Zwei
Verschwörungen
In den letzten Jahren
seines Bestehens zeigte sich die ganze Fäulnis und
Zersetzung des Zarismus. Während des Krieges war der
Scharlatan Grigorij Rasputin, ein sibirischer
Bauernsohn, beim Zarenhof zu großem Einfluß gelangt.
In seiner Jugend war er Pferdedieb gewesen und zog
dann mit Mönchen, Bettlern und Betschwestern von
Kloster zu Kloster. Rasputin gab sich als »Wahrsager«
aus und wurde bei unwissenden und religiösen Leuten,
besonders beiden Frauen, sehr populär. Gerüchte über
ihn und über seine »Wunder« drangen bis an den
Zarenhof. Der Zar und die Zarin waren sehr
abergläubisch. Die Zarin, eine verbohrte
Fanatikerin, berief Rasputin an den Hof. Sie hoffte,
daß er den unheilbar kranken Thronfolger Alexe],
werde heilen können. Der gewandte und unverschämte
Rasputin ge-1 wann großen Einfluß auf die
Zarin und durch sie auch auf den Zaren., Die Zarin
zwang Nikolaus II., ständig den Ratschlägen Rasputins
zM folgen, dem »Gott alles offenbart«. Von
Rasputin an den Zaren ge-i schriebene, von
Fehlern strotzende Zettel bewirkten die Ernennung und
Verabschiedung von Ministern. Mit seinem Zutun
erhielten dunkle Existenzen, Spekulanten, Gauner und
ausländische Spione,, einflußreiche Posten,
vorteilhafte Konzessionen, riesige Subsidierr, und
einträgliche Aufträge als Kriegslieferanten. In der
Rasputin-' Ära fanden der Obskurantismus, die
Barbarei, die Geistesarmut und die moralische Fäulnis
des Zarenregimes ihren abscheulichsten Ausdruck.
Die Niederlagen an der
Front und die revolutionäre Situation im Lande ließen
in den Regierungskreisen eine Panikstimmung
aufkommen. Um die anwachsende Revolution zu
unterdrücken, wollten der Zar und die Hofkamarilla
einen Separatfrieden mit Deutschland schließen. Die
Vorbereitungen zu den Verhandlungen mit Deutschland
betrieb die Zarin durch Vermittlung ihrer deutschen
Verwandten. Rasputin war gleichfalls Anhänger eines
Separatfriedens mit Deutschland.
Die Gerüchte über den
sich im geheimen vorbereitenden Separatfrieden mit
Deutschland sowie die Unfähigkeit des Zarismus, der
revolutionären Bewegung im Lande Herr zu werden,
verstärkten die oppositionelle Stimmung der
Bourgeoisie. Seit Ende 1915 wurde in der Reichsduma
immer schärfere Kritik an der Regierung geübt. Wie
der rechtsstehende Abgeordnete Schulgin erklärte, war
diese Kritik an der Zarenmacht lediglich ein Versuch,
die »angehäufte revolutionäre Energie in Worte
umzuwandeln«, »die Revolution durch Resolutionen zu
ersetzen«, aber immerhin war in den bürgerlichen
Kreisen das frühere Vertrauen zur Zarenmacht
geschwunden. Die unsicher gewordene Zarenregierung
wechselte die Minister in einem fort. Im Laufe des
Krieges gab es 4 neue Ministerpräsidenten, 6
Innenminister, 4 Kriegsminister, 3 Außenminister, 4
Landwirtschaftsminister und 4 Justizminister. Wie man
in der Duma zu sagen pflegte, »konnte man sich gar
nicht einmal die Gesichter der gestürzten Minister
merken«.
Im November 1916, als
sich die politische Lage äußerst verschärft hatte,
trat die IV. Reichsduma nach langer Unterbrechung
wieder zusammen. Die revolutionäre Krise im Lande
wuchs mit katastrophaler Geschwindigkeit an. Die
herrschenden Klassen waren nicht mehr imstande, nach
den alten Methoden zu regieren, und die Werktätigen
wollten nicht mehr auf die alte Art weiterleben. Das
Polizeidepartement kam in seinem Bericht über die
politische Lage im Lande zu folgendem Schluß: »Die
oppositionelle Stimmung hat gegenwärtig in den
breiten Massen ein weit größeres Ausmaß erreicht als
in der Zeit der Wirren von 1905 bis 1906.«
Sogar die Großfürsten
und die Hofaristokratie, die das Herannahen des
völligen Zusammenbruchs des Zarismus spürten,
forderten die Entfernung Rasputins, den sie für die
Hauptursache allen Unglücks im Lande hielten. In der
Nacht zum 18. Dezember 1916 wurde Rasputin von
Verschwörern, unter denen sich auch Verwandte des
Zaren befanden, getötet. Sein Leichnam wurde durch
ein Eisloch in die Newa geworfen. Aber die Ermordung
Rasputins konnte selbstverständlich die Lage im Lande
nicht ändern. Die Zarenregierung traf Anstalten zur
Auflösung der IV. Reichsduma sowie zum
entschlossenen Vorgehen gegen die revolutionären
Massen. Der Plan der Zarenregierung lief darauf
hinaus, nach Abschluß eines Separatfriedens und
Auflösung der Duma den Hauptschlag gegen die
Arbeiterklasse zu führen. In der Hauptstadt sollte
rechtzeitig Militär mit Artillerie zusammengezogen
werden. Die Kriegsbetriebe sollten militarisiert
und die Arbeiter dadurch den Kriegsgesetzen
unterstellt werden. Der Petrograder Militärkreis,
der bisdahin zur Nordfront gehört hatte, wurde als
selbständiger Militär kreis ausgesondert und an
seine Spitze Chabalow, einer der reaktionärsten
Generale, gestellt.DiePetrograderPolizei wurde auf
Kriegsstand übergeführt und mit Maschinengewehren
ausgerüstet. Der ehemalige Innenminister Maklakow
forderte schärfste Maßnahmen gegen die
revolutionäre Bewegung und schrieb an den Zaren,
daß »die Ordnung im Staate um jeden Preis
wiederhergestellt werden und die Gewißheit am Siege
über den inneren Feind bestehen müsse, der schon
seit langem gefährlicher, erbitterter und dreister
geworden sei als der äußere Feind«.
Die Verschwörung des
Zarismus gegen die Revolution fiel zeitlich mit
einer anderen, in den Kreisen der imperialistischen
Bourgeoisie und der Generalität vorbereiteten
Verschwörung zusammen. Um der Revolution
vorzubeugen, entschlossen sich die Verschwörer aus
den Kreisen der Bourgeoisie, die jede Hoffnung auf
eine Einigung mit dem Zaren verloren hatten, zu
einer Palastrevolution. Sie wollten sich des Zuges
bemächtigen, in dem der Zar aus dem Hauptquartier
(in Mogi-lew) nach Zarskoje Selo fuhr, und den
Zaren zwingen, zugunsten seines Sohnes Alexej auf
den Thron zu verzichten. Bis zur Volljährigkeit
Alexejs sollte der Bruder des Zaren, Michail
Romanow, ein Anhänger der »englischen
Orientierung«, zum Regenten ernannt werden. An der
Vorbereitung der Palastrevolution nahmen auch die
englisch-französischen Imperialisten teil, die den
Abschluß eines Separatfriedens des Zaren mit
Deutschland befürchteten.
Aber weder der
Zarismus noch die Bourgeoisie führten ihre
Verschwörung zu Ende. Die Verschwörungen konnten
die Revolution nicht mehr aufhalten. Die
Arbeiterklasse und die in den Soldatenrock
gekleidete Bauernschaft durchkreuzten diese Pläne
durch ihre revolutionären Massenaktionen.
Der Aufstand in
Petrograd
Anfang 1917 hatte
sich die allgemeine Krise im Lande äußerst
verschärft. Die Eisenbahnen stellten den
Güterverkehr fast vollständig ein. Die Fabriken
und Werke bekamen weder Rohstoffe noch
Brennmaterialien und mußten stillgelegt werden. Die
Lebensmittelversorgung wurde ein brennendes
politisches Problem. Am Jahrestag des Blutigen
Sonntags, am 9. Januar 1917, fand in Petrograd eine
große Demonstration gegen den Krieg statt. Zu
ebensolchen Demonstrationen kam es in Moskau, Baku,
Nishnij-Nowgorod und in anderen Städten. In Moskau
zogen 2000 Arbeiter mit rotenFahnen und der Losung
»Nieder mit demKrieg!« auf die Straße. Berittene
Polizei trieb die Demonstranten auseinander. In
mehreren Städten brachen Streiks aus. In einigen
Städten begann die Masse die Brotläden zu stürmen.
Die bestürzte Regierung verschärfte die
Repressalien. Um die Entwicklung der Revolution
aufzuhalten, forderten die Menschewiki und die
Sozialrevolutionäre die Arbeiter auf, einen Umzug
zum Schutz der Reichsduma zu veranstalten. Aber am
Tag der Eröffnung der Duma, am 14. Februar, ging
ein großer Teil der Arbeiter, dem Aufruf der
Bolschewiki folgend, auf die Straße mit den
Losungen: »Nieder mit der Selbstherrschaft!« und
»Nieder mit dem Krieg!«
Besonders rasch stieg
in der zweiten Februarhälfte die revolutionäre
Bewegung in Petrograd an. Am 18. Februar traten
30000 Arbeiter der Putilow-Werke in den Streik.
Am Morgen des 23.
Februar zogen die Putilow-Arbeiter auf die Straße.
Den Demonstranten schlossen sich die Arbeiter
anderer Betriebe an sowie die Frauen aus den
Schlangen vor den Brotläden. Das Petrograder
Komitee der Bolschewiki hatte dazu aufgerufen, den
Internationalen Frauentag am 23. Februar (8. März
n. St.) durch einen politischen Massenstreik zu
begehen. An diesem Tag streikten 90000 Arbeiter und
Arbeiterinnen. Der politische Streik begann in eine
allgemeine politische Demonstration gegen die
Zarenherrschaft umzuschlagen.
Am 24. Februar
streikten schon 200 000 Arbeiter. Überall fanden
revolutionäre Meetings statt. Die Polizei hatte die
Newabrücken besetzt, aber die Arbeiter zogen übers
Eis in die Innenstadt. Die politischen Streiks in
den einzelnen Stadtteilen gingen am 25. Februar in
den politischen Generalstreik der Arbeiter von ganz
Petrograd über. Der Befehlshaber des Petrograder
Militärkreises bekam aus dem Hauptquartier die
Anweisung des Zaren: »Ich ordne an, mit den Un-uhen
in der Hauptstadt schon morgen Schluß zu machen.«
Die Polizei eröffnete von den Dächern
Maschinengewehrfeuer auf die Demon-trationszüge.
Auf den Straßen und Plätzen im Stadtinnern waren
Truppenteile aufgestellt. Die Petrograder
Gefängnisse füllten sich mit verhafteten
Bolschewiki und Arbeitern. Auch die Mitglieder es
Petrograder Komitees der Bolschewiki wurden
verhaftet. Die Leitung des Aufstands lag in jenen
Tagen in der Hand des Büros es Zentralkomitees. An
der Spitze dieses Büros stand Genosse Molotow.
W.M.Molotow, der im
Jahre 1915 in das Gouvernement Irkutsk erschickt
worden war, war 1916 aus der Verbannung geflüchtet
und nach Petrograd zurückgekehrt, wo er auf Weisung
Lenins in das Russische Büro des Zentralkomitees
der Bolschewiki kooptiert wurde, das die
Vorbereitung zur Februarrevolution leitete. Am 25.
Februar 1917 erschien das letzte Flugblatt des
Petrograder Komitees der Bolschewiki vor Ausbruch
der Revolution. Dieses von Molotow redigierte
Flugblatt schloß mit der unmittelbaren Aufforderung
zum Aufstand: »Vor uns liegt Kampf, der Sieg ist
uns gewiß! Tretet alle unter die roten Fahnen der
Revolution! Nieder mit der Selbstherrschaft !«
Am 26. Februar ging
der Wiborger Stadtteil in die Hände der
aufständischen Arbeiter über. Das Wiborger Komitee
der Bolschewiki forderte die Arbeiter auf, sich der
Waffenlager zu bemächtigen, die Polizisten zu
entwaffnen und sich selbst zu bewaffnen. Zur
gleichen Zeit verstärkten die Arbeiter die
Agitation unter den Soldaten. Sie drangen in die
Kasernen ein und riefen die Soldaten auf, sich mit
den Arbeitern zu vereinigen. Am Morgen des 26.
Februar hatten noch einige Truppenteile auf das
Volk geschossen, aber schon am Nachmittag schössen
die Soldaten nicht mehr auf die Arbeiter, sondern
auf die berittene Polizei, als diese über die
Arbeiter herfiel. Bei der Agitation zum Übergang
der Soldaten auf die Seite des Volkes spielten die
Arbeiterinnen eine große Rolle. Sie wandten sich
mit flammenden Worten an die Soldaten und
überredeten sie, den Arbeitern beim Sturz der allen
verhaßten Selbstherrschaft zu Hilfe zu kommen.
Am 27. Februar
begannen in Petrograd die Truppen auf die Seite 'es
aufständischen Volkes überzugehen. Die Soldaten des
Wolhyni-schen und des Litauischen Regiments
vereinigten sich mit den Arbeitern des Wiborger
Stadtteils. Die Arbeiter bemächtigten sich des
Arsenals, in dem 40000 Gewehre gelagert waren, und
bewaffneten sich.
General Chabalow
verhängte über Petrograd den Belagerungszustand.
Aber der Zarismus war schon nicht mehr imstande,
die Revolution aufzuhalten. Der Vorsitzende der
Reichsduma, Rodsjanko, sandte in diesen Tagen ins
Hauptquartier (Mogilew) an den Zaren ein Telegramm
nach dem anderen, in denen er ihn beschwor, dem
Volke Zugeständnisse zu machen, um »das Vaterland
und die Dynastie zu retten«. Aber der Zar, der die
Duma für den Hauptherd der Revolution hielt,
verordnete am 26. Februar durch einen Erlaß die
Auflösung der Duma. Die Dumaabgeordneten fügten
sich zwar dem Erlaß des Zaren, blieben jedoch im
Taurischen Palais.
Im Hauptquartier
liefen beim Zaren immer wieder beruhigende
Telegramme der Zarin ein: »Das Ganze ist eine
Lausbüberei!« schrieb sie, »junge Burschen und
Mädels laufen herum und schreien, daß sie kein Brot
hätten, bloß um Unruhe anzustiften.« Der Zar
kommandierte Truppen von der Front nach Petrograd.
Als aber der Transportzug unter dem Kommando des
Generals Iwanow bis Zarskoje Selo gelangt war,
verbrüderten sich die Truppen mit den
revolutionären Soldaten und wollten den General
verhaften. Der aus dem Hauptquartier abgegangene
Sonderzug des Zaren kam bis zur Station Dno und
mußte nach Pskow abschwenken, wo sich der Stab der
Nordfront befand. Überall gingen die Truppen auf
die Seite der Revolution über.
Die Bildung des
Petrograder Sowjets der Arbeiter- und
Soldatendeputierten
Am 27. Februar (12.
März) hatte die Revolution gesiegt.
Die bewaffneten
Arbeiter und Soldaten befreiten die politischen
Häftlinge aus den Gefängnissen. Die siegreichen
Arbeiter und Soldaten zogen zum Taurischen Palais,
in dem sich die vom Zaren aufgelöste Duma befand.
Kaum waren die Kämpfe zu Ende, so begab sich
Genosse Molotow als Mitglied des Russischen Büros
des Zentralkomitees der Bolschewiki in das Palais.
Die Idee der Sowjets lebte im Bewußtsein der Massen
noch seit der Revolution von 1905, und sie
verwirklichten diese Idee gleich nach dem Sturz
des Zarismus. Während auf den Straßen noch gekämpft
wurde, wählten die Belegschaften der Werke und
Fabriken bereits die ersten Arbeiterdeputierten in
den Sowjet. Genosse Molotow schickte zu den
Regimentern der Garnison Soldaten, die der
bolschewistischen Partei angehörten, und beauf
tragte sie, bei jedem Truppenteil die Wahlen der
Deputierten zum Sowjet zu organisieren.
So entstand zum
Unterschied von 1905, wo nur Sowjets der
Arbeiterdeputierten geschaffen wurden, im Februar
1917 der vereinigte Sowjet der Arbeiter- und
Soldatendeputierten. Die erste Sitzung des
Petrograder Sowjets fand am Abend des 27. Februar
statt.
An der Spitze des
Petrograder Sowjets und seines Exekutivkomitees
standen Vertreter der Paktiererparteien,
Menschewiki und Sozialrevolutionäre. Auf das
Ergebnis der Wahlen zu den Sowjets wirkte sich der
Umstand aus, daß sich die meisten Führer der
bolschewistischen Partei im Gefängnis und in der
Verbannung befanden. Der Zarismus hatte die Führer
der bolschewistischen Partei aus der Mitte der
Arbeiterklasse herausgerissen: Lenin war in der
Emigration, Stalin in Sibirien in der Verbannung.
Die Menschewiki hingegen spazierten frei umher. Sie
betrogen mit ihren Freiheitslosungen die Arbeiter
und Soldaten und nahmen als deren Vertreter die
Deputiertensitze in den Sowjets ein. Auch die
Wahlordnung erleichterte den Menschewiki und den
Sozialrevolutionären, in den Sowjets die Mehrheit
zu erhalten: während die Großbetriebe auf je 1000
Arbeiter einen Deputierten entsandten, schickten
die Kleinbetriebe mit weniger als 1000 Arbeitern
ebenfalls je einen Deputierten in den Sowjet. Auf
diese Weise erhielten die Großbetriebe, in denen
der Einfluß der Bolschewiki am stärksten war, in
den Sowjets ebensoviel Sitze wie die Kleinbetriebe,
in denen die Menschewiki den größten Einfluß
hatten. Die Garnisonsoldaten, vorwiegend Bauern im
Soldatenrock, schickten hauptsächlich
Sozialrevolutionäre oder diesen Nahestehende in die
Sowjets.
Das Provisorische
Komitee der Reichsduma
Am 27. Februar
bildeten die bürgerlichen Deputierten der
Reichsduma gemäß einer hinter den Kulissen
getroffenen Vereinbarung mit den Parteiführern der
Menschewiki und der Sozialrevolutionäre ein
Provisorisches Komitee der Reichsduma unter der
Leitung von Rodsjanko, dem Vorsitzenden der IV.
Duma. Dieser knüpfte Verhandlungen mit dem
Hauptquartier des Zaren an und bemühte sich, die
Einwilligung Nikolaus' II. zur Bildung einer vor
der Duma verantwortlichen Regierung zu erlangen.
Die Bourgeoisie versuchte immer noch, die Monarchie
zu retten. Wie Genosse Stalin bei der Beurteilung
der Haltung der Bourgeoisie in den Tagen des
Februarumsturzes schrieb, »wollte die Bourgeoisie
eine kleine Revolution, um einen großen Krieg
führen zu können«. Vor allem verfügte das
Provisorische Komitee der Reichsduma die
unverzügliche Rückkehr der Soldaten in die Kasernen
und befahl ihnen, den Offizieren Gehorsam zu
leisten. Die Vertreter der Soldaten legten im
Sowjet der Arbeiterdeputierten gegen diese
Verfügung Protest ein. Darauf erließ der Sowjet
unter dem Druck der Soldatenmassen den Befehl Nr.1
über die Rechte der revolutionären Soldaten. Auf
Grund dieses Befehls wurden bei allen Truppenteilen
der Petrograder Garnison wählbare Soldatenkomitees
eingeführt und die Anrede der Offiziere und
Generale mit »Euer Wohlgeboren«, »Euer Exzellenz«
u.a.m. aufgehoben. Den Offizieren wurde die Anrede
der Soldaten mit dem erniedrigenden »Du« verboten.
Der Befehl setzte die völlige Gleichberechtigung
der Soldaten und Offiziere in politischen und
zivilen Fragen fest.
Der Befehl Nr. 1
hatte große Bedeutung für die Organisierung der
revolutionären Kräfte der Armee und für den
endgültigen Übergang der Front auf die Seite der
Revolution.
Der Sieg der
Revolution im Lande
Bald nach der
Umwälzung in Petrograd siegte die Revolution im
ganzen Lande. Am 27. Februar wandte sich die
Moskauer Organisation der Bolschewiki an die
Arbeiter und Soldaten mit dem Aufruf, die
Revolution in Petrograd zu unterstützen. Am Morgen
des 28. Februar traten die Arbeiter der größten
Betriebe in den Streik und zogen auf die Straße.
Ihnen schlossen sich die Soldaten der Moskauer
Garnison an. Am Abend des 1. März wurden die
Bolschewiki, darunter F.E.Dsershinskij, von den
Arbeitern aus den Gefängnissen befreit.
Der Sieg der
Revolution in Petrograd war auch für andere Städte
das Signal zum Aufstand gegen den Zarismus. Die
Arbeiter des Sormowo-Werks und anderer Betriebe
traten in den Generalstreik, befreiten die
politischen Häftlinge aus den Gefängnissen,
entwaffneten die Polizisten und zogen vor die
Kasernen, um sich mit den Soldaten zu verbrüdern.
Am 2. März begann in
Tula der Aufstand der Arbeiter der Patronen-und
Waffenwerke. Die Arbeiter schufen Sowjets und
verhafteten die Vertreter der Zarenmacht.
Ein ebensolches Bild
bot die Februar-März-Umwälzung im ganzen übrigen
Rußland. Wie Lenin schrieb, kippte der blut- und
schmutztriefende Karren der Romanow-Monarchie mit
einem Schlag um.
Die Provisorische
Regierung
Die Revolution wurde
von den Arbeitern und den Bauern im Soldatenrock
vollführt, aber die Früchte des Sieges kamen nicht
ihnen zugute. In der Nacht zum 2. März
verständigten sich die Sozialrevolutionäre und die
Menschewiki hinter dem Rücken der Bolschewiki mit
den Dumaleuten über die Bildung einer neuen
bürgerlichen Regierung. Die Sozialrevolutionäre und
die Menschewiki waren der Ansicht, daß die
Revolution bereits beendet sei und daß die
Hauptaufgabe in der Bildung »einer normalen«
bürgerlichen Regierung bestehe. Am Morgen des 2.
März wurde die Zusammensetzung der unter dem
Vorsitz des Großgrundbesitzers Fürsten Lwow
gebildeten Provisorischen Regierung bekanntgegeben.
Der Regierung gehörten an: der Geschichtsprofessor
Miljukow, Führer der Kadettenpartei -/
Außenminister; der Fabrikbesitzer und Bankinhaber
Gutschkow, Führer der Oktobristen und Leiter des
Kriegsindustrie-Komitees — Kriegs- und
Marineminister; der Textilfabrikant Konowalow,
Pro-gressist — Handels- und Industrieminister; der
Zuckerfabrikant und Millionär Tereschtschenko —
Finanzminister. Unter den elf Ministern gab es nur
einen »Sozialisten«: den Volkssozialisten und
späteren Sozialrevolutionär Kerenskij, von Beruf
Advokat. Er erhielt das unbedeutendste
Portefeuille — das Justizministerium.
»Diese Regierung
stellt kein zufälliges Häuflein von Menschen dar.
Es sind die Vertreter einer neuen Klasse, die in
Rußland zur politischen Macht aufgestiegen ist,
der Klasse der kapitalistischen Gutsbesitzer und
der Bourgeoisie, die unser Land wirtschaftlich seit
langem lenkt . . .«, so charakterisierte
Lenin diese Regierung in seinem ersten »Briefe aus
der Ferne«. (Lenin, Ausgew. Werke in zwei
Bänden, t Bd.I, S.864.)
Die ersten Schritte
der neuen bürgerlichen Regierung waren auf die
Erhaltung der Monarchie gerichtet. Hinter dem
Rücken der Petrograder Sowjets der Arbeiter- und
Soldatendeputierten begaben sich Gutschkow und
Schulgin im Namen der Provisorischen Regierung nach
Pskow. Sie sollten den gestürzten Zaren zur
Thronentsagung und zur Übergabe der Macht an seinen
Sohn Alexej bewegen. Der Zar willigte in die
Thronentsagung zugunsten seines Bruders Michail
ein. Die Bourgeoisie war bereit, auch diesen neuen
Zaren anzuerkennen. Aus Pskow nach Petrograd
zurückgekehrt, wandte sich Gutschkow mit einer Rede
an die Eisenbahner. Er verlas das Manifest über die
Abdankung des Zaren Nikolaus II. und schloß seine
Rede mit dem Ruf: »Es lebe der Imperator Michail!«
Die Arbeiter forderten die sofortige Verhaftung
Gutschkows und erwiderten entrüstet mit dem
Sprichwort: »Der Meerrettich ist nicht weniger
bitter als der Rettich.«
Als die Provisorische
Regierung erkannte, daß die Monarchie nicht zu
retten war, schickte sie eine Abordnung zu Michail
Romanow mit der Bitte, ebenfalls auf den Thron zu
verzichten und die Macht an die Provisorische
Regierung zu übergeben. Am 3. März unterzeichnete
Michail Romanow die Abdankungsurkunde.
Die
Klassenbedeutung der Doppelherrschaft
Gleich von den ersten
Tagen der Revolution an gab es im Lande eine
Doppelherrschaft. Es bestanden gleichzeitig zwei
Gewalten: die Diktatur der Bourgeoisie
(Provisorische Regierung) und die
revolutionär-demokratische Diktatur des
Proletariats und der Bauernschaft (Sowjets der
Deputierten).
Nach dem Sieg über
den Zarismus wurden in allen Städten Rußlands und
selbst in den entlegensten und zurückgebliebensten
Winkeln des Landes Sowjets der Arbeiterdeputierten
gebildet. Etwas später, in der zweiten Hälfte des
März, entstanden auch Sowjets der
Bauerndeputierten. Ursprünglich war der
Petrograder Sowjet der Arbeiterund
Soldatendeputierten das allrussische Zentrum der
Sowjets. Die Sowjets bildeten faktisch eine zweite
Regierung. In den Händen der Sowjets befanden sich
die bewaffneten Kräfte der Revolution. Die
bewaffneten Arbeiter bildeten Abteilungen der
Roten Garde. Die Sowjets genossen das ungeteilte
Vertrauen und die Unterstützung der Armee und der
werktätigen Massen. Aber die Sowjets lieferten die
ganze Staatsmacht freiwillig an die Bourgeoisie und
deren Provisorische Regierung aus.
»Klassenmäßig liegt
die Quelle und die Bedeutung dieser
Doppelherrschaft darin«, schrieb Lenin, »daß die
russische Revolution vom März 1917 nicht nur die
gesamte Zarenmonarchie hinweggefegt, nicht nur der
Bourgeoisie die ganze Macht übergeben hat, sondern
daß die Revolution auch dicht an die
revolutionär-demokratische Diktatur des
Proletariats und der Bauernschaft herangekommen
ist. Gerade eine solche Diktatur (d.h. eine
Staatsmacht, die sich nicht auf das Gesetz stützt,
sondern auf die unmittelbare Macht der bewaffneten
Bevölkerungsmassen), und zwar gerade der genannten
Klassen, bildet der Petrograder Sowjet sowie die
anderen örtlichen Sowjets der Arbeiterund
Soldatendeputierten.« (Lenin, Ausgew. Werke
in zwei Bänden, Bd. II, S. 19.)
Die Doppelherrschaft
in Rußland von 1917 erklärte sich daraus, daß
Rußland ein kleinbürgerliches Land war. Während der
Revolution waren Millionen in der Politik
unerfahrener Menschen zum politischen Leben
erwacht. Diese kleinbürgerliche Woge brachte die
Parteien der Menschewiki und der
Sozialrevolutionäre an die Oberfläche des
politischen Lebens. Und diese Parteien begannen mit
der Bourgeoisie zu paktieren.
Die Bourgeoisie als
Klasse war besser organisiert als die Arbeiter und
Bauern, die keine solchen legalen
Organisationsmöglichkeiten hatten wie die
Bourgeoisie. Nach 1905 und besonders während des
Krieges vermochte die Kapitalistenklasse sich einen
Apparat für ihre künftige Macht vorzubereiten, und
deshalb konnte sie diesen bei Beginn der
Revolution ohne weiteres verwenden.
Auch im Proletariat
hatte sich die kleinbürgerliche Schicht
vergrößert, da viele Kleineigentümer,
Kleingewerbetreibende, Ladenbesitzer und Kulaken
in die Betriebe gegangen waren, um sich dadurch vom
Militärdienst zu drücken. Diese kleinbürgerliche
Arbeiterschicht und die in Rußland nur kleine
Gruppe der »Arbeiteraristokratie« (der
höchstbezahlten Arbeiter) bildeten die Hauptstütze
der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre.
Der politisch reifste
und klassenbewußteste Teil des Proletariats, der in
der bolschewistischen Partei organisiert war,
befand sich während des Krieges größtenteils in
den Gefängnissen, in der Verbannung und an der
Front.
Die früher vom
Zarismus niedergehaltenen Milhonenmassen der
Arbeiter, Soldaten und Bauern brachten der
Provisorischen Regierung eine
unbewußt-vertrauensselige Haltung entgegen, indem
sie sie für eine durch die Revolution.
Editorische Hinweise
K.W.
Basilewitsch, Geschichte der UdSSR, Teil 3, Verlag
für fremdsprachige Literatur, Moskau 1950, S.144-154
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