Sohnes Alexej auf den Thron zu verzichten. Bis zur Volljährigkeit Alexejs sollte der Bruder des Zaren, Michail Romanow, ein Anhänger der »englischen Orientierung«, zum Regenten ernannt werden. An der Vorbereitung der Palastrevolution nahmen auch die englisch-franzö­sischen Imperialisten teil, die den Abschluß eines Separatfriedens des Zaren mit Deutschland befürchteten.

Aber weder der Zarismus noch die Bourgeoisie führten ihre Ver­schwörung zu Ende. Die Verschwörungen konnten die Revolution nicht mehr aufhalten. Die Arbeiterklasse und die in den Soldatenrock gekleidete Bauernschaft durchkreuzten diese Pläne durch ihre revolu­tionären Massenaktionen.

Der Aufstand in Petrograd

Anfang 1917 hatte sich die allgemeine Krise im Lande äußerst verschärft. Die Eisenbahnen stellten den Güter­verkehr fast vollständig ein. Die Fabriken und Werke bekamen weder Rohstoffe noch Brennmaterialien und mußten stillgelegt werden. Die Lebensmittelversorgung wurde ein brennendes politisches Pro­blem. Am Jahrestag des Blutigen Sonntags, am 9. Januar 1917, fand in Petrograd eine große Demonstration gegen den Krieg statt. Zu ebensolchen Demonstrationen kam es in Moskau, Baku, Nishnij-Nowgorod und in anderen Städten. In Moskau zogen 2000 Arbeiter mit rotenFahnen und der Losung »Nieder mit demKrieg!« auf die Straße. Berittene Polizei trieb die Demonstranten auseinander. In mehreren Städten brachen Streiks aus. In einigen Städten begann die Masse die Brotläden zu stürmen. Die bestürzte Regierung verschärfte die Re­pressalien. Um die Entwicklung der Revolution aufzuhalten, forder­ten die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre die Arbeiter auf, einen Umzug zum Schutz der Reichsduma zu veranstalten. Aber am Tag der Eröffnung der Duma, am 14. Februar, ging ein großer Teil der Ar­beiter, dem Aufruf der Bolschewiki folgend, auf die Straße mit den Losungen: »Nieder mit der Selbstherrschaft!« und »Nieder mit dem Krieg!«

Besonders rasch stieg in der zweiten Februarhälfte die revolutionäre Bewegung in Petrograd an. Am 18. Februar traten 30000 Arbeiter der Putilow-Werke in den Streik.

Am Morgen des 23. Februar zogen die Putilow-Arbeiter auf die Straße. Den Demonstranten schlossen sich die Arbeiter anderer Be­triebe an sowie die Frauen aus den Schlangen vor den Brotläden. Das Petrograder Komitee der Bolschewiki hatte dazu aufgerufen, den In­ternationalen Frauentag am 23. Februar (8. März n. St.) durch einen politischen Massenstreik zu begehen. An diesem Tag streikten 90000 Arbeiter und Arbeiterinnen. Der politische Streik begann in eine all­gemeine politische Demonstration gegen die Zarenherrschaft umzu­schlagen.

Am 24. Februar streikten schon 200 000 Arbeiter. Überall fanden revolutionäre Meetings statt. Die Polizei hatte die Newabrücken be­setzt, aber die Arbeiter zogen übers Eis in die Innenstadt. Die politi­schen Streiks in den einzelnen Stadtteilen gingen am 25. Februar in den politischen Generalstreik der Arbeiter von ganz Petrograd über. Der Befehlshaber des Petrograder Militärkreises bekam aus dem Hauptquartier die Anweisung des Zaren: »Ich ordne an, mit den Un-uhen in der Hauptstadt schon morgen Schluß zu machen.« Die Polizei eröffnete von den Dächern Maschinengewehrfeuer auf die Demon-trationszüge. Auf den Straßen und Plätzen im Stadtinnern waren Truppenteile aufgestellt. Die Petrograder Gefängnisse füllten sich mit verhafteten Bolschewiki und Arbeitern. Auch die Mitglieder es Petrograder Komitees der Bolschewiki wurden verhaftet. Die Leitung des Aufstands lag in jenen Tagen in der Hand des Büros es Zentralkomitees. An der Spitze dieses Büros stand Genosse Molotow.

W.M.Molotow, der im Jahre 1915 in das Gouvernement Irkutsk erschickt worden war, war 1916 aus der Verbannung geflüchtet und nach Petrograd zurückgekehrt, wo er auf Weisung Lenins in das Russische Büro des Zentralkomitees der Bolschewiki kooptiert wurde, das die Vorbereitung zur Februarrevolution leitete. Am 25. Februar 1917 erschien das letzte Flugblatt des Petrograder Komitees der Bolschewiki vor Ausbruch der Revolution. Dieses von Molotow redigierte Flugblatt schloß mit der unmittelbaren Aufforderung zum Aufstand: »Vor uns liegt Kampf, der Sieg ist uns gewiß! Tretet alle unter die roten Fahnen der Revolution! Nieder mit der Selbst­herrschaft !«

Am 26. Februar ging der Wiborger Stadtteil in die Hände der auf­ständischen Arbeiter über. Das Wiborger Komitee der Bolschewiki forderte die Arbeiter auf, sich der Waffenlager zu bemächtigen, die Polizisten zu entwaffnen und sich selbst zu bewaffnen. Zur gleichen Zeit verstärkten die Arbeiter die Agitation unter den Soldaten. Sie drangen in die Kasernen ein und riefen die Soldaten auf, sich mit den Arbeitern zu vereinigen. Am Morgen des 26. Februar hatten noch einige Truppenteile auf das Volk geschossen, aber schon am Nachmittag schössen die Soldaten nicht mehr auf die Arbeiter, sondern auf die berittene Polizei, als diese über die Arbeiter herfiel. Bei der Agitation zum Übergang der Soldaten auf die Seite des Volkes spielten die Arbeiterinnen eine große Rolle. Sie wandten sich mit flammenden Worten an die Soldaten und überredeten sie, den Arbeitern beim Sturz der allen verhaßten Selbstherrschaft zu Hilfe zu kommen.

Am 27. Februar begannen in Petrograd die Truppen auf die Seite 'es aufständischen Volkes überzugehen. Die Soldaten des Wolhyni-schen und des Litauischen Regiments vereinigten sich mit den Arbeitern des Wiborger Stadtteils. Die Arbeiter bemächtigten sich des Arsenals, in dem 40000 Gewehre gelagert waren, und bewaffneten sich.

General Chabalow verhängte über Petrograd den Belagerungszu­stand. Aber der Zarismus war schon nicht mehr imstande, die Revolu­tion aufzuhalten. Der Vorsitzende der Reichsduma, Rodsjanko, sandte in diesen Tagen ins Hauptquartier (Mogilew) an den Zaren ein Tele­gramm nach dem anderen, in denen er ihn beschwor, dem Volke Zu­geständnisse zu machen, um »das Vaterland und die Dynastie zu ret­ten«. Aber der Zar, der die Duma für den Hauptherd der Revolution hielt, verordnete am 26. Februar durch einen Erlaß die Auflösung der Duma. Die Dumaabgeordneten fügten sich zwar dem Erlaß des Zaren, blieben jedoch im Taurischen Palais.

Im Hauptquartier liefen beim Zaren immer wieder beruhigende Tele­gramme der Zarin ein: »Das Ganze ist eine Lausbüberei!« schrieb sie, »junge Burschen und Mädels laufen herum und schreien, daß sie kein Brot hätten, bloß um Unruhe anzustiften.« Der Zar kommandierte Truppen von der Front nach Petrograd. Als aber der Transportzug unter dem Kommando des Generals Iwanow bis Zarskoje Selo gelangt war, verbrüderten sich die Truppen mit den revolutionären Soldaten und wollten den General verhaften. Der aus dem Hauptquartier abgegan­gene Sonderzug des Zaren kam bis zur Station Dno und mußte nach Pskow abschwenken, wo sich der Stab der Nordfront befand. Überall gingen die Truppen auf die Seite der Revolution über.

Die Bildung des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten

Am 27. Februar (12. März) hatte die Revolution gesiegt.

Die bewaffneten Arbeiter und Soldaten befreiten die politischen Häftlinge aus den Gefängnissen. Die siegreichen Arbeiter und Solda­ten zogen zum Taurischen Palais, in dem sich die vom Zaren aufge­löste Duma befand. Kaum waren die Kämpfe zu Ende, so begab sich Genosse Molotow als Mitglied des Russischen Büros des Zentral­komitees der Bolschewiki in das Palais. Die Idee der Sowjets lebte im Bewußtsein der Massen noch seit der Revolution von 1905, und sie ver­wirklichten diese Idee gleich nach dem Sturz des Zarismus. Während auf den Straßen noch gekämpft wurde, wählten die Belegschaften der Werke und Fabriken bereits die ersten Arbeiterdeputierten in den Sowjet. Genosse Molotow schickte zu den Regimentern der Garni­son Soldaten, die der bolschewistischen Partei angehörten, und beauf tragte sie, bei jedem Truppenteil die Wahlen der Deputierten zum Sowjet zu organisieren.

So entstand zum Unterschied von 1905, wo nur Sowjets der Arbeiter­deputierten geschaffen wurden, im Februar 1917 der vereinigte Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Die erste Sitzung des Petro­grader Sowjets fand am Abend des 27. Februar statt.

An der Spitze des Petrograder Sowjets und seines Exekutivkomi­tees standen Vertreter der Paktiererparteien, Menschewiki und Sozial­revolutionäre. Auf das Ergebnis der Wahlen zu den Sowjets wirkte sich der Umstand aus, daß sich die meisten Führer der bolschewistischen Partei im Gefängnis und in der Verbannung befanden. Der Zarismus hatte die Führer der bolschewistischen Partei aus der Mitte der Ar­beiterklasse herausgerissen: Lenin war in der Emigration, Stalin in Sibirien in der Verbannung. Die Menschewiki hingegen spazierten frei umher. Sie betrogen mit ihren Freiheitslosungen die Arbeiter und Soldaten und nahmen als deren Vertreter die Deputiertensitze in den Sowjets ein. Auch die Wahlordnung erleichterte den Mensche­wiki und den Sozialrevolutionären, in den Sowjets die Mehrheit zu erhalten: während die Großbetriebe auf je 1000 Arbeiter einen Deputierten entsandten, schickten die Kleinbetriebe mit weniger als 1000 Arbeitern ebenfalls je einen Deputierten in den Sowjet. Auf diese Weise erhielten die Großbetriebe, in denen der Einfluß der Bolschewiki am stärksten war, in den Sowjets ebensoviel Sitze wie die Kleinbetriebe, in denen die Menschewiki den größten Einfluß hatten. Die Garnisonsoldaten, vorwiegend Bauern im Sol­datenrock, schickten hauptsächlich Sozialrevolutionäre oder diesen Nahestehende in die Sowjets.

Das Provisorische Komitee der Reichsduma

Am 27. Februar bildeten die bürgerlichen Deputierten der Reichsduma gemäß einer hinter den Kulissen getroffenen Vereinbarung mit den Parteiführern der Men­schewiki und der Sozialrevolutionäre ein Provisorisches Komitee der Reichsduma unter der Leitung von Rodsjanko, dem Vorsitzenden der IV. Duma. Dieser knüpfte Verhandlungen mit dem Hauptquartier des Zaren an und bemühte sich, die Einwilligung Nikolaus' II. zur Bildung einer vor der Duma verantwortlichen Regierung zu erlangen. Die Bourgeoisie versuchte immer noch, die Monarchie zu retten. Wie Ge­nosse Stalin bei der Beurteilung der Haltung der Bourgeoisie in den Tagen des Februarumsturzes schrieb, »wollte die Bourgeoisie eine kleine Revolution, um einen großen Krieg führen zu können«. Vor allem verfügte das Provisorische Komitee der Reichsduma die unverzügliche Rückkehr der Soldaten in die Kasernen und befahl ihnen, den Offizie­ren Gehorsam zu leisten. Die Vertreter der Soldaten legten im Sowjet der Arbeiterdeputierten gegen diese Verfügung Protest ein. Darauf erließ der Sowjet unter dem Druck der Soldatenmassen den Befehl Nr.1 über die Rechte der revolutionären Soldaten. Auf Grund dieses Befehls wurden bei allen Truppenteilen der Petrograder Garnison wählbare Soldatenkomitees eingeführt und die Anrede der Offiziere und Generale mit »Euer Wohlgeboren«, »Euer Exzellenz« u.a.m. aufgehoben. Den Offizieren wurde die Anrede der Soldaten mit dem erniedrigenden »Du« verboten. Der Befehl setzte die völlige Gleich­berechtigung der Soldaten und Offiziere in politischen und zivilen Fragen fest.

Der Befehl Nr. 1 hatte große Bedeutung für die Organisierung der revolutionären Kräfte der Armee und für den endgültigen Übergang der Front auf die Seite der Revolution.

Der Sieg der Revolution im Lande

Bald nach der Umwälzung in Pe­trograd siegte die Revolution im ganzen Lande. Am 27. Februar wandte sich die Moskauer Organisation der Bolschewiki an die Arbeiter und Soldaten mit dem Aufruf, die Revolution in Petrograd zu unterstützen. Am Morgen des 28. Februar traten die Arbeiter der größten Betriebe in den Streik und zogen auf die Straße. Ihnen schlossen sich die Solda­ten der Moskauer Garnison an. Am Abend des 1. März wurden die Bol­schewiki, darunter F.E.Dsershinskij, von den Arbeitern aus den Ge­fängnissen befreit.

Der Sieg der Revolution in Petrograd war auch für andere Städte das Signal zum Aufstand gegen den Zarismus. Die Arbeiter des Sormowo-Werks und anderer Betriebe traten in den Generalstreik, befrei­ten die politischen Häftlinge aus den Gefängnissen, entwaffneten die Polizisten und zogen vor die Kasernen, um sich mit den Soldaten zu verbrüdern.

Am 2. März begann in Tula der Aufstand der Arbeiter der Patronen-und Waffenwerke. Die Arbeiter schufen Sowjets und verhafteten die Vertreter der Zarenmacht.

Ein ebensolches Bild bot die Februar-März-Umwälzung im ganzen übrigen Rußland. Wie Lenin schrieb, kippte der blut- und schmutz­triefende Karren der Romanow-Monarchie mit einem Schlag um.

Die Provisorische Regierung

Die Revolution wurde von den Arbei­tern und den Bauern im Soldatenrock vollführt, aber die Früchte des Sieges kamen nicht ihnen zugute. In der Nacht zum 2. März verstän­digten sich die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki hinter dem Rücken der Bolschewiki mit den Dumaleuten über die Bildung einer neuen bürgerlichen Regierung. Die Sozialrevolutionäre und die Men­schewiki waren der Ansicht, daß die Revolution bereits beendet sei und daß die Hauptaufgabe in der Bildung »einer normalen« bürgerlichen Re­gierung bestehe. Am Morgen des 2. März wurde die Zusammensetzung der unter dem Vorsitz des Großgrundbesitzers Fürsten Lwow gebildeten Provisorischen Regierung bekanntgegeben. Der Regierung gehörten an: der Geschichtsprofessor Miljukow,  Führer der Kadettenpartei -/ Außenminister; der Fabrikbesitzer und Bankinhaber Gutschkow, Führer der Oktobristen und Leiter des Kriegsindustrie-Komitees — Kriegs- und Marineminister; der Textilfabrikant Konowalow, Pro-gressist — Handels- und Industrieminister; der Zuckerfabrikant und Millionär Tereschtschenko — Finanzminister. Unter den elf Ministern gab es nur einen »Sozialisten«: den Volkssozialisten und späteren Sozial­revolutionär Kerenskij, von Beruf Advokat. Er erhielt das unbedeu­tendste Portefeuille — das Justizministerium.

»Diese Regierung stellt kein zufälliges Häuflein von Menschen dar. Es sind die Vertreter einer neuen Klasse, die in Rußland zur politi­schen Macht aufgestiegen ist, der Klasse der kapitalistischen Guts­besitzer und der Bourgeoisie, die unser Land wirtschaftlich seit langem lenkt . . .«, so charakterisierte Lenin diese Regierung in seinem ersten »Briefe aus der Ferne«. (Lenin, Ausgew. Werke in zwei Bänden, t Bd.I, S.864.)

Die ersten Schritte der neuen bürgerlichen Regierung waren auf die Erhaltung der Monarchie gerichtet. Hinter dem Rücken der Petro­grader Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten begaben sich Gutschkow und Schulgin im Namen der Provisorischen Regierung nach Pskow. Sie sollten den gestürzten Zaren zur Thronentsagung und zur Übergabe der Macht an seinen Sohn Alexej bewegen. Der Zar wil­ligte in die Thronentsagung zugunsten seines Bruders Michail ein. Die Bourgeoisie war bereit, auch diesen neuen Zaren anzuerkennen. Aus Pskow nach Petrograd zurückgekehrt, wandte sich Gutschkow mit einer Rede an die Eisenbahner. Er verlas das Manifest über die Ab­dankung des Zaren Nikolaus II. und schloß seine Rede mit dem Ruf: »Es lebe der Imperator Michail!« Die Arbeiter forderten die sofortige Verhaftung Gutschkows und erwiderten entrüstet mit dem Sprichwort: »Der Meerrettich ist nicht weniger bitter als der Rettich.«

Als die Provisorische Regierung erkannte, daß die Monarchie nicht zu retten war, schickte sie eine Abordnung zu Michail Roma­now mit der Bitte, ebenfalls auf den Thron zu verzichten und die Macht an die Provisorische Regierung zu übergeben. Am 3. März unterzeichnete Michail Romanow die Abdankungsurkunde.

Die Klassenbedeutung der Doppelherrschaft

Gleich von den ersten Tagen der Revolution an gab es im Lande eine Doppelherrschaft. Es bestanden gleichzeitig zwei Gewalten: die Diktatur der Bourgeoisie (Provisorische Regierung) und die revolutionär-demokratische Dik­tatur des Proletariats und der Bauernschaft (Sowjets der Depu­tierten).

Nach dem Sieg über den Zarismus wurden in allen Städten Ruß­lands und selbst in den entlegensten und zurückgebliebensten Winkeln des Landes Sowjets der Arbeiterdeputierten gebildet. Etwas später, in der zweiten Hälfte des März, entstanden auch Sowjets der Bauern­deputierten. Ursprünglich war der Petrograder Sowjet der Arbeiter­und Soldatendeputierten das allrussische Zentrum der Sowjets. Die Sowjets bildeten faktisch eine zweite Regierung. In den Händen der Sowjets befanden sich die bewaffneten Kräfte der Revolution. Die be­waffneten Arbeiter bildeten Abteilungen der Roten Garde. Die Sowjets genossen das ungeteilte Vertrauen und die Unterstützung der Armee und der werktätigen Massen. Aber die Sowjets lieferten die ganze Staatsmacht freiwillig an die Bourgeoisie und deren Provisorische Re­gierung aus.

»Klassenmäßig liegt die Quelle und die Bedeutung dieser Doppel­herrschaft darin«, schrieb Lenin, »daß die russische Revolution vom März 1917 nicht nur die gesamte Zarenmonarchie hinweggefegt, nicht nur der Bourgeoisie die ganze Macht übergeben hat, sondern daß die Revolution auch dicht an die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft herangekommen ist. Gerade eine solche Diktatur (d.h. eine Staatsmacht, die sich nicht auf das Gesetz stützt, sondern auf die unmittelbare Macht der bewaffneten Bevölke­rungsmassen), und zwar gerade der genannten Klassen, bildet der Petrograder Sowjet sowie die anderen örtlichen Sowjets der Arbeiter­und Soldatendeputierten.« (Lenin, Ausgew. Werke in zwei Bänden, Bd. II, S. 19.)

Die Doppelherrschaft in Rußland von 1917 erklärte sich daraus, daß Rußland ein kleinbürgerliches Land war. Während der Revolution waren Millionen in der Politik unerfahrener Menschen zum politischen Leben erwacht. Diese kleinbürgerliche Woge brachte die Parteien der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre an die Oberfläche des politischen Lebens. Und diese Parteien begannen mit der Bourgeoisie zu paktieren.

Die Bourgeoisie als Klasse war besser organisiert als die Arbeiter und Bauern, die keine solchen legalen Organisationsmöglichkeiten hatten wie die Bourgeoisie. Nach 1905 und besonders während des Krieges vermochte die Kapitalistenklasse sich einen Apparat für ihre künftige Macht vorzubereiten, und deshalb konnte sie diesen bei Be­ginn der Revolution ohne weiteres verwenden.

Auch im Proletariat hatte sich die kleinbürgerliche Schicht ver­größert, da viele Kleineigentümer, Kleingewerbetreibende, Laden­besitzer und Kulaken in die Betriebe gegangen waren, um sich dadurch vom Militärdienst zu drücken. Diese kleinbürgerliche Arbeiterschicht und die in Rußland nur kleine Gruppe der »Arbeiteraristokratie« (der höchstbezahlten Arbeiter) bildeten die Hauptstütze der Men­schewiki und der Sozialrevolutionäre.

Der politisch reifste und klassenbewußteste Teil des Proletariats, der in der bolschewistischen Partei organisiert war, befand sich wäh­rend des Krieges größtenteils in den Gefängnissen, in der Verbannung und an der Front.

Die früher vom Zarismus niedergehaltenen Milhonenmassen der Arbeiter, Soldaten und Bauern brachten der Provisorischen Regie­rung eine unbewußt-vertrauensselige Haltung entgegen, indem sie sie für eine durch die Revolution.

Editorische Hinweise

K.W. Basilewitsch, Geschichte der UdSSR, Teil 3, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1950, S.144-154